Seit den »Baseballschlägerjahren« der frühen Neunziger gab es eine Kontinuität rechtsextremer Gewalt

Baseballschläger zu Schusswaffen

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Dabei brauchte es in all den Jahren nie sonderlich viel politische Expertise, nur offene Augen, um die Problematik zu erkennen. Schon ein Reiseführer von 2006 aus der Reihe »Culture Shock!« betonte, es gebe unter den sogenannten Normalbürgern »leider eine beträchtliche Zahl, die weitgehend mit den Ansichten der Neonazis im Bezug auf Ausländer übereinstimmen«. Die politische Weigerung, dieser Tat­sache mit großangelegten Bildungs­offensiven und kontinuierlicher Förderung antifaschistischer Projekte zu ­begegnen, führte in vielen Regionen zur Verfestigung rechtsextremer Einstellungen. Als »geschlossene rechte Raumstrukturen« bezeichnete das kürzlich eine Studie des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ). Die Studie belegt auch die Relevanz dieser ideologischen »rechtsext­remen Landnahme« für den Wahlerfolg der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen im Oktober 2019.

Zu einem Umdenken in den selbsternannten »Parteien der bürgerlichen Mitte« werden diese Ergebnisse wohl leider nicht führen. Denn so wie man in den Neunzigern stets bemüht war, Naziangriffe zu »Auseinander­setzungen zwischen Rechts- und Linksextremen« umzudeuten, setzt sich mittlerweile die AfD-Propaganda von einer das Grundrecht auf Meinungs­freiheit einschränkenden Antifa immer weiter durch (Jungle World 44/2019). Dass damit nicht mehr nur bekennende Linksradikale diskreditiert werden, sondern das gesamte zivilgesellschaftliche Milieu gemeint ist, das sich als antifaschistisch begreift, ist zwar neu, aber nicht überraschend. Es ist die ­logische Konsequenz jenes fatalen Fehlschlusses aus den »Baseballschlägerjahren«, nach dem es keine Nazis gebe, wenn man sie nicht als solche benennt. Bis diese Nichtnazis nach ein paar Jahrzehnten dann eben überall in den Lehrerzimmern, Behörden, Redaktionen, Parteien und Landtagen sitzen und den Diskurs kontinuierlich weiter nach rechts verschieben. Bis es aus nahezu allen Medien tönt, dass man auch rechtsextreme Meinungen tolerieren müsse, und dass es ja vielleicht auch wirklich ein bisschen zu weit geht mit diesen Gendertoiletten, der Mig­ration und der ganzen political correctness. Und bis in einer Berliner Finanz­behörde beschlossen wird, der von KZ-Überlebenden gegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit zu entziehen. (Jungle World 49/2019).

Die Neunziger waren mithin nur der Auftakt für einen großen rechtsextremen »Marsch durch die Institutionen«, der noch lange nicht beendet ist und dem weiterhin mit Appeasement begegnet wird. Auch dass die Baseballschläger längst zugunsten von Schusswaffen beiseitegestellt wurden, gibt ­offenbar keinen Anlass, diese über Jahrzehnte internalisierte Strategie zu hinterfragen.

Ob nun mit Büchern oder Hashtags – das gesellschaftliche Langzeitgedächtnis zu stärken, ist aller Ehre wert. Aber wenn selbst ein Rechtsextremismusforscher wie Hajo Funke den Mord an Walter Lübcke in der Zeit als »ersten politischen Mord von ganz rechts« bezeichnet und kein Redakteur über diesen Hunderte von Opfern negierenden Lapsus stolpert, wird klar, dass das kollektive Vergessen genau wie das ­individuelle offenbar mit dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses beginnt.