Hartz IV-Sanktionen

Der bewegte Mensch

Hartz IV hat nicht nur das Armutsrisiko von Erwerbslosen erhöht, sondern wirkt auch disziplinierend auf Beschäftigte.

Herr B. aus Nordrhein-Westfalen konnte Termine im Jobcenter nicht wahrnehmen, weil sie in seiner ­Arbeitszeit als Minijobber lagen. Er wies das zuständige Amt in Iserlohn auf die zeitliche Überschneidung hin, was das Jobcenter nicht daran hinderte, das Fernbleiben als wiederholte Pflichtverletzung zu deuten. Es verhängte mehrere Sanktionen in Folge, kürzte den Regelsatz schließlich auf null und strich sogar die Mietzahlung. Der Betroffene verlor seine Wohnung, nur die Hilfe von Freunden verhinderte, dass er obdachlos wurde. Jahre später befand ein Gericht die Sankti­onen gegen Herrn B. für rechtswidrig. Das Jobcenter musste die einbehaltenen Leistungen auszahlen. Über diesen Fall berichtete das ARD-Wirtschaftsmagazin »Plusminus«.

Nicht immer geht die Sache für die vom Jobcenter gestrafte Kundschaft so relativ glimplich aus. Was aber erhofft sich die Behörde davon, wenn sie Erwerbslosen die Existenzgrundlage entzieht und diese nicht mehr wissen, wie sie Nahrung, Strom und Miete bezahlen sollen? Sanktionen sollen eine erzieherische Wirkung auf den Arbeitssuchenden haben, Belege, dass das System funktioniert, fehlen aber. Immer ist die Verelendung einkalkuliert, wenn sich ­Betroffenen bei den Mahlzeiten einschränken, sich verschulden, im Dunkeln sitzen oder um ihre Wohnung fürchten müssen. Hartz IV soll eine Drohung sein, folglich darf diese keine leere bleiben. Sanktionen werden mit einem merkwürdigen Gerechtigkeitsverständnis begründet: Die »Solidargemeinschaft« könne Disziplin als Gegenleistung für die Gewährung des Arbeitslosengelds II erwarten. Immerhin schleppten sich die Steuerzahler jeden Morgen zur Arbeit. Dabei hilft es einem Arbeitnehmer freilich nichts, wenn seinem erwerbslosen Nachbarn die Unterstützung wegen zu weniger Bewerbungsschreiben gekürzt wird.

Überproportional häufig sind gering qualifizierte Personen von Sanktionen betroffen. Nachweislich hat das nichts damit zu tun, dass sie weniger motiviert wären oder sich dem Amt gegenüber störrischer zeigten. Sie überschauen das System Hartz IV nur schlechter und können sich oftmals nicht so gut erklären und verteidigen.

Hartz IV soll eine Drohkulisse für die gesamte Gesellschaft darstellen. Ständiger Druck soll auf das Heer derjenigen wirken, die angeblich zu ­wenig Eigeninitiative zeigen und deshalb gewisse »Bewegungsangebote« benötigen, ein Begriff, den die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt prägte.

Die vorgesehenen Leistungskürzungen am Existenzminum waren bereits bei der Einführung der Agenda 2010 umstritten. Dass der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder die Gesetze in der rot-grünen Koalition durchsetzen konnte, lag nicht zuletzt am Enga­gement der grünen Fraktionsvorsitzenden Göring-Eckardt, die die Agenda als einen »Frühling der Erneuerung« feierte, der dem »Gemeinwohl« zuträglich sei. Die Sanktionen seien ein »Bewegungsangebot« an die Betroffenen.

Seit der Durchsetzung der Agenda 2010 aber geht die Angst vor dem ­sozialen Abstieg auch in der Mittelschicht um. Hartz IV heißt, dass die Ursache für die eigene soziale Lage als persönliche Schuld individualisiert wird. Hartz IV könne jeden treffen, der sich nicht genügend anstrenge oder zu wählerisch auf dem Arbeitsmarkt sei, so die Botschaft. Hartz IV scheidet die Gesellschaft in einen abgesicherten und einen ­ausgeschlossen Teil, wobei die Gefahr, dem letzteren zuzufallen, vielen Menschen droht. Wird der Einzelne als derjenige betrachtet, der stets selbst für alles verantwortlich ist, was in seinem Erwerbsleben geschieht, ist es auch seine Aufgabe, seine berufliche Biographie zu managen – das Arbeitnehmerdasein wird zum Selbstmanagement und jeder ist sein eigener Unternehmer. Der Mensch soll sich evaluieren und Qualitätssicherung an sich selbst betreiben, wie Ulrich Bröckling es in seiner Studie »Das unternehmerische Selbst« formulierte: »Die Maxime ›Handle unternehmerisch!‹ ist der ­kategorische Imperativ der Gegenwart.«

Im Zweifel muss der Erwerbslose »aktiviert« werden – eine erwünschte Funktion von Hartz IV. Mit der »Aktivierung« entsteht das Bild von aktiven Erwerbstätigen und passiven Erwerbslosen. Sie werden zur Zielgruppe einer Politik des »Forderns und Förderns«.

