Beate Klarsfeld im Gespräch über das Jagen von Nazis und den Front National

»Wir sind sehr besorgt«

Beate und Serge Klarsfeld haben gerade das Bundesverdienstkreuz erhalten. Ende März erschienen im Pariser Verlag Fayard ihre »Mémoires«. Mit Beate Klarsfeld sprach die Jungle World über das jahrelange Bemühen der Klarsfelds, NS-Täter doch noch vor Gericht zu bringen, und über den heutigen Antisemitismus.
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Sie und Ihr Mann werden oft als »Nazijäger« bezeichnet, was nicht immer freundlich gemeint ist, an dieser Stelle aber allemal. Können wir die Liste der Nazis durchgehen, die Sie gejagt haben?
Gejagt haben wir sie, sofern sie im Ausland waren. Für uns war am wichtigsten, dass wir den Kölner Prozess gegen Hagen, Lischka und Heinrichsohn, die Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich, initiieren und eine Verurteilung erreichen konnten. Dann der Prozess gegen Klaus Barbie, den Gestapochef von Lyon, den wir in Bolivien aufspüren konnten. Schließlich der Prozess gegen Alois Brunner, der sich nach Syrien abgesetzt hatte. Seine Ausweisung haben wir nicht erreicht, aber in Frankreich fand 2001 ein Verfahren gegen ihn statt, in dem er in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Seine Schuld war offensichtlich, er war ja der Chef von Drancy. Außerdem haben wir uns auch im Fall Mengele engagiert. Hier leider erfolglos. Wenigstens haben wir erreicht, dass die Kölner Staatsanwälte nach Günzburg fuhren und die Firma Mengele Agrartechnik durchsuchten, wo sie auch Dokumente fanden. Wir hatten herausbekommen, dass der Sohn in Verbindung mit dem Vater stand, der sich zunächst in Paraguay und dann in Brasilien aufgehalten hatte. Dann gab die Staatsanwaltschaft bekannt, er sei in Brasilien irgendwo an der Küste ertrunken. Auch gegen Ernst Ehlers, den Leiter der »Judenabteilung« der Gestapo im besetzten Brüssel, und gegen seinen »Judenreferenten« Kurt Asche, beide verantwortlich für die Deportationen aus Belgien, konnten wir ein Verfahren einleiten. Ehlers war zu dem Zeitpunkt Richter in Schleswig-Holstein. Vor Beginn der Hauptverhandlung beging er Selbstmord. Asche wurde in Kiel zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Anders als heute im Lüneburger Gröning-Prozess mussten in diesen Prozessen individuelle Tatbeteiligungen dokumentiert werden.

»Auch unter Juden die Illusion verbreitet, der FN könne ein Bollwerk gegen die Islamisten sein. Tatsächlich muss die Überwachung gegen die Islamisten verbessert werden. Wir sind sehr besorgt. Wie kann man die Franzosen und ihre Parteien davon überzeugen, dass man mehr tun muss?«


Seit dem Münchner Demjanjuk-Prozess braucht man keine Augenzeugen, keine Dokumente mehr: Es genügt, an dem Ort beschäftigt gewesen zu sein, an dem Juden ermordet wurden. Demjanjuk wurde als KZ-Wärter von Sobibor zu sechs Jahren verurteilt; er starb, bevor sein Revisionsantrag vor dem Bundesgerichtshof verhandelt wurde. Wir waren als Nebenkläger in Frankreich, aber nicht in München zugelassen. Oskar Gröning wurde 1985 schon einmal angeklagt. Das damals eingestellte Verfahren ist jetzt wieder aufgenommen worden. Nach seinen eigenen Angaben hatte er in Auschwitz die Aufgabe, die Devisen, die die Juden bei sich hatten, einzusammeln und an eine Bank in Berlin zu transferieren. Gröning ist sehr aktiv, hat Tagebuch geschrieben und berichtet, wie es war: wie die Juden in die Gaskammern geschickt und ermordet wurden. Er selbst sei angeblich nur mit den Devisen beschäftigt gewesen. Natürlich ist es gut, dass ein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Es wird noch einmal dokumentiert, dass es den Holocaust gegeben hat und was in Auschwitz passiert ist. Aber ob es wirklich zu einer Bestrafung kommen wird?

