Die Neue Rechte macht sich Marx zu eigen

Gebrauchsfertige Theoriebausteine

Die Neue Rechte entdeckt den Gebrauchswert des Werks von Karl Marx.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Aufmärsche und Hetzjagdszenen in Chemnitz nach dem gewaltvollen Tod eines 35jährigen ausgerechnet am Karl-Marx-Monument ihren Ausgang nahmen. Über mehrere Tage hinweg bildete der Platz mit dem nachgebildeten Kopf des Philosophen die Bühne für eine rechte Parallelgesellschaft, die immer enthemmter zur Praxis schreitet und sich in ihrem Instrumentalisierungskalkül mit Ernst Jünger einig weiß: »Wir fragen nicht, ob dieses an sich so ist oder jenes so, sondern wir fragen uns, wie wir uns in unserer gegebenen Welt durchsetzen wollen. Wir sind mit Karl Marx der Meinung, daß es in erster Linie nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern.« Der unweigerliche »Zerfall der Benimmregeln« verschaffe der neurechten Sache dabei die dringend benötigte Robustheit und sei unvermeidlich, konstatierte ein Schreiber auf dem Blog des neurechten Magazins Sezession.

Konservative sind in erster Linie Machtanalytiker, die sich nicht um Fragen des guten Lebens und der emphatischen Wahrheit scheren, sondern sich in der gegebenen Welt durchsetzen wollen.

Die geplante Zusammenrottung von Chemnitz ist das passende Sinnbild zu einer ganz ironiefreien Essaysammlung, die ein einschlägiger Dresdner Kleinstverlag unlängst herausgegeben hat. In »Marx von rechts« klopfen der deutsche Querfronttheoretiker Benedikt Kaiser, sein französischer Lehrmeister Alain de Benoist und der italienische Geschichtsphilosoph Diego Fusaro das Marx’sche Werk nach Anknüpfungspunkten für eine rechte Gegenwartsdiagnose ab. Ziel des Bändchen ist die »Genese einer neurechten Theorie als unabdingbares Fundament einer politischen Praxis«, die mehr sein will als Kulturkampf und Anheizen der Stimmung. Vor allem Kaiser, der in Chemnitz Politikwissenschaften studiert hat und für Götz Kubitschek, den Chefredakteur der Sezession als Lektor arbeitet, sieht im Aufgreifen der sozialen Frage den Topos, der das rechte Gesamtmilieu mit der AfD als parlamentarischem Arm und den außerparlamentarischen Kräften von Pegida, Identitärer Bewegung, Institut für Staatspolitik und dem Fußvolk der Compact-Leserschaft inhaltlich einen und zusammenführen soll. Inspiriert von den Diskussionen um eine heterogene »Mosaik-Linke«, die Hans-Jürgen Urban in den Blättern für deutsche und internationale Politik angestoßen hat und die seitdem vor allem im Umfeld der Rosa-Luxemburg Stiftung ventiliert werden, soll eine »Mosaik-Rechte« aufgebaut werden. Man kann Kaiser die Rolle des Bauingenieurs zuschreiben, der kaum selbst schöpferisch-kreativ tätig wird, dafür aber mit umso größerer Beflissenheit zu Werke geht und die Baupläne der politischen Ideengeschichte mit Eifer studiert. »Es geht darum, Antworten zu finden, die natürlich an ein weltanschauliches Fundament zurückgebunden sind. Dabei kann in alle möglichen Richtungen ausgegriffen werden, wenn es eben nützlich erscheint«, beschreibt Kaiser seine Konstruktionsmethode.

Damit ist eigentlich schon alles über die Differenzen gesagt, die das kritische vom konservativ-neurechten Denken scheiden. Konservative sind in erster Linie Machtanalytiker, die sich nicht um Fragen des guten Lebens und der emphatischen Wahrheit scheren, sondern sich in der gegebenen Welt durchsetzen wollen. In diesem Sinne versuchte sich Hugo Fischer, ein Philosoph und Soziologe aus dem nationalrevolutionären Klüngel um Ernst Jünger, bereits an einer Affirmation Lenins, den er als »Machiavell des Ostens« betitelte.