Arbeitslosigkeit soll bekämpft werden, indem der Arbeitslose bekämpft wird. Der Hartz-IV-Empfänger wird individuell für seine Situation in Haftung genommen; er wird als arbeitsscheu, zu gering qualifiziert und zu unorganisiert dargestellt oder gleich als Angehöriger der Unterschicht diffamiert. Leistungsmissbrauch wird im großen Stil unterstellt, vielfach begleitet von medialen Kampagnen. So wächst die Zustimmung in der Gesellschaft für Maßnahmen, um das Verhalten Arbeits­loser minutiös zu kontrollieren und Fehlverhalten zu sanktionieren. Das kann weit bis ins Private reichen und Fragen der individuellen Lebensführung berühren.

Das Sozialstaatsgebot sieht einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen als Schutz vor Verelendung vor. Dass ein Erwerbsloser nicht verhungern und unter der Brücke wohnen muss, wird jedoch nicht als selbstverständliches Recht begriffen, sondern an Bedingungen, Gebote und Verbote geknüpft, denen volljährige Menschen unter Strafandrohung Folge zu leisten haben. Der sogenannte Regelbedarf – derzeit liegt das Arbeitslosengeld II für über 25jährige Alleinstehende bei monatlich 424 Euro – soll das staatlich zugestandene Existenzminimum abdecken. Dieses Existenzminimum wird angetastet, wenn das Jobcenter Sanktionen ­verhängt. Im mildesten Fall wird die Geldzahlung um zehn Prozent ­gekürzt, schlimmstenfalls wird die Unterstützung komplett gestrichen und die Mietzahlung eingestellt.

Anders als von vielen angenommen, greifen Sanktionen nicht bei Leistungsmissbrauch. Wer mit dem Porsche zum Jobcenter fährt und die 424 Euro im Monat gar nicht benötigt, begeht Betrug und wird nach dem Strafgesetzbuch verurteilt. Sanktioniert werden sogenannte Pflichtverletzungen. Das kann ein versäumter Termin sein, der Nichtantritt einer Trainingsmaßnahme oder das Verhalten eines Aufstockers am Arbeitsplatz, das zu einer Kündigung führt. Auch ein vom Arbeitgeber als schludrig empfundenes Bewerbungsschreiben kann dem Arbeitssuchenden als Pflichtverletzung ausgelegt werden und ihm eine mehrmonatige Kürzung einbringen. Damit greift das Sanktionsregime des Jobcenters unerbittlich in das Leben seiner »Kunden« ein. Im Alltag mündet das oft in eine Vielzahl bürokratischer Kleingefechte. Ein 22jähriger etwa wurde sanktioniert, nachdem er zu ­einer Weiterbildungsmaßnahme nicht erschienen war. Das Jobcenter kürzte seinen Regelsatz und die Wohnungskosten. Seine Mutter und sein jüngerer Bruder, mit denen er zusammenlebte, bezogen ebenfalls Hartz IV. Nun mussten sie für den gestrichenen Mietanteil aufkommen. Der Mutter sagte das Jobcenter, die Sanktion sei eine »erzieherische Maßnahme« für den Sohn. Das Bundessozialgericht schließlich widersprach dem Vorgehen und nannte es eine unzulässige Sippenhaftung. Tatsächlich greift das Motto »Fordern« im Zweifelsfall für die ganze Familie, selbst wenn die zur »Bedarfsgemeinschaft« gehörenden Kinder noch gar nicht arbeitssuchend sind. Um den hilfebedürftigen Status für die Familie zu beenden, wurden Schüler aufgefordert, mit der Mittleren Reife dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, statt mit dem länger dauernden Abitur abzuschließen.

