Traumatisiert im Lager

Geflüchtete, die versuchen, über den Seeweg nach Australien zu gelangen, werden in Lagern auf den Pazifikinseln Nauru und Manus jahrelang interniert. Ein neuer Bericht weist auf die psychischen Belastungen hin, die zu Suizidversuchen und Selbstverletzungen führen – auch bei Kindern.

Passiv, unbeweglich, stumm, unfähig zu essen und zu trinken. Das sind neben Inkontinenz und fehlender Reaktion auf körperliche Reize die Symptome, die in Zusammenhang mit dem sogenannten Resignationssyndrom genannt werden. Im April vergangenen Jahres erreichte Rachel Aviv mit ihrer Reportage für The New Yorker inter­nationale Aufmerksamkeit für die rätselhafte Erkrankung, die insbesondere geflüchtete Kinder trifft. Sie beschrieb den Fall des russischen Jungen Georgi in Schweden, der – nachdem er seinen Eltern den zweiten Ablehnungsbescheid übersetzt hatte – den Brief fallen ließ und sich ins Bett legte. Nach Apathie folgte ein komaähnlicher Zustand. Begleitet wurde der Artikel mit Fotografien von Magnus Wennman. Eines der Bilder zeigt die Schwestern Djeneta und Ibadeta in Horndal, Schweden, mit geschlossenen Augen im Bett und Schläuchen in den Nasen, um sie am Leben zu halten. Mit diesem Foto der Schwestern, geflüchtete Roma aus dem Kosovo, gewann Wennman 2018 den Wettbewerb World Press Photo. In der Beschreibung des Fotos steht zu diesem Zeitpunkt noch, dass dieses Phänomen nur unter Geflüchteten in Schweden existiere und vor allem bei Kindern zwischen sieben und 19 Jahren aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawien auftrete. Auslöser der Krankheit sei oft ein negativer Asylbescheid.

Nach einem Anfang September vom australischen Flüchtlingsrat und der NGO Asylum Seeker Resource Centre (ASRC) veröffentlichten Bericht mit dem Titel »Australia’s man-made crisis on Nauru: Six years on« (Australiens menschengemachte Krise auf Nauru: Sechs Jahre später) wurde das Resignationssyndrom nun auch in Nauru, ­einer Pazifikinsel vor Australien, beobachtet. Dort und auf der Pazifikinsel Manus werden seit 2013 Geflüchtete, in Lagern interniert, die versucht haben, über den Seeweg nach Australien zu kommen, um Asyl zu beantragen. Selbst wenn ihr Asylantrag zur Bearbeitung angenommen wird, dürfen sie australisches Festland nicht betreten.

Immer wieder kritisieren NGOs wie Amnesty International dieses Verfahren und prangern an, dass die Geflüchteten ohne Zukunftsperspektive auf den Pazifikinseln festgehalten werden – und das unter katastrophalen Bedingungen. Es fehle an medizinischer Versorgung; die körperliche Unversehrtheit, insbesondere von geflüchteten Frauen und Kindern, sei nicht gewährleistet. Derzeit sollen noch rund 900 Flüchtlinge in Nauru interniert sein, darunter 109 Kinder; fast alle seit mehr als vier Jahren. Der Bericht betont, dass Selbstverletzung und Suizidversuche weit verbreitet seien, zwei Menschen hätten sich bereits umgebracht. Bei einer Pressekonferenz im April sagte Indrika Ratwatte, der Leiter des UNHCR-Büros für Asien und den Pazifik, über 80 Prozent der auf Nauru und Manus Internierten litten Untersuchungen zufolge unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Traumata und Depressionen.

In den vergangenen Wochen wurde in den Medien immer wieder über selbstmordgefährdete Kinder im Flüchtlingslager auf Nauru berichtet. Es waren Fälle wie der eines zwölfjährigen Jungen, der 20 Tage nicht aß und schließlich nach Brisbane ins Krankenhaus geflogen wurde, oder der eines gleichaltrigen Mädchens, das Mitte August versuchte, sich selbst anzuzünden. Die Regierung verhinderte, dass das Mädchen zur medizinischen Versorgung nach Australien geflogen wurde. Dem NGO-Bericht zufolge seien im Haushaltsjahr 2016/17 29 Krankentransporte von Nauru nach Aus­tralien erfolgt, 2014/15 waren es noch 199. Derzeit würden rund 50 ärztliche Anträge auf Krankentransporte von Nauru nach Australien blockiert.

