Antifaschisten wollen in Wurzen gegen den rassistischen Normalzustand demonstrieren

Angst und Schrecken in Wurzen

In der sächsischen Provinz sorgt eine geplante Demonstration von Antifaschisten für Aufsehen. Viele Bürger Wurzens fürchten Krawalle und sehen das angeblich gute Image ihrer Stadt bedroht.

In der sächsischen Kleinstadt Wurzen mit ihren knapp 17 000 Einwohnern geht die Angst um. Innerhalb eines Jahres zog ein rassistischer Mob durch die Straßen, griffen Unbekannte mehrfach die Wohnungen von Flüchtlingen an und organisierten Rechtsextreme eine von etwa 300 Personen besuchte Kundgebung. Doch das ist es nicht, was viele Bürger der Stadt in Panik versetzt – es ist »die Antifa«, die für den kommenden Sonnabend einen Besuch angekündigt hat. Seit mehreren Wochen überschlägt sich deshalb die Lokalpresse mit Berichten über gefährliche Anmelder, verängstigte Menschen und eine wütende Standortinitiative.

Grund der Aufregung ist die Ankündigung der überregionalen Kampagne »Irgendwo in Deutschland«, am 2. September in Wurzen eine antifaschistische Demonstration zu veranstalten. Am ersten Septemberwochenende findet traditionell der »Tag der Sachsen« statt. Volk, Heimat, Sachsen – das sind drei Schlagworte, die die Antifaschisten bereits im vergangenen Jahr mehrmals auf die Straße getrieben haben: im August in Heidenau, um an die tagelangen rechtsextremen Ausschreitungen im Jahr zuvor zu erinnern, im Oktober in Dresden, um die Einheitsfeier »kritisch zu begleiten«, und im November in Zwickau anlässlich der sich zum fünften Mal jährenden Selbstenttarnung des NSU.

Politiker und Wirtschaftsinitiativen behaupten, dass sich die Einwohner mit internationalen Fußball­turnieren, Fotoausstellungen und Hilfsangeboten für Flüchtlinge vielfältig engagierten.

Die Kampagne hat schon mehrere Orte in Sachsen besucht und keinen davon in Schutt und Asche gelegt. Gleichwohl sehen viele Bürger und Bürgerinnen in Wurzen nun den vermeintlichen Ruf ihrer Stadt als weltoffen in Gefahr und fürchten ähnliche Krawalle wie während des G20-Gipfels in Hamburg. Ein Indiz für bevorstehende Ausschreitungen soll der Anmelder sein: Andreas Blechschmidt. Die Leipziger Volkszeitung beschreibt den Sprecher der »Roten Flora« als »Kopf« beziehungsweise »Vorkämpfer« der autonomen Szene in Hamburg, der – so die Vermutung des Boulevardportals Tag 24 – die »berüchtigte Antifa-Szene der Hansestadt« mitbringen wird. Betont wird vor allem, dass Blechschmidt auch die »Welcome to Hell«-Demonstration in Hamburg angemeldet hat – die jedoch von der Polizei zerschlagen wurde.
Die Kampagne bezeichnet Wurzen in ihrem Aufruf als »Schwerpunkt neonazistischer Gewalt und Strukturen in der Region Leipzig« und verweist auf Verbindungen zu Legida, dem rechtsextremen Angriff in Leipzig-Connewitz im Januar 2016 und auf »neonazistische Vertriebsstrukturen«. Zudem beklagt sie, rechtsextreme Angriffe würden in der Stadt verharmlost und nicht entschieden genug bekämpft würden. Das sorgt in Wurzen für Unmut. Politiker und Wirtschaftsinitiativen behaupten, dass sich die Einwohner mit internationalen Fußballturnieren, Fotoausstellungen, Stolpersteinen und Hilfsangeboten für Flüchtlinge vielfältig engagierten. Die geplante Demonstration empfinden viele als Bedrohung und Einmischung. Gleichsetzungen wie »Neonazis gibt es genauso wie einzelne Flüchtlinge, die sich danebenbenehmen« oder »gegen rechten wie linken Krawalltourismus« finden sich in den Wortmeldungen Wurzener Bürger zuhauf.
Auf Facebook empört sich die Seite »Wurzen gegen Krawalltourismus« über die Demonstration. Eine »Tierrechtsinitiative« vermeldete auf ihrer Seite die Absage eines für diesen Tag geplanten Informationsstands auf dem Marktplatz. Die zuständige Behörde habe die Anmelder vor »erheblichen Ausschreitungen« gewarnt, heißt es zur Begründung.

Die Ablehnung antifaschistischen Engagements beschränkt sich nicht auf die sächsische Provinz. So planen CDU und CSU auf Bundesebene neue Verschärfungen des Demonstrationsrechts, durch die friedliche Gegner von Naziaufmärschen noch stärker ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten könnten. Die Panikmache in Wurzen, das Verbot von linksunten.indymedia.org, die Pläne der Unionsparteien – all das richtete sich gegen Antifaschisten ausgerechnet in jener Woche, in der mit vielen Aktionen und Veranstaltungen an das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren erinnert wurde. Damals belagerten Neonazis und andere Ausländerfeinde tagelang eine Unterkunft für Asylsuchende und vietnamesische Vertragsarbeiter. Sie warfen Steine, Flaschen und Molotowcocktails, während sich die Polizei zurückzog oder gegen Antifaschisten vorging, die weitere Angriffe verhindern wollten.

Auf Twitter versetzte ein Bildungsverein mit dem Projekt »Lichtenhagen im Gedächtnis« interessierte Leser in die Zeit vor 25 Jahren zurück und veröffentlichte Mitteilungen so, als finde das Geschehen gerade statt. Zahlreiche antirassistische Initiativen veranstalteten bundesweit Vorträge und Theateraufführungen. Das zentrale Gedenken mit Filmvorführungen, Diskussionen und der Einweihung von Mahnmalen fand in Rostock selbst statt. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) weihte am Freitag voriger Woche eine Stele mit dem Titel »Staatsgewalt« ein, die an das Polizeiversagen erinnern soll. Eine weitere Stele vor dem Jugendzentrum JAZ soll an jene erinnern, die sich dem rechten Mob entgegengestellt haben.

Nach 25 Jahren geht das. Doch wer sich derzeit der extremen Rechten entgegenstellt, gilt als Störenfried oder Krawallmacher. Zwei der fünf in Rostock aufgestellten Stelen wurden bereits beschmiert. Überdies wurden in der Stadt und im Landkreis Ludwigslust-Parchim am Montag Räume zweier Verdächtiger durchsucht, die in Chats die Internierung und Ermordung linker Politiker im Krisenfall erörtert haben sollen. Den Angaben des Generalbundesanwalts zufolge handelt es sich bei den Verdächtigen um einen Anwalt und einen Polizisten.