Die Unbeschwertheit, die die neurechten Ideologen beim Plündern der linken Ideengeschichte an den Tag legen, folgt zuvorderst einem strategischen Kalkül und nur peripher einem Erkenntnisinteresse. In einer Themenreihe des Deutschlandfunks zur »Aktualität von Karl Marx« gab Marc Jongen, der »Parteiphilosoph« der AfD, auf die Frage, was seine Partei von Marx lernen könne, dementsprechend die entlarvende Antwort, dass dieser für die politischen Ziele der AfD eine durchaus ambivalente Figur darstelle. Die Marx’sche Ideologiekritik könne gegen den Komplex des »Kulturmarxismus«, gegen »politische Korrektheit«, »Diversity« und »Genderismus« gewendet werden, also als taktische Waffe in einem Kampf um kulturelle Hegemonie dienen.

Das haben sich seit geraumer Zeit allerdings auch selbsternannte Links­populisten wie Chantal Mouffe, Slavoj Žižek, der französische Wachstumskritiker Jean-Claude Michéa oder der deutsche Dramaturg Bernd Stegemann, der im Vorstand von Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung »Aufstehen« sitzt, vorgenommen. Indem sie die soziale Frage gegen eine linksliberale Gesellschaftspolitik mit kulturellen Nischen, Minderheitenschutz und offenen Grenzen ausspielen und zwischen Linksliberalismus, Multikulturalismus und Neoliberalismus kaum einen Unterschied machen, klingen sie bisweilen wie neurechte Ideologen wie Alain de Benoist und Thor von Waldstein, die Kapitalismus und Liberalismus für »politische Zwillinge« halten. So kämpft auch Mouffe gegen die »kosmopolitsche Illusion«, warnt Žižek vor einem »neuen Klassenkampf« der urbanen Kultureliten, mobilisiert Michéa den »gesunden Menschenverstand« gegen eine neoliberale Moralideologie. Kaiser greift ihre nützlichen Ideen dankend auf und vermischt sie zu einem weltanschaulichen Fundament, das in erster Linie antiliberal ausfällt.

Diese plumpe Polarisierung ist einfältig und auffällig redundant, denn im Grunde kocht der Linkspopulismus seit Jahren die gleiche Geschichte in neuen Variationen und Auflagen immer wieder auf, ohne die Debatte mit neuen Argumenten voranzutreiben. Auch die Rezeption durch die Neue Rechte ist nichts anderes als ein Konvolut von Autoritätszitaten, das an den richtigen Stellen um die konservativen Schlüsselbegriffe (Bindung, Identität, Sicherheit, Gemeinwohl) gruppiert wird. In der AfD greift der Flügel um Björn Höcke derartige Überlegungen auf. In seiner Rede auf dem jüngsten Bundesparteitag in Augsburg versuchte er, die AfD als »Partei des sozialen Friedens« zu profilieren und forderte, die soziale Frage in den Mittelpunkt des kommenden Bundesparteitages zu stellen.

 

Dass das selektive Theoriepuzzle oft so gut passt, hat freilich auch theorieimmanente Gründe. Links- und Rechtspopulismus eint, dass sie gemeinsam mit der liberalen Fortschrittsideologie jedes utopische Moment einer besseren Welt verwerfen und an seine Stelle den mobilisierenden Mythos setzen, der, weil er durch seine rituelle Form und nicht durch seinen konkreten Inhalt bestimmt wird, in jedem politischen Hegemonieprojekt Anwendung finden kann. Zur sozialen Frage haben linke wie rechte Populisten in erster Linie ein taktisches Verhältnis. Sie erhoffen sich von ihr eine mobilisierende Wirkung, weshalb sie stets ab-strakt und in moralisierenden Plattitüden von sozialer Ungleichheit sprechen, die sie eher in hohen Managergehältern als im gymnasialen Bildungsprivileg des Bürgertums und seinem akkumulierten Erbkapital lokalisieren. Die soziale Frage ist für Mouffe ein »leerer Signifikant«, ein Codewort für einen Kulturkampf, mit dem sich Affekte kanalisieren und in politische Anerkennungsforderungen transformieren lassen. Schlussendlich steht Mouffe dem neoliberalen Verteilungskampf aber genauso ohnmächtig gegenüber und benötigt ihn gar als Zündstoff, wie Herbert Marcuse bereits für den antiliberalen Populismus der Zwischenkriegszeit konstatierte: »Nicht also der Sorge um die Beseitigung des Massenelends gelten die Anstrengungen dieser Theorie; sie betrachtet vielmehr das Wachsen dieses Elends als ihre unvermeidliche Voraussetzung.«

