Klimawandel in den Anden

Weiße Ponchos sind alle

Auch in den Anden schmelzen die Gletscher. In Bolivien ist der Berg Chacaltaya ein Symbol für den Klimawandel, einst ein Skigebiet, dessen Eismasse bereits geschmolzen ist.

Während sich seit dem 7. November die Staats- und Regierungsoberhäupter der Welt zum 22. Weltklimagipfel in Marokko treffen, sind die Auswirkungen des Klimawandels im bolivianischen Hochland bereits deutlich spürbar. Dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zufolge sind einige Ökosysteme der Welt besonders von der globalen Erwärmung betroffen, darunter Bergregionen und Gebiete nahe des Äquators. Auf die nördlichen Anden treffen beide Kriterien zu. Das betrifft nicht nur Bolivien: Ein Vergleich von historischen mit aktuellen Aufnahmen des 4 978 Meter hohen Pico Bolívar in Venezuela zeigt einen stetigen Rückgang des Gletschers, vor allem seit den achtziger Jahren. Kürzlich veröffentlichte ein internationales Wissenschaftsteam um den britischen Geographen Simon James Cook einen Artikel im Geologiemagazin The Cryosphere über den Verlust der Gletschermasse in Bolivien. Die Ergebnisse sind alarmierend: Das Team zeigte anhand von Satellitenbildern und Berechnungen mit Hilfe eines geographischen Informationssystems, dass die bolivianischen Gletscher zwischen 1984 und 2014 ungefähr 43 Prozent ihrer Masse verloren haben. Das Schmelzwasser, so Cook, sammle sich in zahlreichen Lagunen an, von denen einige bereits vor dem Überlaufen stünden und somit eine Gefahr für die darunter liegenden Gemeinden und Infrastruktur bedeuteten. Dirk Hoffmann, ein beteiligter deutscher Sozialwissenschaftler und zugleich Leiter des Bolivianischen Berginstituts, sagt, in der Studie seien zum ersten Mal die gefährlichen Lagunen identifiziert worden. Hoffmann hatte bereits 2009 in einer Studie auf die Gefahren von Gletscherlagunen hingewiesen und war damals der Ansicht, dass »ein Risikobericht über die Gletscherlagunen auf nationalem Niveau von großem Interesse für die direkt betroffenen Gemeinden« sei. Dennoch kritisieren bolivianische Experten die Studie. Paula Pacheco, die Verantwortliche der Fundación Agua Sustentable in La Paz, bemängelt, dass die Studie keine präzise geographische Bestimmung der gefährlichen Gletscherlagunen vornehme. Der Gletscherforscher Edson Ramírez von der staatlichen Universität UMSA in La Paz verweist auf bereits vorliegende ähnliche Studien bolivianischer Wissenschaftler, etwa die Studie der Weltbank »Andines Regionalprojekt zur Anpassung an den Klimawandel« von 2014. Dieser zufolge betrage der Verlust der Gletschermasse lediglich 39 Prozent. Ob 39 oder 43 Prozent der Gletschermasse geschmolzen sind, ist eine wissenschaftliche Detailfrage. Tatsache ist, dass die Gletscher schmelzen, was auf erhöhte Temperaturen zurückzuführen ist. Neben den Gefahren durch die Lagunen hat das Schmelzen der Gletscher auch Folgen für die Wasserversorgung, sowohl für örtliche Gemeinden als auch für Großstädte wie La Paz und El Alto, die einen Großteil ihrer Wasserversorgung dem Bolivianischen Berginstitut zufolge mit Gletscherwasser decken, vor allem in der Trockenzeit. Der öffentliche Wasserversorger EPSAS hat angekündigt, die Wasserversorgung in 94 Stadtteilen von La Paz in den kommenden Monaten einzuschränken oder kurzzeitig zu unterbrechen. Die betroffenen Familien sollen sich Wasservorräte anlegen. Noch relativ unklar ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration in den Anden, obwohl die wissenschaftlichen Veröffentlichungen diesbezüglich in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben. Mittlerweile vergeht kein Jahr, ohne dass über Dürreperioden und Trockenheit auf der bolivianischen Hochebene berichtet wird, inklusive der Auswirkungen auf die für viele Familien existentielle landwirtschaftliche Produktivität. Die Folgen lassen sich also erahnen. Der Poopó-See, einst der zweitgrößte See Boliviens, ist bereits