Theorie und Praxis des Kampfes um bezahlbaren Wohnraum

Grenzen des Mietkampfs

Mieten steigen, Förderprogramme für sozialen Wohnungsbau bleiben wirkungslos. Dagegen regt sich zwar Protest, doch anders als der Arbeitsplatz eignet sich die Wohnung nicht als öffentliche Bühne des Klassenkampfes.

Kürzlich flatterte eine ganz spezielle Werbung ins digitale Postfach: »Wie Singles die Wohnungsnot verschärfen«. Von 23 Millionen Single-Haushalten in Deutschland ist die Rede, in Hamburg soll schon jeder Zweite allein leben. Was das für ein Werbeangebot war? Es stammt von einer Partnervermittlungsagentur. Das Problem ist allerdings real. In knapp 50 Prozent aller  Haushalte in den 77 deutschen Großstädten lebt nur eine Person. »Den 6,7 Millionen Einpersonenhaushalten stehen aber nur rund 2,5 Millionen Kleinstwohnungen gegenüber«, besagt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung über fehlende Wohnungen in Deutschland von 2018. Zugleich bestehe ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum für Haushalte mittleren Einkommens mit mehr als fünf Personen. Eine Reportage des Spiegel über die Kölner Ford-Streiks vor 45 Jahren berichtete, dass die tür­kischen Arbeiter und ihre Familien »im sanierungsbedürftigen Altstadtgürtel um Ringstraße und Eisenbahnring« wohnten, »einer Gegend, aus der Einheimische sich zurückziehen«.

Dieses Gebiet ist heute eine der teuersten Wohngegenden Kölns, keinen Kinderwagen sieht man noch dort, keine ­Migranten.

Aber dass ausgerechnet Partnerbörsen als Kämpfer gegen Wohnraummangel und Mietpreisexplosion auftreten – das ist schon dreist. Das Beispiel zeigt, dass die Wohnungsnot ein Vehikel ist, das den unterschiedlichsten Geschäftsmodellen dient.

Delegiert man seine Anliegen und Kämpfe an eine übergeordnete Instanz, entmündigt man nicht nur sich selbst, sondern affirmiert genau die Institution, die die Eigentums­ordnung aufrechterhält.

Der Wohnungsmarkt ist derzeit vielleicht das beste Beispiel dafür, dass eine bestimmte Entwicklung, die wenig überraschend den Abhängigen – also den Mietern – zum Nachteil gerät, kein naturwüchsiger Prozess ist. Dass die Wohnungsnot auf steigende Bevölkerungszahlen zurückzuführen wäre, geht allein schon angesichts der Zunahme von Single-Haushalten nicht auf. Hinzu kommt, dass eine demographische Trendwende – wenn überhaupt – erst vor kurzem eingesetzt hat. Die Wohnungsnot verschärft sich aber bereits seit mindestens zehn Jahren.

Steigende Mieten, Verdrängung von Mietern, soziale Entmischung, Schaffung verödeter und heruntergekommener Vororte und Randbezirke et cetera zeugen in einem hochentwickelten kapitalistischen Land wie Deutschland nicht von einer wachsenden Bevölkerung, sondern von ihrer sozialen Spaltung. Mit sozialer Spaltung ist nicht nur die grundsätzliche Klassenspaltung in Eigentümer und Nichteigentümer an Produktionsmitteln gemeint, sondern auch deren Vertiefung: Die Arbeiterklasse in Deutschland hat in den vergangenen 20 Jahren eine ökonomische Demütigung nach der anderen erfahren. Dazu zählt die Liberalisierung des Wohnungsmarktes. Der Stadtsoziologe und Mieteraktivist Andrej Holm berichtet von über 3,5 Millionen Wohnungen aus kommunalem Bundes- und Landesbesitz, die seit Mitte der neunziger Jahre an private Eigentümer verkauft wurden.

In einer Großstadt wie Köln wurde für mindestens ein Jahrzehnt – von 2000 bis 2010 – der soziale Wohnungsbau konsequent vernachlässigt, unter der politischen Verwaltung der CDU wurden alle offenen Bebauungspläne neu geprüft und der soziale Wohnungsbau beendet, Fördermittel flossen in Eigenheime. Zwar hatte der zeitweilig wieder sozialdemokratisch dominierte Rat vor acht Jahren das Verwaltungskonzept »Preiswerter Wohnraum« verabschiedet, wonach jährlich 1000 geförderte Mietwohnungen geschaffen werden sollen. Doch blieb in den folgenden Jahren die Anzahl der von der Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft AG gebauten Sozialwohnungen weit unter diesem politischen Ziel. Dabei wäre jährlich der Bau von mindestens 1 350 Wohnungen nötig, allein um die auslaufenden Belegungsbindungen, die nur 15 oder 20 Jahre bestehen, auszugleichen.

Die Förderprogramme für sozialen Wohnungsbau bleiben wirkungslos – in Köln und anderswo. Wer für den Immobilienbau nur drei Prozent Zinsen an die Banken zahlen muss, dafür aber eine Miete von über zehn Euro pro Quadratmeter fordern kann, wird diesen Weg wählen. Zum Vergleich: Wer sich Kredite für den sozialen Wohnungsbau besorgt, muss sie zwar bloß mit ­einem Prozent Zinsen zurückzahlen, dafür ist aber die Miethöhe stark begrenzt. Es rechnet sich nicht. Dieser Logik folgen mittlerweile auch die Genossenschaften, sie verweigern sich seit Jahren dem sozialen Wohnungsbau. Sicher, die Bestandsmieten bleiben günstig. Aber die genossenschaftlichen Neubauprojekte orientieren sich am freien Markt.

