Schlag gegen erfolgreiche Integration
Riace ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Die Fernzüge aus dem Norden enden im kilometerweit entfernten Reggio Calabria. Dennoch versammelten sich am Wochenende mehr als 5 000 Menschen in dem Bergdorf an der ionischen Küste in Süditalien und skandierten: »Riace lässt sich nicht aufhalten!« Auch in Mailand, Genua und Turin versammelten sich Tausende unter diesem Slogan und demonstrierten ihre Solidarität mit Domenico Lucano. Der Bürgermeister der Gemeinde Riace steht seit Anfang des Monats unter Hausarrest. Ihm werden die »Begünstigung illegaler Einwanderung« und die »widerrechtliche Direktvergabe öffentlicher Aufträge« zur örtlichen Müllentsorgung vorgeworfen. Der Beschuldigte selbst kommentierte gegenüber der Presse, ihm werde das »Verbrechen der Humanität« zur Last gelegt.
Bereits vor seiner Wahl zum Bürgermeister im Jahr 2004 hatte sich Lucano in seinem Heimatdorf dafür eingesetzt, dass leerstehende Häuser italienischer Auswanderer Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden. Das Experiment begann Ende der neunziger Jahre mit knapp 100 kurdischen Bootsflüchtlingen. In den folgenden Jahren wurde dank der Beseitigung des Leerstands und der Wiedereröffnung von traditionellen Kunst- und Handwerkstätten der historische Ortskern von Riace für Einheimische wie Neuankömmlinge wiederbelebt. Die Flüchtlinge machen inzwischen ein Drittel der gut 2 000 Einwohnerinnen und Einwohner Riaces aus.
Nur wenige Stunden nach Lucanos Verhaftung wertete Salvini in einem Tweet das Ermittlungsverfahren als gelungenen Schlag gegen »alle Gutmenschen, die Italien mit Immigranten überfluten möchten«.
Spätestens seit Wim Wenders Dokumentarkurzfilm »Il Volo« (Der Flug, 2010) ist das »Modell Riace« international bekannt, es wurde vielfach ausgezeichnet. Vor allem hat es Nachahmer gefunden. Die Gemeinden, die sich überregional im »Netzwerk solidarische Kommunen« zusammengeschlossen haben, erhalten für ihre Aufnahme- und Integrationsprojekte finanzielle Unterstützung im Rahmen des vom Innenministerium koordinierten »Systems zum Schutz von Asylsuchenden und Geflüchteten« (SPRAR). Erklärtes Ziel des Programms ist die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen und ihre soziale Integration in zivilgesellschaftlich organisierte Kooperativen zu gemeinnützigen Zwecken, die die kommunale Verwaltung über das SPRAR finanziert.
Bereits im Sommer 2016 geriet Lucano ins Visier der Präfektur, die über die ordnungsgemäße Umsetzung des SPRAR wacht. In zwei Berichten ist von »kritischen administrativen und organisatorischen Aspekten« zu lesen, von einer »extrem konfusen« Gesamtsituation. Tatsächlich hat Lucano Missstände und Schikanen der Migrationsgesetzgebung wiederholt öffentlich angeprangert und keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie auf kommunaler Ebene virtuos zu umgehen versuchte. Die Anklage fußt auf einem Mitschnitt eines Telefonats, in dem er über die Möglichkeit der Legalisierung des Aufenthalts einer Asylsuchenden durch Heirat spricht. Beweise dafür, dass Lucano Scheinehen arrangiert habe, wurden jedoch bisher nicht vorgelegt.
Schwerer als die juristischen Vorwürfe wiegt die politische Dimension des Vorfalls. Matteo Salvini, italienischer Innenminister und Parteisekretär der regierenden Lega, führt seit Monaten eine persönliche Kampagne gegen den rebellischen Bürgermeister. Nur wenige Stunden nach Lucanos Verhaftung wertete er in einem Tweet das Ermittlungsverfahren als gelungenen Schlag gegen »alle Gutmenschen, die Italien mit Immigranten überfluten möchten«. Carlo Sibilia, für den Movimento 5 Stelle (M5S) als Staatssekretär im Innenministerium tätig, sekundierte Salvini in einem Blogbeitrag: »Die Regierung des Wandels hat dem Business der Immigration den Krieg erklärt«, das von der Koalition vorgelegte »Sicherheitspaket« beende die Ära, in der dank Angestellter im öffentlichen Dienst die Immigration ein lukratives, kriminelles Geschäft gewesen sei. In Wahrheit wird das SPRAR durch das neue »Sicherheitspaket« weiter gekürzt zugunsten zentraler Masseneinrichtungen, in denen Flüchtlinge bis zu ihrer Anerkennung oder Abschiebung kaserniert werden können. In der Vergangenheit waren es die Betreiber der großen Massenlager, die der Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder überführt wurden, die die Staatsanwaltschaft Lucano ausdrücklich nicht vorwerfen kann.
Für seine verleumderischen Andeutungen erhielt Sibilia in den Kommentarspalten wütende Reaktionen, denn das »Modell Riace« steht für eine lokale, basisdemokratische Selbstverwaltung, die der M5S bisher zu unterstützen vorgab. Doch sind Sibilias Wortwahl und Verdächtigungen typisch für das M5S-Programm: Der stellvertretende Ministerpräsident Luigi Di Maio bezeichnete bereits im Wahlkampf 2017 die Rettungsschiffe als »Mittelmeertaxis«, die mit »Schlepperbanden« gemeinsame Sache machten. Entsprechende Ermittlungsverfahren der sizilianischen Staatsanwaltschaft wurden im Frühjahr mangels Beweisen eingestellt. Die Propaganda gegen die vermeintlich illegalen Geschäfte von Nichtregierungsorganisationen ging dennoch weiter. Auf Anordnung Salvinis ist es Rettungsschiffen seit August untersagt, italienische Häfen anzufahren.
Als Reaktion auf die italienisch-europäische Abschottungspolitik begann vergangene Woche die »Operation Mittelmeer«: Eine Gruppe von Intellektuellen, Kulturschaffenden und Abgeordneten hat mit Unterstützung einiger NGOs ein Schiff gechartert, um das Vorgehen der libyschen und europäischen Küstenwachen und das andauernde Sterben im Mittelmeer zu dokumentieren. Die politische Herausforderung bestehe darin, schrieb der Migrationsforscher Sandro Mezzadra am Tag des Auslaufens der »Mare Ionio«, der Kriminalisierung von humanitären Einsätzen entgegenzutreten. Dass Lucano unter Hausarrest gestellt wurde, und das am Vortag des fünften Jahrestags des Schiffsunglücks vom 3. Oktober 2013, bei dem wenige Meilen vor Lampedusa mehr als 350 Schiffbrüchige ertrunken waren, lädt dazu ein, die Herausforderung nicht nur auf See, sondern auch auf dem Festland anzunehmen. Mit der Kriminalisierung des »Modells Riace« ist die Regierung von der Verweigerung der Aufnahme von Flüchtlingen zum Angriff auf erfolgreiche Projekte ihrer Integration übergegangen.