Der Martin und das Volk. Warum ist Martin Schulz als Kandidat gegen »die da oben« populär?

Operation Wechselbalg

Seit die SPD Martin Schulz als Kanzlerkandidaten für die anstehende Bundestagswahl präsentiert hat, konnte sie sich über Tausende neue Parteimitglieder freuen und beachtlich steigende Umfragewerte verzeichnen. Wechselstimmung heißt das Wort der Stunde: Die Frage ist nur: Wechsel von was, wohin und warum?

Politische Wechsel sind in westlichen Demokratien gerade schwer in Mode und dürfen gern auch mal etwas radikaler ausfallen. Einen für die meisten ­Experten höchst überraschenden vollzogen zuletzt die USA, als sie Donald Trump und seinen Alt-Right-Kameraden die Tür zum Weißen Haus öffneten. Ähnlich schockierend fiel jener Wechsel aus, der unter dem Namen »Brexit« die Grundfesten der Europäischen Union (EU) erschütterte und auch im europäischen Kernland Frankreich die Stimmung zu Gunsten von Marine Le Pen und ihrem rechtsextremen Front National (FN) befeuerte. Besonders hoch im Kurs steht der Wechsel auch in Ländern wie Ungarn oder der Türkei, nur dass es dort nicht darum geht, den jeweiligen politischen Machthaber auszutauschen. Das hat hier wie dort bereits vor Jahren stattgefunden, der Wechsel ist inzwischen systemischer Natur. Die ­dazugehörige Stimmung drückt sich in begeisterter Unterstützung für den antidemokratischen Regierungskurs aus.
Gemein ist dem Wechselwillen von US-Amerikanern, Briten, Franzosen, Ungarn und Türken bei allen sonstigen Unterschieden, dass seine Ergebnisse komplett dem zuwiderlaufen, was doch eigentlich die ureigensten Interessen der Menschen sein sollten. Die Briten sind, genau wie die französischen ­Le-Pen-Fans, bereit, ihre eigene Wirtschaft erheblich zu schädigen. In den USA will man offensichtlich nicht krankenversichert sein. In Ungarn und der Türkei haben die Leute genug von Pressefreiheit, freier Meinungsäußerung und anderen Menschenrechten. Reisefreiheit, Emanzipation, sexuelle Selbstbestimmung, Schutz vor staatlicher Willkür – all diese Rechte scheinen für immer mehr Menschen heute eher bedrohlich oder zumindest verzichtbar zu sein. Hoch im Kurs steht dagegen eine ethnisch-nationalistische Rekonstruktion, mit der sich zuweilen durchaus auch soziale Ideen verknüpfen, die aber nirgendwo kapitalistische Strukturen in Frage stellen. Die Globalisierung hat zwar den einstigen Wohlklang des Wortes Freiheit verdorben, das Vertrauen in den Kapitalismus aber nicht. Die anderen beiden Kernan­liegen der Französischen Revolution – Gleichheit und Brüderlichkeit (also Solidarität) – gelten nur noch innerhalb eines »Volkskörpers« und darin einer Schicht, bedingt durch Ungleichheit mit und offener Konkurrenz zu anderen.
Man kann das in Anbetracht der wachsenden globalen Vernetzung kontrafaktisch, postfaktisch oder auch ­einfach irrational nennen – die Wechselwütigen wird es nicht anfechten. Denn in Wahrheit ist ihre Wahlurnen-Revolte gegen »das Establishment« oder »die Eliten« ein Aufstand gegen Ratio und Intellekt, also gegen reale Widersprüche und für Vereinfachung. Für welche Partei ihr neuer Volkstribun antritt, ist ihnen so egal wie dessen politisches Vorleben, sein Kontostand und seine fachliche oder psychische Befähigung. Hauptsache, er schafft als erstes die staatliche Förderung für Geisteswissenschaften ab (Trump) oder am besten gleich die Evolution (Erdoğan) und lässt ebenso die Muskeln spielen, wie es der russische Volkstribun Wladimir Putin vorgemacht hat. Das Elend droht sich immer weiter auszubreiten. Eine be­drückende Vorkriegsstimmung kommt auf, die ihrerseits immer mehr Menschen glauben lässt, man brauche dringend auch so einen von Zweifeln und Skrupeln unbeleckten, irrationalen Chauvinisten an der Spitze, um kommende Auseinandersetzungen zu überstehen.