Eine Verbesserung der Lage der Geflüchteten in Nauru ist nicht in Sicht. Die beiden größten Parteien Australiens, die Labor Party und die Liberal Party, verfolgen eine strenge Asylpolitik gegen sogenannte Bootsflüchtlinge. Journalistinnen und Journalisten wird der Zugang zum Flüchtlingslager verweigert, Interviewanfragen zum Thema werden abgelehnt. Marcella Brassett, die Kampagnenleiterin von ASRC in Melbourne, sagte der Jungle World, Naurus Präsident Baron Waqa habe behauptet, die NGOs selbst würden den Kindern einreden, eine Chance zu haben, nach Australien zu gelangen, wenn sie Anzeichen des Resignationssyndroms zeigen. Der Vorwurf, es handele sich bei den beobachteten Symptomen um Simulation, war auch in Schweden erhoben worden, wurde aber medizinisch widerlegt.

Derzeit fordert ein Bündnis australischer NGOs in einer Kampagne unter dem Motto »Kids off Nauru« (Kinder weg aus Nauru), dass über 100 Kinder schnellstmöglich mit ihren Familien von Nauru nach Australien gebracht werden. 17 000 Unterschriften sind für die Petition auf der Website von Amnesty International Australia angestrebt, das Ziel ist bald erreicht; ASRC sammelte bereits über 18 000 Unterschriften. Natasha Blucher, die Leiterin der Rechtshilfe des ASRC, sagte der Jungle World, dass Schlimmeres nur verhindert werden könne, wenn alle diese Geflüchteten zusammen nach Australien gebracht werden, denn in jedem Fall einzeln darum zu kämpfen, könne Monate dauern. Das wäre angesichts des kritischen Zustands einiger suizidgefährdeter Kinder möglicherweise zu lang, so Blucher. Ärzte und Psychologen, mit denen ASRC arbeite, hätten in den vergangenen drei Monaten eine deutliche Zunahme an psychischen Störungen, Selbstverletzungen und Suizidversuchen festgestellt. In der Zeit seien vermehrt Asylanträge von den USA abgelehnt worden. Gemäß einem Abkommen zwischen Australien und den USA, das noch unter der Präsidentschaft Barack Obamas (2009–2017) zustande gekommen war, sollen über 1 000 Menschen aus den Flüchtlingslagern vor Australien in den USA Asyl ­erhalten. Nach Informationen verschiedener Hilfsorganisationen wurden bislang jedoch nur rund 400 Geflüchtete aufgenommen.

Auch auf Nauru scheinen unsichere Lebensumstände und insbesondere Hoffnungslosigkeit nach einem Ablehnungsbescheid Kinder in einen selbstzerstörerischen Zustand zu versetzen.

Wie bei Georgi, dem russischen Flüchtling in Schweden, scheinen auch auf Nauru unsichere Lebensumstände, fehlende Zukunftsperspektiven und insbesondere Hoffnungslosigkeit nach einem Ablehnungsbescheid Kinder in einen selbstzerstörerischen Zustand zu versetzen. Blucher erzählt, die betroffenen Kinder litten meist bereits unter Albträumen, hörten dann auf, mit Freunden und der Familie zu sprechen, und begännen schließlich, sich selbst zu verletzten. Das gehe bis zu dem Punkt, an dem sie keine physischen Reaktionen mehr zeigen und eine künst­liche Nahrungszufuhr nötig sei, um sie am Leben zu halten. Blucher nennt dies traumatic withdrawal syndrome (traumatisches Rückzugssyndrom), hält es aber für das gleiche Krankheitsbild wie das in Schweden beobachtete Resignationssyndrom.

Auch wenn dieses Syndrom bereits seit Anfang des Jahrtausends in Schweden untersucht wird, wirft es bis heute Fragen auf, insbesondere, was die Heilung betrifft. Den geflüchteten Kinder und ihren Familien einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu geben, könnte eine Lösung sein. So war es zumindest bei Georgi und weiteren Kindern in Schweden. Nachdem Georgis Familie schließlich einen positiven Bescheid bekommen hatte, soll es zwei Wochen gedauert haben, bis er wieder die ­Augen öffnen konnte.