In den unzähligen Variationen der populistischen Liberalismuskritik finden sich immer wieder Passagen, die zur oberflächlich aufgegriffenen sozialen Frage und der bezogenen Opposition zum Neoliberalismus in einem völlig verqueren Verhältnis stehen. Stegemann ruft in seinem Populismusmanifest die Linken dazu auf, den unverdächtigen Markt gegen das Kapital zu verteidigen und ist sich womöglich mit Wagenknecht in der Forderung einig, das »Leistungsprinzip von dem Schein eines bürgerlich-kapitalistischen Grundsatzes zu befreien«, wie jene in einem Streitgespräch mit Jürgen Elsässer einst meinte. Auch Mouffe hat die marxistische Klassenperspektive in ihrer theoretischen Entwicklung längst ausdrücklich abgelegt und durch eine postmoderne Terminologie von Differenz und Kontingenz ersetzt, die laut der Populismusforscherin Karin Priester auf einen »ethischen Marktradikalismus« hinausläuft.

Dass sich die Neue Rechte kaum für den »Seufzer der bedrängten Kreatur« (Marx) interessiert, dürfte indes nicht überraschen. Im Vorwort des Bandes heißt es ausdrücklich, dass sich nicht der Mensch, sondern ein »zeitloses Ideal, das über Klassen, Parteien und anderen mechanischen Konflikten steht«, im organischen Strukturzentrum des rechten Gesellschaftsbilds befinde. »Wo das Gemeinwohl im Vordergrund stehen soll, kann nicht fortwährend in einem von der Zeit überholten binären Klassensystem gedacht und gekämpft werden.« Kaiser wiederholt in anderen Texten unumwunden die neoliberalen Slogans von »falschen Umverteilungsansätzen und fehlender Steuergerechtigkeit«.

Dass die realisierte Möglichkeit des Stalinismus ebenso wie Faschismus und Nationalsozialismus keine Fragen der politischen Lageridentität sind, derer man sich qua Bekenntnis entledigen kann, sondern ein immanentes Theorieproblem für jedes kritische Denken, will der rechte, dogmatisch-unorthodoxe Geschichtsrevisionismus in seiner Abwehr historischer Erfahrungen nicht wissen.

Die Neue Rechte liest Marx nicht als unversöhnlichen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als Entfremdungstheoretiker und Kulturpessimisten. Dabei legen Benoist und Fusaro durchaus ein hohes Niveau an den Tag, benennen die Warengesellschaft als »soziale Fabrik«, die Warenform als sie »strukturierende soziale Beziehung« und warnen vor dem Kurzschluss, die strukturelle Finanzkrise als Ergebnis von Spekulation misszuverstehen. Ihre Bibliographie führt wertkritische Schriften von Robert Kurz, Anselm Jappe, Moishe Postone und Alfred Sohn-Rethel auf, während Kritische Theorie und Psychoanalyse ein rotes Tuch bleiben. Auch das hat Gründe. Der auf den Sozialcharakter der bürgerlichen Subjekte fokussierte Freudomarxismus, der die gesellschaftliche Beschädigung der Menschen zum Gegenstand hat und auf ihre Versöhnung in vernünftigen Verhältnissen hofft, ist unvereinbar mit einer pessimistischen konservativen Anthropologie, die den Menschen als Naturwesen festschreibt und wie Fusaro eine »neue Ontologie des gesellschaftlichen Seins« formulieren will. Die »konservative Revolution« ist bescheiden: Sie will keine andere Gesellschaft und keinen neuen Menschen, sondern das Ende der gesellschaftlichen »Entfremdung« und mit Ernst Jünger »die maßlose und unberechenbare Konkurrenz zurückführen auf eine natürliche Konkurrenz, wie sie innerhalb der Naturreiche oder historisch gewordener Gesellschaftszustände zu beobachten ist«.