völlig ausgetrocknet, was negative sozioökonomische Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung hat (Jungle World 13/16). Der Klimawandel hat hierzu beigetragen, was von der Regierung aber oft aus politischen Gründen betont wird, um von der Verschmutzung durch Bergminen in der Region abzulenken. Ein schmelzender Gletscher hat dank des internationalen Interesses von Wissenschaftlern, Künstlern und Filmregisseuren bereits große Aufmerksamkeit erlangt: der auf dem 5 421 Meter hohen Berg Chacaltaya bei El Alto und La Paz. Dort befand sich bis vor einigen Jahren das höchstgelegene Skiressort der Welt, die Piste war 500 Meter lang und 300 Meter breit. Historisch war der Chacaltaya das Tor zum Amazonasgebiet, daher auch der Name: Chacaltaya ist Aymara und heißt »kaltes Tor«, »kalte Brücke« oder »kalter Pass«. Sein Gletscher war der erste, dessen Eisdecke völlig geschmolzen ist, und wurde so zu einem Symbol für die Gefahren des Klimawandels. Neben dem kahlen Chacaltaya ragen Gletscher der bolivianischen Hochgebirgskette Königskordillere empor, die ebenfalls an Masse verloren haben, wie Fotovergleiche des Bolivianischen Berginstituts veranschaulichen. Der Chacaltaya ist ein wichtiger Referenzpunkt in der bolivianischen Diskussion über den Klimawandel. Präsident Evo Morales sagte vor den Vereinten Nationen, der Chacaltaya habe »seinen weißen Poncho verloren«, ein typisches Kleidungsstück in den Anden. Seither spricht die Regierung nicht mehr vom Klimawandel, sondern von einer »Klimakrise«, da ersterer Begriff lediglich ein westlicher Euphemismus für die tiefgreifende ökologische Krise sei, die auf die »Kultur des Todes« zurückzuführen sei, so Morales über den westlichen Kapitalismus und Imperialismus. Repräsentant gefährdeter bolivianischer Gemeinden wurde Samuel Mendoza, ein Aymara, der jahrzehntelang auf dem Chacaltaya den kleinen mechanischen Skilift bedient hatte. Heutzutage ist der Sitz des Skiliftführers leer und schwebt einsam über einem kleinen Abgrund, von dem aus Mendoza stets die Skifahrer beobachtete. »Die Arbeit habe ich von meinem Vater erlernt, er hat mir auch beigebracht, den Skilift zu bedienen und dass ich mich immer um die Touristen und Skifahrer kümmern muss«, sagt Mendoza. Für viele Aymara sind die Bergkuppen mit ihren weißen Hauben nicht nur Formationen der Erdoberfläche, sondern zugleich in der Landschaft verkörperte Vorfahren, sogenannte »Achachilas«, was auf Aymara »Großvater« heißt. Viele beten zu ihnen und bieten Opfer dar, um Schutz und Obhut für die Nachfahren zu erhalten, die auf den Berghängen leben. Eines Tages, hofft Mendoza, werde der Gletscher zurückkommen – ein Optimismus, den die Wissenschaftler, die auf dem Chacaltaya in der Wetterstation arbeiten, nicht teilen. Während diese versuchen, die Veränderung der Atmosphäre mit Hochtechnologie zu messen, empfängt Mendoza fast täglich Touristen aus aller Welt in der kleinen Berghütte und erzählt ihnen die Geschichte seines Lebens und des Chacaltaya, dessen Berggeist er beschwört. Dafür steigt er trotz seines fortgeschrittenen Alters jeden Tag im Morgengrauen vier Stunden zu seinem Arbeitsplatz auf, am späten Nachmittags geht er den gleichen Weg zurück. Der belgische Regisseur Pieter Van Eecke widmete Mendozas Geschichte einen Dokumentarfilm, der Ende Oktober in La Paz Premiere feierte. Es war ein großer Erfolg, der kleine Filmsaal der bolivianischen Cinemathek mit einer Kapazität von 150 Sitzen war hoffnungslos überfüllt. Der Titel des Dokumentarfilms bringt vieles auf den Punkt: »Samuel in the Clouds«. In der Tat ist Samuel den Wolken am nächsten und hat über Jahrzehnte erfahren, was es bedeutet, den Gletscher täglich schmelzen zu sehen und hilflos angesichts der Macht der von Menschenhand transformierten Natur zu sein. »Ich sehe die Situation als eine Allegorie der Menschheit, die trotz des offensichtlichen Wandels die Realität nicht wahrnimmt«, so Van Eecke.