Die Folgen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Tarifeinheitsgesetz

Einheit statt Streiks

Das Bundesverfassungsgericht hat das Tarifeinheitsgesetz der Großen Koalition weitgehend für verfassungskonform erklärt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßt das Urteil mehrheitlich, obwohl es das Streikrecht gefährdet.

Zahlreiche Gewerkschaften und Spartenverbände hatten bereits kurz nach der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes 2015 eine Verfassungsklage dagegen angekündigt. Vergangene Woche urteilte das Bundesverfassungsgericht stellvertretend über fünf dieser Klagen, den weiteren Klägern wurde ein Beobachterstatus zugewiesen. Neben dem Pilotenverband Cockpit, der Organisation der Flugbegleiter UFO, der Ärztevereinigung Marburger Bund und dem Beamtenbund DBB, dem auch die Gwerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) angehört, klagte mit Verdi auch eine im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierte Gewerkschaft.

Bereits die Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres verdeutlichte die Gegensätze, die in der Frage des Tarifeinheitsgesetzes den DGB kennzeichnen.

Das Gericht erklärte das Gesetz weitgehend für verfassungskonform. Allerdings verlangten die Karlsruher Richter Regelungen zum Schutz kleinerer berufsständischer Organisationen. So muss der Gesetzgeber Vorkehrungen dafür treffen, dass die Belange der unterlegenen Seite berücksichtigt werden, sollte der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft einen anderen verdrängen. Auch bestimmte langfristig bedeutsame Leistungen, die eine kleinere Gewerkschaft ausgehandelt hat, wie Betriebsrenten oder Arbeitsplatzgarantien dürfen nicht durch einen anderen Tarifvertrag außer Kraft gesetzt werden. Bis Ende 2018 müssen diese Änderungen erfolgen. Zwei der acht Richter wichen mit einem Sondervotum vom Urteil des Gerichts ab und kritisierten dieses scharf. Sie halten das Tarifeinheitsgesetz für einen Eingriff in die Tarifautonomie und für verfassungswidrig.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) feierte das Urteil als Erfolg. Auch die Unternehmervertreter sind zufrieden. Die Tarifeinheit bleibe »eine Grundlage für das Erfolgsmodell Sozialpartnerschaft«, sagte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer. »Heute ist ein guter Tag für die soziale Marktwirtschaft«, so Kramer weiter.

Die Freude der Arbeitgeberfunktionäre ist nachvollziehbar, denn einzelne Berufsgruppen wie Piloten, Flugbegleiter oder Lokomotivführer können aufgrund ihrer exklusiven Ausbildung und ihrer Stellung im Produktionsprozess bei Arbeitsniederlegungen immer wieder große Wirkung erzielen. Ihnen gelingt es, mit vergleichsweise wenig Personaleinsatz ganze Konzerne lahmzulegen. Vor allem die für die heutige Just-in-time-Produktion so wichtige logistische Infrastruktur ist anfällig für die Streiks kleiner Spartenverbände. Dabei geraten diese berufsständischen Lobbyorganisationen nicht nur mit den Arbeitgebern aneinander, sondern auch mit den Gewerkschaften des DGB. Während diese für sich in Anspruch nehmen, alle Beschäftigten eines Betriebs zu vertreten, um so über alle Berufsgruppen hinweg bessere Arbeits- und Lohnbedingungen durchzusetzen, vertreten die ständischen Organisationen ausschließlich die Interessen einzelner Berufsgruppen.

Wegen der offensichtlichen Schwäche des sozialpartnerschaftlichen Modells der DGB-Gewerkschaften sind die Spartenverbände in den vergangenen Jahren in einigen Branchen zu einer immer größeren Konkurrenz für die Gewerkschaften avanciert. Hinzu kam 2010 ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes, das das bisher geltende Prinzip für obsolet erklärte, wonach in einem Betrieb für eine Beschäftigtengruppe nur ein Tarifvertrag gelten darf. Seither betreiben die DGB-Gewerkschaften gemeinsam mit der BDA die Schwächung der kleinen Berufsverbände. Sie forderten die Bundesregierung auf, die Tarifeinheit per Gesetz herzustellen. Nur noch der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb sollte nach dem Wunsch der DGB-Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gelten. 2015 griff die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD die Forderung der sogenannten Sozialpartner auf und erließ das Tarifeinheitsgesetz.

