Containern als Straftat

Mein Müll gehört mir

Wenn es um ihr Eigentum geht, kennen die Deutschen kein Pardon. Selbst ihren Müll verteidigen sie eisern. Auch gegen Menschen, die im Abfall nach Lebensmitteln suchen.
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Nicole heißt nicht wirklich Nicole. Aber in diesem Artikel möchte sie Nicole genannt werden, denn nach geltendem Recht ist sie eine Straftäterin. Tagsüber ist Nicole eine unauffällige Studentin mit guten Noten und einer netten WG. Doch des Nachts streifen sie und ein Kumpel sich dunkle Kapuzenpullover über, schultern leere Rucksäcke und schleichen im Schutz der Dunkelheit um Supermärkte herum. Dort durchsuchen sie Müllcontainer hinter den Läden nach Nahrungsmitteln, die die Supermärkte weggeworfen haben, ­obwohl sie noch essbar sind. »Obst, Gemüse, Joghurt, Backwaren, irgendwas findet sich fast immer«, berichtet Nicole. Weil die Kunden beispielsweise einen Sechserpack Äpfel nicht mehr kaufen, wenn einer der Äpfel einen braunen Fleck hat, landen immer wieder auch einwandfreie Lebensmittel im Container.

Laut einer Studie des WWF wird in Deutschland fast ein Drittel aller Lebensmittel nicht verzehrt.

Im Jargon der Szene heißen die Leute, die diese Schätze bergen, Essensretter. Bei den Einzelhändlern kursiert ein weniger schmeichelhafter Titel: Mülltaucher. Die deutschen Gesetze sind hier eindeutig und betrachten das Entwenden von Waren aus einem Müllcontainer als Diebstahl, vergleichbar dem Entwenden aus einem Ladenregal. Zu einer Anklage kommt es oft nur deshalb nicht, weil Marktbesitzer ihre Anzeigen zurückziehen. Für Aufsehen sorgte kürzlich der Fall von zwei Münchner Studentinnen. Sie hatten Gemüse, Säfte und Milchprodukte aus dem Container eines Edeka-Marktes geholt und wurden dabei von zwei Polizisten auf­gegriffen. Das Gericht verurteilte sie zu Strafen von jeweils 225 Euro auf Bewährung und acht Stunden Arbeit, ausgerechnet bei der örtlichen Tafel.

Inwiefern das Durchsuchen von Müllcontainern nach Essbarem tatsächlich eine Verletzung der kapitalistischen Eigentumsordnung darstellt, darüber herrscht in Europa keine Einigkeit. In der französischen Rechtsprechung etwa gilt Müll nicht als Eigentum – eine schlüssige, aber keineswegs selbstverständliche Einstufung. Meist ist die Rechtslage komplex und unklar. Die Internetseite Trashwiki.org bietet eine schöne Übersicht für Globetrotter, worauf beim dumpster diving in verschiedenen Ländern zu achten ist und wie die rechtliche Situation variiert.

Sanfte Revolutionäre

Wo das sogenannte Containern legal ist oder geduldet wird, herrschen keine chaotischen oder gewalttätigen Zustände auf den Hinterhöfen der Supermärkte. Zum Ehrenkodex der Freeganer, wie die Essensretter sich international nennen, gehört es, nicht wegzurennen, wenn man erwischt wird. Stattdessen soll man das Gespräch mit Polizisten oder Supermarktmitarbeitern suchen und sie über das Problem aufklären. So hat Nicole es auf einer Veranstaltung von Umweltschützern einst gelernt: »Nach dem Gesetz mag es nicht rechtens sein, aber moralisch ist es wichtig und richtig.«

Deshalb gibt es in der Szene noch weitere Regeln. Wenn man sich am Container trifft, soll geteilt werden und der Tatort soll so ordentlich verlassen werden, wie man ihn vorgefunden hat. »Wir wollen den Marktleitern ja nicht schaden«, betont Nicole. Sie und ihre Mitstreiter verstehen sich als sanfte Revolutionäre. Zumeist sind es nicht Armut oder Hunger, die sie zu den Mülltonnen treiben – es ist die Wut auf die herrschenden Zustände.

Je nachdem, welche Berechnung man heranzieht, werden in Deutschland elf bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen. Das ist nicht nur moralisch empörend, sondern auch ökologisch problematisch. Viele Ackerflächen könnten Naturschutzgebiete sein, wenn alle Agrarprodukte tatsächlich verzehrt würden. »Insgesamt trägt die Ernährung jährlich mit rund 1,75 Tonnen an klimarelevanten Emissionen pro Person zu den Treibhausgasemissionen durch privaten Konsum bei«, schreibt das Bundesumweltministerium. »Damit liegt sie fast in derselben Größenordnung wie bei den Emissionen durch Mobilität in Deutschland.«

Wer von der Biotonne nicht reden will, sollte vom SUV also schweigen. Laut der Studie des WWF »Das große Wegschmeißen« wird in Deutschland fast ein Drittel aller Lebensmittel nicht verbraucht. Eine effiziente Organisation der Nahrungsversorgung, die keine Lebensmittel in die Tonne schickt, könnte demnach die CO2-Emissionen erheblich vermindern.