Gibt es derzeit noch weitere Verfahren, an denen Sie beteiligt sind?
In einem sehr wichtigen Fall bin ich gerade stark engagiert. Dabei geht es um Werner Christukat, der zu jener Einheit der Waffen-SS gehörte, die am 10. Juni 1944 das südfranzösische Dorf Oradour-sur-Glane niederbrannte und 642 Einwohner ermordete, das heißt fast alle. Christukat gibt zu, bei dem Massaker dabei gewesen zu sein; er habe aber »keinen Schuss« abgegeben. Wir vertraten als Nebenkläger den Bruder von Denise Bardet, die damals 24 Jahre alt war und Lehrerin in Oradour. Sie wurde mit den Kindern in der Kirche eingesperrt und verbrannt. Christukat stand vor den Scheunen, in denen die Männer erschossen wurden, und er war Maschinengewehrschütze. Aber wie soll man beweisen, dass er abgedrückt hat? Mit der Begründung ist das Verfahren vom Kölner Landgericht Ende 2014 eingestellt worden. Die Justiz lässt die Sache an sich herankommen, es wird Anklage erhoben, manchmal ein Prozess eröffnet, und dann ist Schluss. Immerhin wird über die Täter und ihre Taten berichtet. Doch die Strafen, die schon vor 60 Jahren hätten verhängt werden können, bleiben aus.
»Meine Probleme in Bolivien begannen, als diese Frau kam,« sagte Klaus Barbie bei seiner ersten Vernehmung durch die französische Justiz. Am Ende landete er im selben Gefängnis von Lyon, in dem er früher gefoltert hatte. Die Welt hingegen schrieb 2012, dabei werde die Rolle der Klarsfelds überbewertet. Unsere eigenen Aktivitäten gegen Barbie begannen 1971. Die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Anm. d. Red.) hatte schon 1960 Klage gegen ihn erhoben. 1971 stellte der Münchner Staatsanwalt Rabl das Verfahren wegen der Verschickung der Kinder von Izieu ein.

Barbie habe zwar am 6. April 1944 die Anweisung gegeben, die 44 jüdischen Kinder aus Izieu nach Drancy zu schicken. Man könne aber nicht beweisen, dass ihm das Schicksal der Kinder, das heißt der Weitertransport nach Auschwitz, klar gewesen sei. Das war für Serge und mich der Auslöser. Aus Lima erreichte uns die Information, es gebe da einen Klaus Altmann, der Barbie ähnele. Den suchte der französische Journalist Ladislas de Hoyos 1972 in einem bolivianischen Gefängnis auf, wo er gerade wegen Steuerhinterziehung einsaß, und filmte ihn, wie er sagt: »Ich bin nicht Klaus Barbie.« Wir hatten die Unterstützung von zwei Müttern, Fortunée Benguigui und Ita-Rose Halaunbrenner, deren Kinder in Izieu verhaftet worden waren. Mit Frau Benguigui reiste ich nach Bolivien, und wir ketteten uns vor Barbies Büro an. Zusammen mit Régis Debray und Exil-Bolivianern bereiteten wir eine Entführung vor. Der Plan scheiterte, bevor er umgesetzt werden konnte, an einem Autounfall. Schließlich hatten wir das Glück, dass Gustavo Sánchez, der an dem Entführungsprojekt beteiligt war, nach dem Sturz der bolivianischen Militärdiktatur 1983 Innenstaatssekretär in der neuen sozialistischen Regierung wurde. Barbie verbüßte wieder einmal eine Haftstrafe aus Steuergründen. Sánchez holte ihn aus dem Gefängnis und brachte ihn zum Flughafen.
Die Deutschen waren froh, dass die Franzosen ihn übernahmen. Die Verteidigung Barbies übernahm einer, der als Linker gegolten hatte, nämlich Jacques Vergès. Im Prozess redete er über Algerien und Palästina, weil man über Barbie nicht urteilen könne, ohne über den französischen Kolonialismus zu urteilen. Sie selbst haben ähnliche Erfahrungen mit einem Anwalt gemacht, Horst Mahler. Mit Mahler hatten wir schon Probleme, als Serge und ich ihn zum ersten Mal in seinem Büro aufsuchten, damit er mich gegen die Anklage wegen der Kiesinger-Ohrfeige 1968 verteidigt. Als das Gespräch auf Israel kam, spürten wir die Differenzen. Die gab es auch mit dem Berliner SDS. Für sie war Israel der Alliierte der Vereinigten Staaten. Das war nicht meine Linie. Unsere Wege haben sich bald getrennt, obwohl sie beim Thema Kiesinger Unterstützung leisteten. Vor 50 Jahren gehörte Mahler zur extremen Linken, er wurde dann Nazi; ich war eine »gute« Deutsche und bin immer aktiv geblieben in meiner Solidarität mit den Juden und dem Staat Israel.
 

