Der türkische Präsident setzt seinen autoritären Kurs mit Dekreten fort

Mit Knüppel auf dem Dach

Mit seinen Dekreten fährt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unbeirrt seinen autoritären Kurs weiter.

In der Silvesternacht begleitete die Bevölkerung in Istanbuls Innenstadt­bezirk Beyoğlu Hubschrauberlärm ins neue Jahr. Über 20 000 Polizisten und Spezialeinheiten der paramilitärischen Jandarma taten Dienst am Bosporus. Der Taksim-Platz wurde weiträumig abgesperrt, alle Passanten wurden durchsucht – eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem in der Silvesternacht 2016 ein jihadistischer Attentäter 39 Menschen im Istanbuler Nachtclub Reina ­ermordet hatte. Seit der »Islamische Staat« (IS) im Irak und Syrien immer mehr an Territorium verliert, fliehen viele seiner Anhänger über die grüne Grenze in die Türkei. Im vergangenen Jahr wurden etwa 1 000 von ihnen festgenommen. In der Silvesternacht blieben Anschläge aus, nur einige ­Versprengte schlossen sich »Anti-Weihnachts-Kampagnen« an, die im Dezember 2016 die unheilvolle Ouvertüre des grausamen Anschlags gewesen waren.

In den sozialen Medien kursierten damals Videos, die zeigten, wie der Weihnachtsmann als Agent des Westens exekutiert wird. Die Betreiber des Twitter-Accounts Misvak veröffentlichten Zeichnungen, auf denen der Weihnachtsmann von seinem Rentierschlitten Bomben auf syrische Kinder wirft. Kurz nach dem Anschlag auf das Reina kursierten einen Tag lang Gerüchte, der Attentäter habe sich mit einem Weihnachtsmannkostüm getarnt. Nach der Auswertung von Kameraaufnahmen aus der Schreckensnacht erwies sich das als falsch, es war aber ein Anzeichen für die Polarisierung und die Wirkung der Agitation im vorvergangenen Jahr.

Der Jahreswechsel 2017/2018 verlief weniger aggressiv. Manche Videos aus dem islamistischen Umfeld wirkten gar ungewollt satirisch. So etwa die Nachtwache eines bärtigen selbsternannten Wächters Gottes, der mit einem Knüppel auf dem Dach seines Hauses am Schornstein stand und geiferte, er werde es dem Weihnachtsmann, diesem Knecht des Westens, schon zeigen, wenn er es wage, hier aufzutauchen. Nach dem Freitagsgebet vor Weihnachten vermengten sich Antiweihnachtsaktivisten und propalästinensische Demonstrierende auf skurrile Weise. Ein Cartoonist der Satirezeitschrift LeMan kommentierte diese Allianz in den sozialen Netzwerken: »Wenn die Katze vom Dach fällt, dann fällt auch Jerusalem.«

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ bei seiner Neujahrsansprache keinen Zweifel aufkommen, wer für die Destabilisierung im Land verantwortlich sei. »2018 erwarten uns entscheidende Entwicklungen. In dieser kritischen Zeit dürfen wir keine Zwietracht unter uns säen lassen«, so der Staatschef. Die PKK wurde als niederträchtigste Verräterbande an die Spitze der Staatsfeinde gestellt, gefolgt von der »Terrororganisation des Fethullah ­Gülen«, kurz Fetö genannt. Wer zu den Unterstützern dieser inneren Feinde der Türkei gezählt werden soll, bestimmt der Präsident bereits seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 auf der Grundlage des noch immer geltenden Ausnahmezustandes per Dekret. Diese Legislativ-Dekrete, die sogenannten KHK, geben den Entscheidungen des Präsidenten de facto Gesetzeskraft. Seit Dezember verlieren Menschen ­allein wegen des Verdachts, einer Terrororganisation anzugehören, ihre Bürgerrechte, dürfen festgenommen, ent­eignet und auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. Die Äußerungen des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu in einem Interview mit der Nachrichtenagentur DPA kurz vor einem freundschaftlichen Besuch bei seinem deutschen Amtskollegen Sigmar Gabriel, der Fall Deniz Yücel besitze trotz der schweren Vorwürfe gegen den Journalisten keine spezielle politische ­Bedeutung, heißen wenig. Denn die gesamte Politik und Justiz werden seit ­eineinhalb Jahren außergewöhnlich autokratisch gehandhabt.