Der Streit ums Eigentumsrecht

Der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) wollte es den Lebensmittelrettern leichter machen und das Containern legalisieren. »Es versteht kein Mensch, warum die Entnahme von Müll bestraft werden muss«, sagte er und hatte auch schon eine Idee, wie eine Legalisierung des Containerns funktionieren könnte. »Wenn ich einfach so irgendwas auf der Straße liegenlasse, dann gilt das Eigentum als aufgegeben«, sagte er im Interview mit dem Deutschlandfunk, »und diese Grenze kann man noch etwas weiter verändern und sagen, in dem Moment, wo ich das in meine Mülltonne tue und damit auch sage, ich will es nicht mehr haben, greift der Schutz des Eigentums nicht mehr, und dann ist es auch nicht mehr mein Eigentum, sondern das Eigentum ist aufgegeben.«

Den CDU-Kollegen von Till Steffen ging diese Aufweichung des Eigentumsrechts an Müll aber schon zu weit. Mit einer klaren Mehrheit lehnte die Justizministerkonferenz in Lübeck den Hamburger Vorschlag ab. »Wir wollen nicht, dass sich Menschen in eine solche menschenunwürdige und hygienisch problematische Situation begeben«, sagte der Sprecher der CDU-geführten Länder, Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow. Selbst schwarz-grün regierte Länder wie Hessen verweigerten dem grünen Justizsenator die Gefolgschaft.

Damit ist der Plan für eine Anpassung des Strafrechtes erstmal vom Tisch. In Hamburg möchte Senator Till Steffen nun einen Sonderweg gehen: »Wir wollen mit unserer Staatsanwaltschaft darüber reden. Sie hat nach der Strafprozessordnung die Möglichkeit, Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen«, sagte er dem Bayerischen Rundfunk. Ähnliche Regelungen kennt man beim Besitz geringer Mengen von Cannabis in einigen Bundesländern. Wenn das Hamburger Modell Schule macht, könnte eine schleichende Entkriminalisierung des Containerns, Bundesland für Bundesland, folgen.

Eigentum verpflichtet

Andere Staaten gehen einen anderen Weg, um das Wegwerfen von Lebensmitteln im Handel zu reduzieren. In Frankreich gibt es seit 2015 ein Gesetz, das alle Supermärkte ab einer Größe von 400 Quadratmetern verpflichtet, ihre Lebensmittelreste zu spenden oder anderweitig verwerten zu lassen. Diese Lebensmittel gehen dann an Wohltätigkeitsorganisationen ähnlich den Tafeln, werden als Dünger verwendet oder faulen in Biogasan­lagen zur Stromgewinnung. Eine ähnliche Regelung hat nun auch Tschechien eingeführt. Diese wurde vom tschechischen Verfassungsgericht bestätigt, mit einem expliziten Verweis auf das Prinzip »Eigentum verpflichtet« in der tschechischen Grundrechtecharta, ähnlich dem Artikel 14 im deutschen Grundgesetz. In den Niederlanden testet eine Supermarktkette automatische Preissenkungen für Frischeprodukte. Rückt das Verfallsdatum näher, werden sie um bis zu 60 Prozent bil­liger.

Doch selbst wenn es gelänge, die Verschwendung von Lebensmitteln im Einzelhandel komplett zu unterbinden, wäre das Problem in Deutschland noch lange nicht gelöst. Der WWF geht von 14 Prozent Verteilungsverlusten in Groß- und Einzelhandel (an den Gesamtverlusten bei der Lebensmittelproduktion) aus, schätzt den Anteil der Endverbraucher aber deutlich höher ein: 39 Prozent seien Konsumverluste.

Dazu zählt alles, was aus Kühlschränken und Küchen in den Müll wandert. Auch wenn die Freeganer lieber den Handel, die Industrie oder das System als Ganzes angreifen wollen – hier kommt es tatsächlich auch auf die einzelnen Privathaushalte an. Würde dort die Menge weggeworfener Lebensmittel auch nur halbiert, wäre mehr erreicht, als der Handel überhaupt schaffen kann. Das weiß auch Nicole. Deshalb wäscht sie beim Containern gefundenes Gemüse immer gründlich und kocht manchmal noch mitten in der Nacht ein, damit nichts verkommt. Das mag uncool klingen, aber: Resteküche ist Klimaschutz – und Resteküche is not a crime.