Die Proteste der »Gelben Westen« in Frankreich offenbaren eine Hegemoniekrise

Protest ohne Steuer

Die Proteste der französischen »Gelben Westen« offenbaren eine tiefe Hegemoniekrise. Ein Beitrag zur Debatte über die Bewegung.

Bereits Marx staunte im »18. Brumaire« über die »eigentümliche Physiognomie«, die Klassenkämpfe in Frankreich bisweilen besitzen. Er wäre dieser Tage wahrscheinlich nicht weniger verblüfft als damals. Zwar sind die Kostüme ­andere als in vergangenen revolutionären Krisen. Dennoch ist der neongelbe Umhang auch eine Parodie auf eine klare Frontstellung mit eindeutigen ­Gegensätzen und organisierter Interessensartikulation.

Anders gesagt, die wochenlangen Proteste der sogenannten Gelben Westen offenbaren eine Krise sozialer und politischer Zuordnungen, die die organisierte französische Linke immer mehr zum Zaungast gesellschaftlicher Aus­einandersetzungen macht. Diese Situation kommt nicht von ungefähr: In den vergangenen Jahrzehnten haben tiefgreifende Transformationspro­zesse den gesellschaftlichen Konflikten neue Formen gegeben.

So zeichnen sich die diesjährigen Herbstproteste zunächst einmal durch die Abwesenheit der Gewerkschaften aus. Mehr noch, die klassischen Organisationen der Lohnabhängigen haben Schwierigkeiten, überhaupt Position in der Auseinandersetzung zu beziehen. »Die Bewegung kam außerhalb der Betriebe und angesichts einer auf den ersten Blick von der Arbeitswelt losgelösten Frage (dem Benzinpreis) auf. ­Obwohl Lohnabhängige in ihr vorherrschen, ist die Bewegung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft verankert. Sie umfasst Chefs kleiner Unternehmen, Geschäftsleute und Handwerker und erinnert daher an eine poujadistische Revolte«, schreibt der Soziologe Karel Yon mit Bezug auf den von Pierre Poujade angeführten Korporatismus reaktionärer Kleinbürger der fünfziger Jahre, der als Vorläufer des rechtsextremen Front National gelten kann.

Es handelt sich bei den »Gelben Westen« nicht um einen Aufstand von Rassisten und Nationalisten, wenngleich es ein paar unangenehme Zeit­genossen unter den Akteuren der Bewegung gibt. Diese könnten durch eine Radikalisierung der Revolte durchaus zurückgedrängt werden. Das wird aber weder durch insurrektionalistischen Aktionismus noch durch das vermeintlich ideologiekritische Abkanzeln vom Schreibtisch aus geschehen.

Die durch die Bewegung der »Gelben Westen« deutlich gewordenen Probleme der französischen Gewerkschaften liegen jedoch tiefer. Die großen Streikbewegungen der Transportarbeiter, Studierenden und Postbediensteten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben einen neuen Zyklus sozialer Kämpfe eingeleitet. Infolge neoliberaler Politik besonders prekarisierte Beschäftigtengruppen finden sich nicht mehr in den Gewerkschaften wieder – zumindest nicht in den etablierten Organi­sationen, denn zugleich ist der basisdemokratische Zusammenschluss ­Sud-Solidaires entstanden.

Allerdings konnte dieser das Problem der fortschreitenden Desorganisation der Lohnabhängigen in Frankreich nur teilweise beheben. Aus den vielen, die weiterhin isoliert sind, rekrutiert sich ein großer Teil der »Gelben Westen«. Zu deren sozialer Zusammensetzung liegt nun eine erste wissenschaftliche Studie vor, die von einer Gruppe von Soziologinnen und Politikwissenschaftlern erstellt und am 12. Dezember in Le Monde veröffentlicht wurde. Die »noch sehr vorläufigen Ergebnisse« der Studie zeigen, dass die Bewegung vor allem von einfachen Angestellten getragen wird: Sie sind mit 44,7 Prozent überproportional zu ihrem Anteil an der erwerbstätigen französischen ­Bevölkerung (27,2 Prozent) vertreten. Hinzu kommt eine hohe Beteiligung von Nichterwerbstätigen, vor allem Rentnerinnen und Rentner.

Zur sozialstrukturellen kommt die geographische Dimension: Es waren in den vergangenen Wochen vor allem Menschen aus dem weiteren Umland der Großstädte und vom Land, die Kreisverkehre und Autobahnauffahrten besetzten. Diese Aktionsform selbst zeigt bereits, wie wenig präsent die ­Gewerkschaften in diesem Räumen sind. Versuche, die Bewegung durch Blockaden von Treibstoffdepots und Streikaktionstage stärker auf Betriebe zu fokussieren, haben bisher nicht den erhofften Erfolg gehabt. »Die vorherrschende Haltung der Gewerkschaftsbewegung bleibt vielmehr die Unterstützung aus der Ferne«, spitzt Yon daher zu.

Auch auf politischer Ebene illustriert die Bewegung der »Gelben Westen« ­anhaltende Desorganisationsprozesse. So waren es in Frankreich historisch die Kommunistische und die Sozialistische Partei, die viele der ökonomisch Ausgebeuteten und Unterdrückten politisch repräsentierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg vereinigte die Kommunistische Partei die Hälfte der Stimmen der Arbeiterinnen und ein gutes Viertel derer der Angestellten auf sich; 1951 stimmten für die sozialistische Partei 15 Prozent der Arbeiterinnen, elf Prozent der Angestellten und 33 Prozent der Staatsbediensteten.