 

Dass dieser freie Markt kein natürlicher, dem Wesen des Menschen am besten entsprechender Verteilungsmechanismus von Gütern und Dienstleistungen ist, sondern jene Ungleichheit und Abhängigkeit reproduziert und verschärft, die schon im kapitalistischen Eigentumsverhältnis angelegt ist, wird in der Wohnungsnot besonders deutlich. Kein Wunder, dass seit einigen Jahren linke Aktivisten den Mieterkampf für sich entdeckt haben – häufig genug sind ihre Wohn- und Hausprojekte selbst von Entmietung und Verdrängung betroffen. Tatsächlich sind den Linken hier einige ihrer spektakulärsten Aktionen der jüngeren Vergangenheit gelungen. Sitzblockaden, mit denen Mieter, Nachbarn und Aktivisten gemeinsam Zwangsräumungen verhindern wollen, erfuhren hohe Aufmerksamkeit. Die Kölner Aktion »Alle für Kalle« – der Altmieter Karl-Heinz Gerigk wurde vor vier Jahren aus seiner Innenstadtwohnung vertrieben, die dann luxussaniert wurde – schaffte es sogar in die »Tagesschau«.

Aber die Euphorie der spektakulären Sitzblockaden ist meist schnell wieder verflogen. So heftig die Proteste aufflammen, so schnell verlieren sie auch an Schwung. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist für viele Betroffenen das Wohnen schlicht und einfach Privatsache. Angedrohte Zwangsräumungen und Vermieterterror provozieren heftige Gegenwehr – aber häufig sorgen schon individuelle Lösungen für eine Befriedung des Konfliktes. Mal wird eine Zwangsräumung zurückgenommen, mal wird Mietern eine Umsiedlung angeboten – dann erlischt auch schon der Widerstand. Und wieso auch nicht? Anders als der Arbeitsplatz eignet sich die Wohnung eben kaum als öffentliche Bühne des Klassenkampfs.

Die Hoffnung vieler Linker ist es, die Mieterkonflikte als Teil des proletarischen Lebenszusammenhangs transparent zu machen. Vom proletarischen Lebenszusammenhang sprachen vor 50 Jahren die italienischen Operaisten, als die Arbeiter nicht nur in den Fabriken streikten, sondern schwarzfuhren, für ihre Einkäufe nicht mehr bezahlten und eigenmächtig die Mieten reduzierten. Anders als heutzutage herrschte im Italien der siebziger Jahre eine weitverbreitete Klassenkampfstimmung, in der die Arbeiter die Militanz der Betriebskämpfe auf andere Lebensbereiche ausdehnten.

Friedrich Engels hat 1872 in seiner Schrift über die Wohnungsfrage, die man mittlerweile wieder ohne Abstriche lesen kann, dementsprechend auf einen Widersacher aus der Schule Proudhons geantwortet. Der hatte behauptet: »Was der Lohnarbeiter gegenüber dem Kapitalisten, das ist der Mieter gegenüber dem Hausbesitzer.« Darauf Engels trocken: »Das ist total falsch.« Der Mieter verkauft nicht seine Arbeitskraft an den Eigentümer, sondern ersteht ein Nutzungsrecht. Deshalb ist der Protest gegen den »Mietenwahnsinn«, wie das Motto der Berliner Demonstration vom Wochenende hieß, häufig bloß moralisch – der Vermieter hat nun mal das Eigentumsrecht auf seiner Seite. Man müsste also die Eigentumsordnung direkt angereifen. Der erste Hebel dafür ist aber immer noch der Klassenkampf auf Betriebsebene.

Das leitet zum zweiten Grund über, aus dem Mieterkämpfe sich derzeit so häufig als Strohfeuer erweisen. Eben weil sie nicht eingebettet sind in einen generalisierten sozialen Konflikt um die Aneignung der kollektiven Existenzbedingungen, sind sie an die Politik adressiert: Diese soll Instrumente einführen, die Mieten deckeln, Bodenspekulation verhindern und den Mietern mehr Gegenwehr ermöglichen. Es ist bezeichnend, dass ein Basisaktivist wie Andrej Holm in Berlin Staats­sekretär werden wollte. Delegiert man aber seine Anliegen und Kämpfe an eine übergeordnete Instanz, entmündigt man sich nicht nur selbst, sondern affirmiert genau die Institution, die die Eigentumsordnung aufrechterhält. So erweisen sich politische Maßnahmen wie die Mietpreisbremse für die Eigentümer zuverlässig als Ansporn, Gesetzeslücken und Ausnahmeregelungen auszunutzen. Nahezu ungestraft wird gegen die Preisbremse verstoßen. Selbst die Kanzlerin sieht sie als gescheitert an.

Die Chance auf eine wirksame antikapitalistische Strategie eröffnet sich nur dann, wenn sich die Mieterkämpfe mit anderen sozialen Konflikten verbinden. Die Aufgabe der Linken könnte dann darin liegen, Briefträger zu ­spielen.