Keine Angst vor der Imamin
Wer sich in einem linken Umfeld bewegt, aber Religionskritik, nebst den übrigen Werten der Aufklärung, auch dann nicht auf dem Müllhaufen der Ideengeschichte abladen will, wenn es um den Islam geht, sieht sich spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 mit dem Vorwurf der »Islamophobie« konfrontiert. Eine naheliegende Antwort auf diesen Vorwurf lautet, beim gegenwärtigen Stand der Dinge müsse weniger die Angst vor dem Islam als deren Abwesenheit als Ausdruck von Wahn gelten. Der Fall von Seyran Ateş und ihrem Verbündeten Abdel-Hakim Ourghi ruft ein weiteres Mal in Erinnerung, was einzig an dieser Erwiderung falsch ist: Diejenigen, die Grund zur Angst haben, sind in den meisten Fällen selbst Muslime.
Ateş steht wegen zahlreicher Morddrohungen unter erhöhtem Polizeischutz. Mit der Gründung der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin hat sie konservative Muslime und Islamisten weltweit gegen sich aufgebracht. Das türkische Amt für Religionsangelegenheiten, das mit der Ditib einen der größten islamischen Verbände in Deutschland kontrolliert, ordnet die Moschee der Gülen-Bewegung zu – also dem organisierten Terrorismus (oder was die türkische Regierung dafür hält). Die al-Azhar-Universität in Kairo hat die Moschee, in der mit Ateş eine weibliche Imamin predigt, Männer und Frauen gemeinsam beten und Homosexuelle ausdrücklich willkommen sind, für unislamisch erklärt. Auf den Abfall vom Glauben jedoch steht nach der Sharia die Todesstrafe. Die höchste sunnitische Autorität für islamisches Recht hat also in kaum verhüllter Form Ateş und alle Muslime, die sich ihrer Gemeinde anschließen, für vogelfrei erklärt.
Was immer man gegen den Reformislam von Ateş und Ourghi einwenden mag – Angst muss vor ihm niemand haben. Die Imamin Ateş wird niemals eine Todesfatwa verfassen oder Körperstrafen verhängen. Sie wird weiterhin gegen Zwangsehen und Ehrenmorde kämpfen. Sie wird nicht behaupten, dass Homosexualität Sünde sei oder dass Frauen sich verschleiern müssten, um sich nicht der Vergewaltigungen schuldig zu machen, zu denen sie Männer sonst mit ihren sexuellen Reizen verführen. Die Chancen stehen sogar gut, dass sie eher die Meinungsfreiheit gegen sogenannte religiöse Gefühle verteidigen wird als umgekehrt. Niemand muss Angst vor einem solchen Islam haben – außer, ausweislich ihrer wutschäumenden Reaktionen, den Islamisten und religiösen Konservativen, die um ihre Deutungshoheit darüber fürchten, was es heißt, islamisch zu sein.
Felix Riedel hat in dieser Zeitung zwar seine Sympathie für das liberale und humane Anliegen ausgedrückt, das dem Reformislam von Ateş und Ourghi zugrunde liegt. Angesichts der so schockierenden wie absehbaren Drohungen sollten Linke dem »Projekt (…) eigentlich nicht noch in den Rücken fallen«. Eigentlich. Aber wenn Ateş die Deutungshoheit der religiösen Konservativen über alles Islamische in Frage stellt, sieht Riedel sich von seiner intellektuellen Rechtschaffenheit genötigt, den Letzteren beizuspringen: Der »klassische Islam« steht in seinen Augen mit dem heutigen Islamismus mehr oder weniger im Einklang, mit liberalen Ideen dagegen sei er fundamental unvereinbar. Riedel positioniert sich in äußerster ideologischer Gegnerschaft zum Salafismus, doch dessen theologisch wie historisch völlig unhaltbaren Anspruch, zum »wahren«, ursprünglichen Islam zurückzukehren, scheint er für bare Münze zu nehmen.
Riedel hält jeden Versuch einer humanistischen Reformierung des Islam für aussichtslos, weil der Koran jeglicher Liberalität weit schroffer entgegenstehe als etwa die Thora oder die Bibel. Der Koran sei »ein schlechtes Buch«. Dem ist nicht zu widersprechen, schon allein, weil ein heiliges Buch notwendig ein schlechtes ist. Darüber hinaus ist es nicht nur berechtigt, sondern notwendig, die Unterschiede zwischen den Religionen zu beachten, und es lassen sich einige starke Argumente dafür anführen, den Islam noch negativer zu beurteilen als Judentum und Christentum. Nur kann ein solcher Vergleich sinnvollerweise nicht rein abstrakt und ahistorisch, allein mit Rekurs auf den Text der jeweiligen heiligen Schrift geführt werden.