Inzwischen waren jedoch mehrere DGB-Gewerkschaften aus dem Bündnis mit den Arbeitgebern ausgeschert. Sowohl die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft Verdi als auch die Gewerkschaften Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) stellten sich gegen das Gesetz. Sie sahen dadurch die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht in Gefahr. Innerhalb des DGB fanden sie für ihre Position jedoch keine Mehrheit.

Ein Blick in das Gesetz zeigt, worum es der Bundesregierung mit der Regelung der Tarifeinheit geht. Es soll für Ruhe in den Betrieben sorgen, die Gefahr von Streiks minimieren und renitenten Spartenorganisationen wie der GDL das Wasser abgraben. Die Mehrheit der DGB-Gewerkschaften unterstützt dieses Anliegen, um so ihren sozialpartnerschaftlichen und staatskorporatistischen Kurs beibehalten zu können, ohne Konkurrenz fürchten zu müssen.

Konkret sieht das Gesetz vor, dass bei Überschneidungen mehrerer Tarifverträge für denselben Bereich in einem Betrieb nur der jener Gewerkschaft gilt, die dort die meisten Mitglieder hat. Die kleinere Arbeitnehmervertretung kann sich nur der abgeschlossenen tariflichen Regelung anschließen, nicht jedoch eigene Verträge abschließen. Das würde faktisch ein Ende der Arbeitskämpfe der Berufsverbände bedeuten. Sie wären nicht mehr in der Lage, eigenständig Tarifverträge abzuschließen, und so in ihrer Existenz bedroht.

Das Gesetz hat jedoch nicht nur für die berufsständischen Organisationen negative Auswirkungen. Durch den Betriebsbezug stärkt es die Möglichkeiten der Arbeitgeber, sich ihre Verhandlungspartner auszusuchen. Was als eigenständiger Betrieb innerhalb eines Konzerns gilt, entscheidet ausschließlich das Unternehmen. Es besteht also die Möglichkeit, sich den Betrieb so zurechtzuschneidern, dass jeweils die vom Arbeitgeber als Verhandlungspartner bevorzugte Gewerkschaft die Mehrheit hat.

Probleme ergeben sich auch bei der Frage, wie festgestellt werden soll, welche Gewerkschaft die Mehrheit der Beschäftigten in einem Betrieb vertritt. Nicht überall sind die Mehrheitsverhältnisse eindeutig. So stellt sich unter anderem die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auch deswegen gegen die gesetzlich verordnete Tarifeinheit, weil sie in einigen Krankenhäusern eine Mehrheit der Ärztevereinigung Marburger Bund fürchten müsste. In anderen Bereichen – zum Beispiel in Betrieben des Verkehrswesens und der Medienbranche – steht Verdi in Konkurrenz zu anderen Arbeitnehmervertretungen und organisiert teilweise weniger Beschäftigte als diese. Um festzustellen, welche Interessenvertretung die Mehrheit in einem Betrieb hat, müssten die Beschäftigten ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft offenlegen.

Bereits die Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres verdeutlichte die Gegensätze, die in der Frage des Tarifeinheitsgesetzes den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften kennzeichnen. Verdi kritisierte damals das Gesetz als »neues Instrument der Arbeitgeber zur Kostensenkung und der Fragmentierung und Deregulierung der Tarifbindung«. »Der verdrängte oder nicht zum Zug kommende Minderheitstarifvertrag wird in der Regel einer sein, der höhere Arbeitskosten zur Folge hätte«, befürchtet die Dienstleistungsgewerkschaft. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann trat bei der Anhörung hingegen als Fürsprecher des Gesetzes auf. Für Hoffmann ist es die Tarifeinheit, die das sozialpartnerschaftliche Modell erst ermöglicht.

Die DGB-Schwestergewerkschaften kommentierten die Niederlage Verdis vor dem Bundesverfassungsgericht mit Häme. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, bezeichnete das Urteil als »klares Signal gegen Gruppenegoismen und Spaltung«. Der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Alexander Kirchner, sieht sich in seiner Auffassung bestätigt, dass solidarische Tarifpolitik nur von den Gewerkschaften mit den meisten Beschäftigten verantwortet werden könne. Die Mehrheit der DGB-Gewerkschaften feiert das Urteil als Stärkung von Sozialpartnerschaft und Kompromissorientierung. Statt den berufsständischen Lobbyverbänden durch eine kämpferische Tarifpolitik das Feld streitig zu machen, setzen sie im Bündnis mit den Arbeitgeberverbänden lieber auf den Gesetzgeber, um der unliebsamen Konkurrenz Herr zu werden.