Im Umkehrschluss sehen sich hierzulande diejenigen, die diesen Prozess gerne aufhalten würden, plötzlich zur Unterstützung der deutschen Kanzlerin verdammt, die im Vergleich als letzte Hüterin der Flamme der Aufklärung erscheint. Ein ihrer Stabilität zuwiderlaufender Wechsel schien zuletzt weit von der Mehrheitsfähigkeit entfernt. Aber stimmt das auch? Oder ist die Personalie Martin Schulz nicht ein Beleg dafür, dass Wechsel in die Gegenrichtung möglich sind? Die Umfragen jedenfalls zeigen, dass Schulz als Projektionsfläche funktioniert – und nur ­darum geht es in der Regel im gerade angebrochenen Zeitalter alternativer Fakten. Ein Sitzenbleiber ohne Abitur, tragisch an der erträumten Fußballkarriere gescheitert, zum Alkoholiker geworden, dann die Kurve gekriegt, als Buchhändler und Provinzbürgermeister – diese frühen biographischen Fakten prädestinieren ihn für ein ­erfolgreiches »Wir sind das Volk«-Marketing, wie Sigmar Gabriel richtig erkannte. Aber kann ein Mann der Parteirechten (gibt es in der SPD überhaupt noch eine Parteilinke?), der seit 1999 Mitglied des Parteivorstands und des Präsidiums ist und somit für alle desaströsen Fehlentscheidungen der Sozialdemokraten der vergangenen 18 Jahre mitverantwortlich zu machen wäre, ernsthaft als Kandidat von außerhalb des ­»Establishments« wahrgenommen werden? Lässt sich einer, der fünf Jahre lang EU-Parlamentspräsident war, als politischer Quereinsteiger verkaufen? Offensichtlich schon.
Der Prozentsatz der Wählerinnen und Wähler, die hin und wieder EU-Parlamentsdebatten verfolgen, dürfte ebenso gering sein wie die Zahl derer, die eine konkrete Vorstellung davon haben, welche Aufgaben Parteivorstände oder Parteipräsidien haben. Die Mehrheit kennt Schulz also vor allem aus poltrigen Youtube-Videos, die den Eindruck vermitteln, »unser Mann in Europa« zeige den nervigen Nachbarn mal ­ordentlich die deutschen Muskeln. Zumindest dieses mediale Bild des ­»zupackenden Querkopfs« mit »gesundem Menschenverstand« und wenig Sinn für diplomatisches Geschwurbel, ähnelt (so sehr es auch an der realen Arbeit des EU-Politikers Schulz vorbeigeht) dem, was die US-Amerikaner durch die Fernsehshow »The Apprentice« in Donald Trump erkannten. Insofern ist Schulz nicht die schlechteste Besetzung, um einem rückwärtsgewandten Kleinbürgertum, das von patriarchaler Stärke, nationalem Kräftemessen und völkischer Gemeinschaft träumt, einen sozialdemokratischen Wechselbalg unterzuschieben. Die Rede von der »hart arbeitenden Mitte«, die sich »an die Regeln halte« bedient diese Klientel jedenfalls optimal, wie auch der Plan einer partiellen Abkehr von der Agenda 2010 (s. Seite 5). Denn Schulz stellte zwar längere Fristen für das Arbeitslosengeld in Aussicht, also einen größeren Puffer für die von Abstiegssorgen gequälte sogenannte ­Mitte, kritisierte aber explizit nicht das Repressionssystem Hartz IV. Was mit den bereits Abgestiegenen geschieht, interessiert nämlich weder die kleinbürgerliche Masse noch die Parteistrategen. Die Mehrzahl der Hartz IV-Empfänger geht ohnehin nicht zur Wahl.
