Antisemitismus vor Gericht und auf der Straße

Antisemiten nur im Ganzen

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Nach Auffassung des Gerichts konnte die Beklagte nicht ausreichend belegen, dass Naidoo Antisemit sei. Weil eine solche Behauptung in Deutschland rufschädigend sei, müsse die Meinungs­freiheit der Beklagten in diesem Punkt eingeschränkt werden; der Schutz der Persönlichkeit des Sängers wiege in diesem Fall schwerer. Zudem sei auch der Schutz der Kunstfreiheit zu berücksichtigen, sagte die Vorsitzende Richterin.

»Die Entscheidung des Gerichts ist enttäuschend und greift in die Meinungsfreiheit ein. Das Urteil ist ein fatales Signal für die politische Bildung«, sagte die Referentin in einem Statement. Die Amadeu-Antonio-Stiftung halte es »für unerlässlich, antisemitische Äußerungen und Verschwörungserzählungen auch als solche zu bezeichnen«. Die Stiftung werde gegen das Urteil Berufung einlegen, sagte ihr Sprecher Robert Lüdecke der Jungle World. »Dazu sitzt unsere Anwältin an einem entsprechenden Schreiben. Ein Zeitplan ist momentan schwer einzuschätzen.«

Der 46jährige Sänger hatte sich in der Verhandlung auf die Kunstfreiheit berufen und betont, dass er sich gegen Rassismus einsetze. Außerdem trage sein Sohn einen hebräischen Namen. Er selbst habe viele jüdische Freunde. Unter anderem sei auch sein Konzertveranstalter jüdischen Glaubens. Bewiesen hat der Sänger damit freilich nur, dass er keinerlei Verständnis von der Funktionsweise des Antisemitismus hat. Denn Juden werden nicht »wegen ihres Glaubens« angegriffen, gehasst und ermordet. Es geschieht völlig ­unabhängig davon, ob die bedrohten Juden streng oder wenig religiös, reli­gionskritisch oder atheistisch sind.

Das reale Verhalten von Juden spielt für den Antisemitismus keine Rolle, es geht vielmehr um ein bestimmtes Bild von Juden. Auf die Darlegung der ­Beklagten, Naidoo verwende in seinen Songs antisemitische Codes und Chiffren, hatte dieser erwidert, diese Codes seien ihm nicht bekannt.

Eine solche antisemitische Chiffre kann beispielsweise die der Heuschrecke für Finanzinvestoren sein. Der Bundestagsabgeordnete Alexander Ulrich von der Linkspartei mag sich besonders kritisch vorgekommen sein, als er vergangene Woche forderte, »der Kampf gegen die Heuschreckenplage« müsse aufgenommen werden. Die Bundes­regierung müsse endlich handeln, »wenn Heuschrecken wie der US-Fonds Elliott sich bei uns breitmachen, pro­duzierende Unternehmen wie Thyssen-Krupp zerstören und dabei Tausende Arbeitsplätze vernichten«, forderte der rheinland-pfälzische Abgeordnete. Das erinnert an die antisemitische Bild­sprache der Nationalsozialisten. Sie ­unterschieden »raffendes« Handels- und Finanzkapital, das mit Juden und einer »Zersetzung des Volkskörpers« assoziiert wurde, von »schaffendem« Kapital, das mit »deutscher Arbeit« und dem »Fortbestand des Volkes« verknüpft wurde.

Derweil sind Juden in Deutschland von offen antisemitischen Übergriffen bedroht. In Bonn schlug vor zwei ­Wochen ein 20jähriger Deutscher mit palästinensischem Familienhintergrund dem israelischen Professor Yitzhak Melamed mehrfach die Kippa vom Kopf. Der Angreifer schubste sein Opfer und rief: »Kein Jude in Deutschland!« Hinzugekommene Polizisten schlugen Melamed nach dessen Angaben dann mehrfach ins Gesicht – offenbar, weil sie ihn für den Täter hielten.

Sowohl Antisemitismus als auch Polizeigewalt seien widerliche Phänomene und müssten »seriös und entschlossen bekämpft« werden, sagte Melamed der Jungle World. Intoleranz dürfe aber nicht mit Intoleranz bekämpft werden. »Meiner bescheidenen Meinung nach befinden sich manche Teile der deutschen Bevölkerung allerdings in einem Kreis aus Rassismus und Gegenrassismus«, so Melamed.

Zwei Tage nach dem Angriff in Bonn wurde in Düsseldorf ein 17jähriger Jude, der eine Kippa und einen Anstecker mit israelischer Flagge trug, aus einer zehnköpfigen Gruppe junger Männer heraus beleidigt und leicht verletzt. »Düsseldorf hat seine Unschuld verloren«, sagte der Verwaltungsdirektor der jüdischen Gemeinde in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, Michael Szentei-Heise. »Um die ­Sicherheit von Juden in Deutschland steht es katastrophal.« Vor einiger Zeit noch habe er stets gesagt, man könne sich überall in Düsseldorf als Jude zu erkennen geben. »Diese Aussage ziehe ich jetzt zurück.«