Überproportional häufig sind gering qualifizierte Personen von Sanktionen betroffen. Nachweislich hat das nichts damit zu tun, dass sie weniger motiviert wären oder sich dem Amt gegenüber störrischer zeigten. Sie überschauen das System Hartz IV und ihre Rechte nur schlechter und können sich oftmals nicht so gut erklären beziehungs­weise verteidigen. Die angeblich pädagogische Verhaltenslenkung kann folglich gar nicht bei der Lebenssituation des einzelnen ansetzen, weil ­irrelevant ist, warum er vermeintlich nicht kooperiert. Familiäre Probleme, Schulden, Drogensucht oder eine psychische Erkrankung passen nicht in die Vorstellungswelt des Über­wachens und Strafens von Amts wegen. Wenn sich jemand dem Job­center entzieht, ist dafür keine Lösung vorgesehen.

Tatsächlich laufen die Sanktionen ins Leere, wenn ein Jobcenter nur Einladungen mit immer demselben Wortlaut verschickt und dann – bei Nichterscheinen beim Termin – Sanktionen ­verhängt. Das sehen auch Gerichte so. Beispiel: Ein Jobcenter verschickte innerhalb von acht Wochen sieben Einladungen an eine Hartz-IV-Empfängerin und kürzte wegen deren Nichterscheinens den Regelsatz siebenmal um zehn Prozent. Das Bundessozialgericht befand dies als ungerechtfertigt, weil damit nichts zur Wiedereingliederung der Klientin auf dem Arbeitsmarkt getan ­worden sei.

 

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mauritius images / Natascha Römer

Selten bestätigen Gerichte die Rechtmäßigkeit einer Sanktion. ­Abgesehen davon, dass es ohnehin keine Vollbeschäftigung gibt, also immer mit Arbeitslosen zu rechnen ist, ist es ein Fehler, zu denken, dass jede Arbeit oder Beschäftigungsmaßnahme besser sei als Arbeits­losigkeit. Davon lenken die Sanktionen ab, weil sie das Vorurteil vom unwilligen Arbeitslosen nähren, der zu ­seinem Glück gezwungen werden muss. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge waren im Jahr 2017 38,3 Prozent der Widersprüche und 38,5 Prozent der Klagen gegen Sank­tionen mindestens teilweise erfolgreich. Oder anders gesagt: Ein nicht gerade kleiner Teil der verhängten Sanktionen war rechtswidrig verhängt worden. Auf diesem Niveau bewegt sich die Statistik der Widersprüche seit Jahren. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, weil längst nicht alle Betroffenen Widerspruch gegen die Sanktionen einlegen oder klagen.

Der Sanktion kommt in der asymmetrischen Machtanordnung im Jobcenter die Funktion des letzten Mittels zu. Die Vermittler inszenieren sich als Autorität: Sie laden zu den Terminen, sie steuern die Gesprächsführung, haben das Wissen und die Deutungsmacht über die Situation des Klienten, der zum Gehorsam verpflichtet ist.

Tatsächlich gehen die Sanktionen die gesamte Gesellschaft an, auch den gern herbeizitierten Steuerzahler, der meint, vom Hartz-IV-Bezug weit entfernt zu sein. Weil jeder Job bei Sanktionsandrohung zumutbar ist, kommt es zu Erosionseffekten bei den Qualifikationsanforderungen. Erst durch Hartz IV entstanden der Niedriglohnsektor und wurde die Leiharbeit, die Arbeitnehmer zweiter Klasse produziert, zum Massenphänomen.  Dass die ganze Gesellschaft unter Druck gerät, ist ebenso gewollt wie die existentiellen Not innerhalb des Hartz-IV-Komplexes. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen sollte die Einführung der Agenda 2010 steigern. Daumenschrauben wie die Zumutbarkeitsklauseln, jeden Job unabhängig von möglicher Überqualifikation anzunehmen, haben ihre Wirkung weit über den Kreis der Hartz-IV-Empfänger hinaus. Das Arbeits­losengeld, die Sanktionen und der Ersatzarbeitsmarkt erzeugen Druck auf Arbeitnehmer, auf ihre Löhne und die Sicherheit ihrer Beschäftigungsverhältnisse. »Gar nicht erst zum Amt müssen« – die Furcht vor dem Jobcenter treibt Menschen in miserable Arbeitsverhältnisse. Zudem wird mit dem Fingerzeig auf die Armen von der Frage abgelenkt, warum sie arm sind und es viel zu oft auch bleiben. Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe werden verhindert und gleichfalls Debatten darüber, wie eine Politik aussehen könnte, die die derzeitige Form des Sozialstaats nicht als Dogma hinnimmt.