Mit Platitüden wie »Vieles ist aus dem Lot geraten« oder »Es geht ein Ruck durch das ganze Land« spielt Schulz virtuos auf der Klaviatur des antielitären Ressentiments. Welcher Pegida- oder AfD-Fan könnte dazu schon nein sagen? Da verzeihen die rechten Wähler ihm sogar seine Bekenntnisse gegen Rassismus und nationalen Größenwahn. ­Positiv betrachtet erscheint diese Strategie wie eine Lehrstunde in – zumindest formal – linkem Populismus für jene Teile der Linkspartei, die immer noch meinen, man müsse den als potentiell revolutionäres Proletariat missverstandenen Kleinbürgermob mit »Gastrecht«-Gefasel direkt bei seinem Rassismus abholen. Und damit stellt sich die Frage, ob es in Anbetracht der historischen ­Situation vielleicht gut sein könnte, wenn ein Martin Schulz als echte Alternative wahrgenommen würde, solange dies nur die AfD als eigentliches Subjekt der aktuellen Wechselstimmung kleinhält. Aber was geschieht nach der Wahl?
Es ist kaum davon auszugehen, dass es Schulz gelingen würde, die von ihm weiter angefütterten antielitären Ressentiments mit ein paar Steuererhöhungen für Reiche oder partiellem Herumschrauben an Managergehältern zu befriedigen. Und dass mit der SPD kein Wechsel zu machen ist, der das Attribut »links« verdienen würde, hat Sigmar Gabriel für alle, denen die Parteigeschichte der letzten 20 Jahre nicht Beleg genug ist, im Januar klargestellt, als er die Ampelkoalition mit Grünen und FDP zu seiner bevorzugten Regierungsmehrheit erklärte. Immerhin: Außenpolitisch wäre ein solcher Wahlausgang wahrscheinlich die weniger gefährliche Lösung. Wolfgang Schäubles Politik der schwarzen Null würde wohl ein bisschen aufgeweicht, um die EU zumindest als closed shop zum Wohle der deutschen Wirtschaft zu erhalten. Transatlantisch würde man sicher ­darauf achten, nicht allzu viel Porzellan zu zerbrechen. Bei einer rot-rot-grünen Koalition hingegen wäre zu befürchten, dass die auch unter Sozialdemokraten verbreitete Faszination für Wladimir Putin zur außenpolitischen Schnittmenge werden und Deutschland die Loslösung Europas aus der inzwischen mehrheitlich verhassten Westbindung betreiben könnte. Dies entspräche dem Wesenskern der aktuellen Wechselstimmung: »Make Germany great again!«
All das ist natürlich bloße Spekulation, die sich am Ende, mit dem Wort eines ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten gesprochen, auch als »Hätte, hätte, Fahrradkette« herausstellen könnte. Was jedoch von Schulz’ populistischer Wahlkampfstrategie, so er sie nicht noch ändern sollte, bleiben wird, ist eine hochrangige Bestätigung für all jene, die glauben, der »gesunde Menschenverstand« sei dem Intellekt überlegen und »das Volk« müsse »das Establishment« mitsamt seinem grässlich jüdischen (wahlweise auch feministischen) Diplomatiefetisch und seinen perversen Freiheiten hinwegfegen. Falls es der SPD also tatsächlich gelingen sollte, CDU und CSU in die Opposition zu schicken, ist nicht auszuschließen, dass sich diese dadurch in ein weit gefährlicheres, weil aussichtsreicheres Vehikel für ­einen nationalistischen Wechsel verwandeln, als es die AfD in absehbarer Zeit sein könnte. Donald Trump ist schließlich auch nicht auf dem Ticket der Alt-Right-Bewegung ins Weiße Haus eingezogen, sondern als Republikaner.