Hartz IV-Sanktionen

Der bewegte Mensch

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mauritius images / Natascha Römer

Selten bestätigen Gerichte die Rechtmäßigkeit einer Sanktion. ­Abgesehen davon, dass es ohnehin keine Vollbeschäftigung gibt, also immer mit Arbeitslosen zu rechnen ist, ist es ein Fehler, zu denken, dass jede Arbeit oder Beschäftigungsmaßnahme besser sei als Arbeits­losigkeit. Davon lenken die Sanktionen ab, weil sie das Vorurteil vom unwilligen Arbeitslosen nähren, der zu ­seinem Glück gezwungen werden muss. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge waren im Jahr 2017 38,3 Prozent der Widersprüche und 38,5 Prozent der Klagen gegen Sank­tionen mindestens teilweise erfolgreich. Oder anders gesagt: Ein nicht gerade kleiner Teil der verhängten Sanktionen war rechtswidrig verhängt worden. Auf diesem Niveau bewegt sich die Statistik der Widersprüche seit Jahren. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, weil längst nicht alle Betroffenen Widerspruch gegen die Sanktionen einlegen oder klagen.

Der Sanktion kommt in der asymmetrischen Machtanordnung im Jobcenter die Funktion des letzten Mittels zu. Die Vermittler inszenieren sich als Autorität: Sie laden zu den Terminen, sie steuern die Gesprächsführung, haben das Wissen und die Deutungsmacht über die Situation des Klienten, der zum Gehorsam verpflichtet ist.

Tatsächlich gehen die Sanktionen die gesamte Gesellschaft an, auch den gern herbeizitierten Steuerzahler, der meint, vom Hartz-IV-Bezug weit entfernt zu sein. Weil jeder Job bei Sanktionsandrohung zumutbar ist, kommt es zu Erosionseffekten bei den Qualifikationsanforderungen. Erst durch Hartz IV entstanden der Niedriglohnsektor und wurde die Leiharbeit, die Arbeitnehmer zweiter Klasse produziert, zum Massenphänomen.  Dass die ganze Gesellschaft unter Druck gerät, ist ebenso gewollt wie die existentiellen Not innerhalb des Hartz-IV-Komplexes. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen sollte die Einführung der Agenda 2010 steigern. Daumenschrauben wie die Zumutbarkeitsklauseln, jeden Job unabhängig von möglicher Überqualifikation anzunehmen, haben ihre Wirkung weit über den Kreis der Hartz-IV-Empfänger hinaus. Das Arbeits­losengeld, die Sanktionen und der Ersatzarbeitsmarkt erzeugen Druck auf Arbeitnehmer, auf ihre Löhne und die Sicherheit ihrer Beschäftigungsverhältnisse. »Gar nicht erst zum Amt müssen« – die Furcht vor dem Jobcenter treibt Menschen in miserable Arbeitsverhältnisse. Zudem wird mit dem Fingerzeig auf die Armen von der Frage abgelenkt, warum sie arm sind und es viel zu oft auch bleiben. Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe werden verhindert und gleichfalls Debatten darüber, wie eine Politik aussehen könnte, die die derzeitige Form des Sozialstaats nicht als Dogma hinnimmt.