Riedels Behauptung jedoch, im Islam hätten es liberale Strömungen nie über den Status minoritärer Sekten hinausgebracht, weil Liberalität eben »im Widerspruch zum Koran« stehe, ist doppelt falsch. Erstens historisch – über weite Strecken des Mittelalters und der Neuzeit hinweg war der Islam keineswegs illiberaler als das damalige Christentum. Hier ergibt sich ein Dilemma für Riedels Argumentation: Man kann die These vertreten, der Koran sei ein deutlich schlechteres Buch als die Bibel, aber dann muss man offenbar zugeben, dass die Qualität der heiligen Schrift nicht ohne weiteres der Qualität der praktizierten Religion in ihrer historischen Gestalt entspricht.
Dies führt auf den zweiten grundlegenden Fehler Riedels, nämlich seine maßlose Überschätzung des Stellenwerts theologischer Folgerichtigkeit in der Religionsgeschichte. Die Strömungen des Islam, die heute dominant sind, sind dies ja nicht in erster Linie deshalb, weil sie theologisch konsequenter wären oder dem Wortlaut des Koran besser entsprächen als ihre innerislamischen Konkurrentinnen. Menschen sind, wie gerade Riedel klar sein müsste, nicht deshalb religiös, weil es vernünftig wäre. Warum sollte sich in der Konkurrenz verschiedener Glaubensrichtungen ausgerechnet größere intellektuelle Stringenz als der alles entscheidende Vorteil erweisen?
Die Reform des Islam werde »nicht funktionieren«, prophezeit Riedel. Vielleicht wird er damit recht behalten. Wenig Grund besteht jedoch zu der Annahme, die Masse der Muslime sei für einen areligiösen Humanismus empfänglicher als für einen liberalen Reformislam. Auch das Christentum ist ja keineswegs zugunsten einer »nichtreligiösen Kultur« verschwunden. Wer wissen will, warum, kann das bei Marx nachlesen – und daraus schlussfolgern, dass auch der Islam wohl kaum schneller verschwinden wird als der Kapitalismus. Wenn in weiten Teilen Europas und Amerikas Humanität und Liberalität einen zwar immer noch beklagenswerten, aber zweifellos deutlich besseren Stand haben als etwa zu Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs oder der Kreuzzüge, dann auch deshalb, weil sich vergleichsweise humane Formen des Christentums gegen sowohl theologisch als auch historisch wesentlich besser fundierte durchgesetzt haben.
Riedel empfiehlt, als »Gegenkultur zum Islamismus (…) vor allem eine nichtreligiöse Kultur (zu) fördern«. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Doch wer als Linker seine Aufgabe in der Förderung nichtreligiöser Kultur sieht, sollte der Versuchung widerstehen, die religiöse Kultur noch schlechter zu machen, als sie ohnehin schon ist, indem er sich uneingeladen in theologische Debatten einmischt, um den Fundamentalisten zugutezuhalten, im Gegensatz zu den Liberalen wenigstens konsequent zu sein. Riedel macht einen falschen Gegensatz auf, wenn er den Reformislam in Konkurrenz zu einem nichtreligiösen Humanismus wähnt – als mache Ateş den Islam für enttäuschte Atheisten attraktiv. Der Reformislam konkurriert vielmehr mit konservativeren islamischen Strömungen. Deshalb bedeutet er, aus religionskritischer Sicht, nicht etwa »mehr Islam« (Riedel), sondern weniger.
Politisch ergibt sich ein ähnliches Bild. Wünschenswert wäre es zwar, dass die Bundesregierung auf einen säkularistischen Kurs einschwenkt und endlich die zahllosen überkommenen Privilegien der Amtskirchen schleift. Aber nichts spricht dafür, dass dies in absehbarer Zeit geschehen wird. Solange es die Kirchensteuer gibt, konfessioneller Religionsunterricht an staatlichen Schulen angeboten wird und für kirchliche Betriebe das normale Arbeitsrecht nicht gilt (um nur wenige Beispiele zu nennen), solange steht leider auch islamischen Verbänden eine vergleichbare politische Rolle zu.
Dringend zu wünschen ist deshalb, dass neben die bestehenden, meist erzkonservativen Verbände liberalere treten.