Derart nimmt sie Marx genau jenen kritischen Stachel, den die historische Kritik am orthodoxen Marxismus immer wieder geschärft hat. Sie rezipiert Wertkritik ohne Staatskritik, spricht vom Warenfetisch, ohne dass der Antisemitismus auch nur als Begriff auftaucht, formuliert eine Kritik des Spektakels und der Konsumgesellschaft ohne Psychoanalyse und entwendet die Terminologie der Kulturindustriekritik, ohne das ihr inhärente Konzept des Ich-schwachen, autoritären Charakters und seinen Hang zur populistischen Ansprache einzubeziehen. Die rechte Marxlektüre lehnt es ab, aus dem historischen Scheitern der linken Revolutionshoffnungen zu lernen, weil dieses Scheitern aus ihrer Sicht keine Tragödie ist. So zeigt sich die konsequente Geringschätzung der theoretischen Selbstreflexion in der Anmaßung Kaisers, dass die Rechte im Gegensatz zur Linken unvoreingenommen an Marx herantreten könne, weil sie für Stalin, Mao und Pol Pot keine geistige Rechenschaft ablegen müsse. Dass die realisierte Möglichkeit des Stalinismus ebenso wie Faschismus und Nationalsozialismus keine Fragen der politischen Lageridentität sind, derer man sich qua Bekenntnis entledigen kann, sondern ein immanentes Theorieproblem für jedes kritische Denken, will der rechte, dogmatisch-unorthodoxe Geschichtsrevisionismus in seiner Abwehr historischer Erfahrungen nicht wissen.

Dabei hat es einen unorthodoxen »Marx von rechts«, also angereichert mit Tradition, Nationalismus, Religion und Paranoia, in den dreißiger Jahren schon einmal gegeben. Für die aktuelle Neuauflage des wichtigsten Erziehungsromans dieser stalinistischen Modernisierungszeit, »Wie der Stahl gehärtet wurde«, hat Kaiser übrigens ein anerkennendes Vorwort geschrieben. Er erklärt darin den Protagonisten Pawel Kortschagin zum Antipoden der hedonistischen Konsummonaden unserer Tage und zum Vorbild für heroische Konservative. Die »revolutionäre Realpolitik von rechts«, die er an anderer Stelle auslobt, hätte dem Generalissimus des »dialektischen Materialismus« sicher gefallen. Genosse Stalin zeigte höchstselbst ein Gespür für neurechte Erzählungen avant la lettre. Was ist davon zu halten, dass seine Schlussrede über die Mängel der Parteiarbeit auf dem Plenum des Zentralkomitees, das den »Großen Terror« absegnete, auf jenen Mythos rekurrierte, der Kubitscheks Verlag Antaios seinen Namen gibt? Stalin: »Ich denke, die Bolschewiki erinnern uns an den Heros der griechischen Mythologie, Antaios. Ebenso wie Antaios sind sie dadurch stark, dass sie die Verbindung mit ihrer Mutter, mit den Massen, aufrechterhalten, die sie erzeugt, genährt und erzogen haben. Und solange sie die Verbindung mit ihrer Mutter, mit dem Volke aufrechterhalten, haben sie alle Aussicht, unbesiegbar zu bleiben.« Der ruchlose Wille zum Sieg steht am Anfang jedes neurechten Bekenntnisses, hernach folgt nur noch Nützlichkeitsdenken.