Die deutsche Dominanz in der EU verleitet zu historischen Vergleichen. Inwiefern treffen sie zu?
Was Griechenland betrifft, kommen immer mehr Tatsachen über die Nazi-Massaker dort ans Licht. Deutschland sollte sich großzügiger zeigen und sich an den Marshall-Plan erinnern. Man müsste dankbarer sein, auch den Amerikanern gegenüber.

Und Frankreich? Wie kann das Erstarken des Front National (FN) aufgehalten werden?
Als wir kürzlich eine Auszeichnung von Präsident Hollande erhielten, ergriff Serge, mit einem kleinen Verstoß gegen das Protokoll, das Wort, um die beiden großen Parteien Frankreichs dazu aufzurufen, ein Bündnis gegen den FN zu schließen. Wir haben zwar immer wieder Strafanträge gegen Jean-Marie Le Pen gestellt und auch gewonnen. Er behält seine Kundschaft, während die Tochter versucht, eine andere Klientel an sich zu ziehen. Marine hat die rechtsextremen Inhalte etwas verwässert, aber sie tut das nur, um ihr Ziel zu erreichen, Präsidentin zu werden. Die jüdische Gemeinde Frankreichs debattiert über Auswanderung, viele sehen sich akut bedroht, mehr von der extremen Linken und von den Islamisten als vom FN.

Die Attentate im Januar auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt Hyper Casher wurden ja von islamistischen Terroristen verübt. Was bedeutet das für antifaschistische Politik?
Es brauchte im Januar etwas Zeit, ehe von einem antisemitischen Anschlag im Laden Hyper Casher gesprochen wurde. Nach den Mordtaten Mohammed Merahs vor drei Jahren in Toulouse gingen weitaus weniger Menschen auf die Straße. Das kleine Mädchen, das Merah an den Haaren zog, um sie aus nächster Nähe umzubringen, hatte das nicht ausgelöst. Die Staatschefs kamen im Januar wegen des Angriffs auf die Pressefreiheit. Gut, Charlie Hebdo hätte anders bewacht werden müssen, das ist ein Skandal. Doch der antisemitische Mordanschlag trat in den Hintergrund. Letztes Jahr wurde beim Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel Dominique Sabrier ermordet. Sie war Mitglied unseres Verbands »Fils et filles des déportés juifs de France« (von den Klarsfelds 1979 gegründete »Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs«, Anm. d. Red.). Ihre Familie wurde von den Nazis umgebracht, sie selbst von einem anderen Feind des jüdischen Volkes. Daher ist auch unter Juden die Illusion verbreitet, der FN könne ein Bollwerk gegen die Islamisten sein. Tatsächlich muss die Überwachung gegen die Islamisten verbessert werden. Wir sind sehr besorgt. Wie kann man die Franzosen und ihre Parteien davon überzeugen, dass man mehr tun muss? Jeder will seine eigene Macht behaupten, es gibt keine Solidarität gegen den gemeinsamen Hauptfeind: den Front National.