Diese Situation hat sich in den folgenden Jahrzehnten radikal verändert. Vor allem die Kommunistische Partei hat seit den fünfziger Jahren sukzessive den Kontakt zu einer sich insbesondere durch nordafrikanische Immigration ausdifferenzierenden ­Arbeiterklasse verloren. Die Unfähigkeit, nichtrassis­tische soziale Repräsentationsformen für die französische Einwanderungs­gesellschaft zu entwickeln, und die Thematisierung von Migration als soziale Konkurrenz hatten daran entscheidenden Anteil.

Die jüngste große soziale Bewegung extrem marginalisierter Bevölkerungsteile stellten in Frankreich die Vorstadtrevolten vom Herbst 2005 dar. Wie die der »Gelben Westen« nahmen sie keine etablierten politischen Artikulationsformen an. Aktivisten aus den migrantisch geprägten Vorstädten, wie etwa das Comité Adama, eine vor zweieinhalb Jahren anlässlich des Todes eines schwarzen Jugendlichen bei seiner Festnahme durch die Polizei gegründete Gruppe, sehen daher Gemeinsamkeiten und haben in den vergangenen ­Wochen mehrfach zu Protesten aufgerufen. »Wie wir«, gibt der Sprecher der Gruppe, Youcef Brakni, in einem Interview zu den »Gelben Westen« zu Protokoll, »kommen sie von der Basis, aus Personengruppen, die nicht unbedingt in politischen Parteien oder Gewerkschaften organisiert sind. Ferner stellen sich in den Arbeitervorstädten und bei den Gelben Westen die gleichen sozialen Fragen. Die Arbeitervorstädte bilden ebenfalls Enklaven (…). Sie sind mit den gleichen Transport- und Mobilitätsproblemen konfrontiert. Wir wissen auch um den großen Zeitaufwand, um zur Arbeit zu kommen, um die undankbarsten Arbeiten des Kapitalismus zu verrichten, und zwar für ein Elendsgehalt, das dann hauptsächlich für Benzin draufgeht.«

Doch nicht nur die Akteure der Bewegung dieses Herbstes, sondern auch ihre Forderungen passen nicht zu den Gewohnheiten der französischen ­linken Parteien, die das nun eröffnete Konfliktfeld der Steuerpolitik bisher weitgehend vernachlässigt haben. Steuern erschienen einseitig als Mittel der Umverteilung und die Proteste gegen sie wurden seit der sukzessiven Besteu­erung der Einkommen nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von Freiberuflern und Bauern angeführt. Heutzutage ist die Steuerfrage dagegen immer mehr zu einer Klassenfrage geworden, wie der Soziologe Alexis Spire in Le Monde ­diplomatique festhält: »Nachdem die Politik jahrelang die Eigentumsbildung förderte, haben sich (…) viele einkommensschwächere Haushalte für den Kauf der eigenen vier Wände verschuldet. Heute müssen sie die regelmäßigen Anhebungen der Grundsteuer verkraften, zu denen sich die Kommunen gezwungen sehen, um den Abbau der Transferzahlungen durch den Zentralstaat zu kompensieren. In vielen Gegenden rührt das Gefühl ungerechter Behandlung auch daher, dass die öffentliche Daseinsvorsorge immer schlechter und die Mobilität durch die Stilllegung von Eisenbahnlinien erschwert wird. Da die Land- und Stadtrandbewohner zumeist auf das Auto ­angewiesen sind, werden sie von den höheren Kraftstoffpreisen besonders hart getroffen.«

Es scheint gute Gründe zu geben, sich trotz der verworrenen Situation, die die Bewegung der »Gelben Westen« geschaffen hat, für deren emanzipatorische Zuspitzung einzusetzen – auch wenn die französische Linke in der ­Bewegung bisher keine Rolle spielt. So zeigt die bereits zitierte Untersuchung, dass lediglich 1,2 Prozent der Befragten angeben, sie würden mit ihren Blockaden gegen Immigration protestieren (noch hinter den drei Prozent, die mit ihren Aktionen den Umweltschutz fördern wollen). Andere Ergebnisse sprechen dagegen eine deutliche Sprache: 53 Prozent geben »Kaufkraftverbesserung«, knapp 42 Prozent Steuererleichterungen und circa 20 Prozent Reichtums­umverteilung als wichtigste Forderungen an. Und von den rund 61 Prozent, die sich in den Befragungen politisch einordnen, verstehen sich über zwei Drittel als links.

Kurzum: Es handelt sich bei den »Gelben Westen« nicht um einen Aufstand von Rassisten und Nationalisten, wenngleich es ein paar unangenehme Zeit­genossen unter den Akteuren der Bewegung gibt. Diese könnten durch eine Radikalisierung der Revolte durchaus zurückgedrängt werden. Das wird aber weder durch insurrektionalistischen Aktionismus noch durch das vermeintlich ideologiekritische Abkanzeln vom Schreibtisch aus geschehen. Beide Haltungen werden vielmehr die sozialen und politischen Desorgani­sationsprozesse der vergangenen Jahrzehnte weiter verstärken – und nicht erst seit Stuart Hall und Didier Eribon ist bekannt, dass diese Prozesse eine Entwicklung nach rechts begünstigten.

Daher wird es darauf ankommen, in einen Dialog mit den Akteuren der Herbstbewegung zu treten. Erst wenn sich progressive Kräfte zu den ihnen allenfalls von Wochenendausflügen oder Urlauben bekannten Kreisverkehren und Autobahnauffahrten begeben, wird eine neue linke Hegemoniepolitik Formen annehmen können. Nur sie könnte der »eigentümlichen Physiognomie« der derzeitigen Auseinander­setzungen klarere Konturen geben.