Die Niederschlagung des Putschversuchs hat die Zahl der Anhänger des türkischen Präsidenten – des Reis, wie er in der Bewegung genannt wird – weiter wachsen lassen. Das knüppelbewehrte Vorgehen gegen den Weihnachtsmann auf dem Dach ist zwar ein absurdes Schauspiel, passt aber zu den Phantasien, die in diesem Umfeld blühen. Das symbolische Erhängen von Fethullah-Gülen-Puppen auf Versammlungen gehört ebenso dazu wie die Verhöhnung der Feinde durch den Präsidenten. Dekrete aus dem Präsidentenpalast geben die Richtung vor. Von manchen erfährt die Bevölkerung erst durch die parlamentarischen Einsprüche der Opposition.

 

Wie in Guantánamo

 

So monierte die Fraktion der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 26. Dezember, dass künftig mutmaßliche Straftäter aus dem Umfeld der Putschisten im Gefängnis beigefarbene Overalls, mutmaßliche Mitglieder anderer »Terrororganisationen« graue tragen sollten. Diese Uniformierung wurde zunächst auf Agitationsveranstaltungen der islamisch-konservativen Bewegung nach der Niederschlagung des Putschversuchs 2016 propagiert. Auf diesen hatten Aktivisten orangefarbene Overalls, wie sie die Gefangenen in Guantánamo tragen mussten, als Einheitskleidung für Putschisten gefordert – sowie deren Hinrichtung in solcher Kleidung. Ganz abgesehen von den erheblichen Kosten, die der Staatskasse im Fall der Neueinkleidung Tausender politischer Gefangener drohen, ist diese bislang noch nicht eingeführte Uniformierung von Häftlingen sicherlich deren geringstes Problem.

Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen.

Der türkische Dienst der BBC veröffentlichte Ende Dezember eine Liste der bislang erlassenen 18 Dekrete. Demzufolge wurden 28 284 Beamte und ­Angestellte des Staats entlassen, 1554 von ihnen haben ihre Stellen zurück­erhalten. Die Entlassenen verloren ihre berufliche Absicherung, viele ihre Dienstwohnung, und wurden lebenslang aus dem Staatsdienst ausgeschlossen. Hunderte Publikationsorgane, Stiftungen, Vereine und Privat­schulen wurden geschlossen. Dekrete müssen wegen ihres besonderen rechtlichen Charakters nicht detailliert begründet werden, was der Willkür Tür und Tor öffnet. So kann mittlerweile Staatsbürgern, gegen die ermittelt wird und die innerhalb von drei Monaten nicht von Auslandsaufenthalten zurückkehren, die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Die Befugnisse der Militärbefehlshaber wurden begrenzt, die des Verteidigungsministeriums ­erweitert. Zukünftig dürfen auch Grundschulabgänger Berufssoldaten werden. Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen. Bislang sind diese Wächter noch nicht im Dienst, Oppositionelle befürchten jedoch, dass sich semioffizielle Moralapostel im zivilen Leben etablieren könnten. Solche Wächter in Stadtvierteln gab es bereits nach dem Militärputsch von 1980, sie sind also nichts völlig Neues, doch Erdoğans Dekret­praxis lässt Schlimmeres als damals befürchten.

Der militärische Geheimdienst MIT wurde direkt dem Präsidenten unterstellt und dazu autorisiert, alle möglichen Ermittlungen in den Kreisen von Mitarbeitern der Ministerien und Angehörigen des Militärs durchzuführen. Abgeordnete genießen keine Immunität mehr, solange der Ausnahmezustand in Kraft ist. Damit übt der Präsident eine weitgehende Kontrolle über Exekutive, Legislative und Judikative aus.

Kurz vor Neujahr meldete sich der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül zu Wort und kritisierte, dass die Dekretpolitik zu weit gehe. Es kursiert das Gerücht, Gül werde als Gegenkandidat zu Erdoğan im Wahljahr 2019 antreten. Im kommenden Jahr werden in der Türkei neue Lokalpolitiker, das Parlament und der mit besonderen Vollmachten ausgestattete Präsident gewählt. Der Kolumnist Dinçer Demirkent veröffentlichte am 4. Januar dazu ­einen treffenden Kommentar auf der Online-Plattform »Gazete Duvar«. Er warnte vor den Hoffnungen, die Güls zaghafte Einsprüche möglicherweise wecken konnten, und erinnerte daran, dass dieser ein alter Weggefährte Erdoğans und Mit­begründer der »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) ist. Für Erdo­ğan zähle nur die unter seiner Führung geeinte Partei, die gegen viele Feinde zu kämpfen habe, und Gül sei nicht so dumm, sich auf Feindesseite zu stellen. Dem neoosmanischen Despotismus erwächst bislang keine wirkungsvolle Opposition.