Um die Vermittlung von Arbeit und den unsanften Druck, die Jobs auch anzunehmen, geht es bei Hartz IV aber nur bedingt, wie die kürzlich erschienene Studie »Folgsamkeit herstellen« nahelegt. Die Soziologin Bettina Grimmer durfte die Tätigkeit der Arbeitsvermittler und ihre Vermittlungsgespräche mit dem Blick der Ethnographin studieren. Sie beobachtete eine von Misstrauen geprägte Atmosphäre, in der die Vermittler versuchen, die Klienten in Unfähige und ­Unwillige einzuteilen. Zu ihrer Informationsgewinnung stehen ihnen eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verfügung, vom Zugriff auf die ­Datenbanken verschiedener Ämter bis zu Informationen von Ärzten, ­Sozialarbeitern oder detektivisch-schnüffelnd vorgehenden Jobcenter-Mitarbeitern, die die Nachbarschaft ausfragen. Welches Wissen die Jobcenter haben, erfahren die Klienten nicht, was ihr Unsicherheitsgefühl steigert. Die Strategie, halbwegs ­unbeschadet durch das Jobcenter-System zu kommen, besteht für die meisten Hartz-IV-Empfänger in der Anpassung, so Grimmer. »Dazu ­gehört in erster Linie, die behördliche Sicht auf Arbeitslosigkeit und Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und damit die individualisierende und ­defizitorientierte Perspektive – im Hinblick auf sich selbst – zu teilen.« Ein weiterer Effekt des Systems ist die Entsolidarisierung. Die verinnerlichte eigene Schuld an der persönlichen Lage wird auf andere Hartz-IV-Empfänger übertragen, ­ihnen wird ebenfalls eine rein individuelle Verantwortung für ihre Situ­ation und gegebenenfalls eine Sanktion zugeschrieben.

Der Sanktion kommt in der asymmetrischen Machtanordnung im Jobcenter die Funktion des letzten Mittels zu. Die Vermittler inszenieren sich als Autorität: Sie laden zu den Terminen, sie steuern die Gesprächsführung, haben das Wissen und die Deutungsmacht über die Situation des Klienten, der zum Gehorsam verpflichtet ist: Denn sonst droht die Leistungskürzung. »In ihrer Funktion als Angestellte der öffentlichen Verwaltung sanktionieren sie die Klienten und nutzen die Androhung von Sanktionen strategisch als Res­source, falls die Klienten nicht kooperieren«, schreibt Grimmer. »Kommen solche Themen zur Sprache, dann distanzieren sich die Arbeitsvermittler teilweise persönlich davon und stellen sie als gemeinsam zu ­er­ledigende Pflicht oder als notwendiges Übel dar.«

Die Sanktion wird systemisch ­gerechtfertigt, niemand kann ihr ent­gehen. Sie ist die drohende Konsequenz, wenn das Ziel der Behörde nicht erreicht wird: Folgsamkeit ­herstellen, sich fügen und alle Zumutungen hinnehmen. Dazu ist ein ­Arsenal situativer Zwänge installiert, mit der Sanktion als letztem Mittel drohend im Hintergrund. Um die ihnen mindestens latent unterstellte Arbeitsunwilligkeit von sich zu weisen, bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig, als eben diese Folgsamkeit an den Tag zu legen; sei es wirklich verinnerlicht oder gespielt aus strategischer Überlegung. Sie ­respektieren und reproduzieren damit die Macht der Vermittler und der Institution. Es sei paradox, »dass sich ihre Position im Gespräch verbessert, je mehr Macht sie den Arbeitsvermittlern durch unhinterfragte Folgsamkeit und die Preisgabe von Wissen überlassen«, so Grimmer.

Damit offenbart sich ein hinter der Sanktionslogik liegendes Ziel: das Verhalten zu ändern. Es geht im Jobcenter nicht allein um die Verwaltung von Arbeitslosigkeit, sondern weitreichender um Charakterformung und die Steuerung von Verhalten. Daraus erklärt sich das behörd­liche Beharren auf der sogenannten Mitwirkungspflicht, was zu einer perfiden Situation führt. Freiwillig unfreiwillig unterwirft sich der Hartz-IV-Empfänger dieser, weil ihm sonst die Existenzmittel entzogen werden. Und das ist über den Empfängerkreis hinaus das allgemeine ­Signal: Und bist du nicht folgsam, sanktionier’ ich dich halt. Der Hartz-IV-Komplex hat als neoliberales Projekt das übergreifende Organisationsziel, die Menschen auf die Logik des Marktes einzuschwören. Hier waltet eine flexible Regierungstechnik, die auf die individuelle Selbststeuerung abzielt. So wird erreicht, dass sich die Gemaßregelten lieber von einem Zeitarbeitsvertrag zum nächsten hangeln, als zum Jobcenter gehen zu müssen.