Um die Vermittlung von Arbeit und den unsanften Druck, die Jobs auch anzunehmen, geht es bei Hartz IV aber nur bedingt, wie die kürzlich erschienene Studie »Folgsamkeit herstellen« nahelegt. Die Soziologin Bettina Grimmer durfte die Tätigkeit der Arbeitsvermittler und ihre Vermittlungsgespräche mit dem Blick der Ethnographin studieren. Sie beobachtete eine von Misstrauen geprägte Atmosphäre, in der die Vermittler versuchen, die Klienten in Unfähige und ­Unwillige einzuteilen. Zu ihrer Informationsgewinnung stehen ihnen eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verfügung, vom Zugriff auf die ­Datenbanken verschiedener Ämter bis zu Informationen von Ärzten, ­Sozialarbeitern oder detektivisch-schnüffelnd vorgehenden Jobcenter-Mitarbeitern, die die Nachbarschaft ausfragen. Welches Wissen die Jobcenter haben, erfahren die Klienten nicht, was ihr Unsicherheitsgefühl steigert. Die Strategie, halbwegs ­unbeschadet durch das Jobcenter-System zu kommen, besteht für die meisten Hartz-IV-Empfänger in der Anpassung, so Grimmer. »Dazu ­gehört in erster Linie, die behördliche Sicht auf Arbeitslosigkeit und Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und damit die individualisierende und ­defizitorientierte Perspektive – im Hinblick auf sich selbst – zu teilen.« Ein weiterer Effekt des Systems ist die Entsolidarisierung. Die verinnerlichte eigene Schuld an der persönlichen Lage wird auf andere Hartz-IV-Empfänger übertragen, ­ihnen wird ebenfalls eine rein individuelle Verantwortung für ihre Situ­ation und gegebenenfalls eine Sanktion zugeschrieben.

Der Sanktion kommt in der asymmetrischen Machtanordnung im Jobcenter die Funktion des letzten Mittels zu. Die Vermittler inszenieren sich als Autorität: Sie laden zu den Terminen, sie steuern die Gesprächsführung, haben das Wissen und die Deutungsmacht über die Situation des Klienten, der zum Gehorsam verpflichtet ist: Denn sonst droht die Leistungskürzung. »In ihrer Funktion als Angestellte der öffentlichen Verwaltung sanktionieren sie die Klienten und nutzen die Androhung von Sanktionen strategisch als Res­source, falls die Klienten nicht kooperieren«, schreibt Grimmer. »Kommen solche Themen zur Sprache, dann distanzieren sich die Arbeitsvermittler teilweise persönlich davon und stellen sie als gemeinsam zu ­er­ledigende Pflicht oder als notwendiges Übel dar.«

Die Sanktion wird systemisch ­gerechtfertigt, niemand kann ihr ent­gehen. Sie ist die drohende Konsequenz, wenn das Ziel der Behörde nicht erreicht wird: Folgsamkeit ­herstellen, sich fügen und alle Zumutungen hinnehmen. Dazu ist ein ­Arsenal situativer Zwänge installiert, mit der Sanktion als letztem Mittel drohend im Hintergrund. Um die ihnen mindestens latent unterstellte Arbeitsunwilligkeit von sich zu weisen, bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig, als eben diese Folgsamkeit an den Tag zu legen; sei es wirklich verinnerlicht oder gespielt aus strategischer Überlegung. Sie ­respektieren und reproduzieren damit die Macht der Vermittler und der Institution. Es sei paradox, »dass sich ihre Position im Gespräch verbessert, je mehr Macht sie den Arbeitsvermittlern durch unhinterfragte Folgsamkeit und die Preisgabe von Wissen überlassen«, so Grimmer.

Damit offenbart sich ein hinter der Sanktionslogik liegendes Ziel: das Verhalten zu ändern. Es geht im Jobcenter nicht allein um die Verwaltung von Arbeitslosigkeit, sondern weitreichender um Charakterformung und die Steuerung von Verhalten. Daraus erklärt sich das behörd­liche Beharren auf der sogenannten Mitwirkungspflicht, was zu einer perfiden Situation führt. Freiwillig unfreiwillig unterwirft sich der Hartz-IV-Empfänger dieser, weil ihm sonst die Existenzmittel entzogen werden. Und das ist über den Empfängerkreis hinaus das allgemeine ­Signal: Und bist du nicht folgsam, sanktionier’ ich dich halt. Der Hartz-IV-Komplex hat als neoliberales Projekt das übergreifende Organisationsziel, die Menschen auf die Logik des Marktes einzuschwören. Hier waltet eine flexible Regierungstechnik, die auf die individuelle Selbststeuerung abzielt. So wird erreicht, dass sich die Gemaßregelten lieber von einem Zeitarbeitsvertrag zum nächsten hangeln, als zum Jobcenter gehen zu müssen.