Berlin Beatet Bestes. Folge 292

Die Rückung hat gefehlt

Berlin Beatet Bestes. Folge 292. Pertti Kurikan Nimipäivät: Jarmo (2013).

edes Jahr gucken wir zuhause in großer Runde den Eurovision Song Contest. Dazu laden wir nur Leute ein, die keine blöden Fragen stellen, denn natürlich hört niemand von unseren Freunden privat diese ESC-Musik. Trotzdem nehmen wir den Contest ernst, machen detaillierte Listen, werfen Geld in einen Topf und entscheiden uns dann für drei Favoriten, von denen wir annehmen, dass sie gewinnen werden. Es ist einer der wenigen Abende im Jahr, an denen ich mich betrinke und rauche wie ein Schlot.
Seit vergangenem Jahr gibt es bei jeder Rückung – einem abrupten Wechsel der Tonhöhe – wie in »Rise Like a Phoenix« von Conchita Wurst sogar einen Schnaps für alle. Komisch, gewonnen habe ich den Pott noch nie. Auf die transsexuelle Dana International, die 1998 für Israel antrat, hatte ich nicht gesetzt und auch nicht auf die finnischen Hardrocker Lordi, die 2006 gewannen. Da waren wir alle überrascht. Es waren schöne Abende, an denen man versöhnt war mit der Welt, der ansonsten nicht viel zuzutrauen ist. Aber es gab auch viele schlimme Jahre, in denen osteuropäischer, nationalromantischer Bombast-Pop dominierte.
In diesem Jahr ist zum Glück alles anders, denn diesmal sind die finnischen Punks von Pertti Kurikan Nimipäivät am Start. Hört man die Kandidaten des diesjährigen Wettbewerbs im Schnelldurchlauf an, wird ihr Alleinstellungsmerkmal besonders deutlich. Alle anderen Bewerber sind öde und »radiofreundlich«. Ihre Musik klingt, als sei sie aus der Angst geboren, ­jemandem nicht zu gefallen oder zu ver­sagen, und tatsächlich gefällt sie immer mehr Menschen nicht mehr. PKN hingegen sind die erste authentische Rock-Band und auch die erste Punk-Band des Wettbewerbs. Geschult am harten, kompromisslosen Zwei-Akkord-Punk finnischer Bands der frühen Achtziger wie Rattus, Terveet Kädet und Riistetyt, ist ihr Song »Aina mun pitää« mit 90 Sekunden der kürzeste, der je im Contest präsentiert wurde. Er behandelt die Alltagsprobleme der Musiker, wobei die finnische Sprache den wütenden Gesang noch verstärkt.
Außerdem ist die Band die erste, die jemals in normaler Straßenkleidung aufgetreten ist. In der Plastikumgebung des ESC stehen sie allein für Authentizität. Im Gegensatz zu allen anderen Teilnehmern haben die Finnen jedoch bereits reichlich Auftrittserfahrung auf europäischen Bühnen, zehn Schallplatten veröffentlicht und sind zudem Gegenstand eines preisgekrönten Dokumentarfilms gewesen.
Und ja, die Musiker von Pertti Kurikan Nimipäivät sind behindert, drei von ihnen haben das Down-Syndrom, einer ist Autist. Wer sie einmal erlebt hat, schließt sie sofort ins Herz.
Ihre fünfte Single »Jarmo« hab’ ich vor zwei Jahren gekauft. Kein Song darauf ist so lang wie ihr Eurovision-Opus »Aina mun pitää«. Leider schied die Band schon im ersten Vorausscheid aus, obwohl ich sicher war, dass sie gewinnen würde. Eine Rückung hatte ihr Song auch nicht. Ich gewinne eben nie.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.