In Frankreich könnte es wegen der geplanten Lockerungen der Maßnahmen gegen die Pandemie zu Streiks kommen

Der Preis des Protests

Ab kommenden Montag sollen in Frankreich die Maßnahmen gegen die Pandemie gelockert werden. Bildungsgewerkschaften wollen gegen Schulöffnungen streiken. Am 1. Mai wurden in Paris mehrere Demonstrationen aufgelöst.

Die Mehrheit der französischen Bevölkerung traut den Regierenden offenbar nicht zu, die ab kommendem Montag geplanten Lockerungen der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie angemessen vorzubereiten. Die Regierenden hingegen befürchten, unmittelbar nach Inkrafttreten der Lockerungen könnte es zu Streiks und Protesten kommen.

Einer am vorigen Wochenende von der Sonntagszeitung Le Journal du Dimanche veröffentlichten Umfrage zufolge vertrauen nur 39 Prozent der Bevölkerung auf die Fähigkeit der Regierung unter Präsident Emmanuel Macron, einen geordneten Ausstieg aus dem seit dem 24. März geltenden »gesundheitlichen Ausnahmezustand« zu organisieren. 20 Prozent der Befragten glauben, die rechtsextreme Oppositionspolitikerin Marine Le Pen würde es besser machen. Ebenfalls 20 Prozent halten den ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, 15 Prozent den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon für vertrauenswürdiger als die amtierende Regierung.

Weiter links stehende Gewerkschaften wie die CGT fordern Vorrang für den Gesundheitsschutz der abhängig Beschäftigten.

Streit gibt es unter anderem über die geplante Wiederaufnahme des Schulunterrichts. In Frankreich ruft dies erheblich mehr Ärger hervor als derzeit in verschiedenen deutschen Bundesländern. Das liegt nicht nur daran, dass in Frankreich bis zum 4. Mai mehr als 25 000 Menschen an Covid-19 gestorben waren, bei einer kleineren Bevölkerung mehr als dreimal so viele wie Deutschland. Am kommenden Montag sollen zuerst die Kindertagesstätten, Kindergärten und mehrere Grundschulklassen geöffnet werden – Einrichtungen für Kinder, denen es schwerfallen dürfte, Atemmasken auf dem Gesicht zu behalten und sich an Abstandsregeln zu halten. In der Mittelstufe soll Ende Mai der Unterricht wiederaufgenommen werden, in den Oberstufenklassen voraussichtlich im Juni. Die Universitäten sollen erst im September öffnen. Viele Französinnen und Franzosen meinen, bei der Schul- und Kitaöffnung gehe es nicht um pädagogische Erfordernisse wie das Vermeiden von Lernlücken, sondern darum, die Eltern von Erziehungserfordernissen freizustellen, um die Produktion wieder anzufahren.

Die Wiederaufnahme der Produktion »unter Eindämmung der gesundheitlichen Risiken« fordern der Arbeitgeberverband Medef und die beiden wohl am weitesten rechts stehenden französischen Gewerkschaftsdachverbände, die sozialliberal geführte CFDT und der christliche Gewerkschaftsverband CFTC. Weiter links stehende Gewerkschaften wie die CGT drohen mit Arbeitskämpfen, ­fordern Vorrang für den Gesundheitsschutz der abhängig Beschäftigten und kritisieren unter anderem, die Behörden seien nach wie vor unfähig, massenhafte Covid-19-Tests zu gewährleisten.

Das Unternehmen Amazon wurde in Frankreich vergangenen Monat in zwei Instanzen gerichtlich verurteilt, weil es nicht in der Lage war nachzuweisen, dass es seine Beschäftigten ausreichend schützt. Wegen der Mobilitätsbeschränkungen wurden mehr Bestellungen als sonst bearbeitet. Amazon behauptete, nur dringende Auf­träge auszuführen. Die Klägerpartei, der linke Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires, konnte in den Auftragslisten allerdings auch Videospiele, DVDs und Sexspielzeug nachweisen. Amazon wurde verurteilt, sich auf die Auslieferung von Nahrungsmitteln, medizinischen Artikeln und Schreibbedarf zu beschränken. Zudem soll das Unternehmen Risikoanalysen für die Arbeitsplätze der Beschäftigten vorlegen. Mitte April schloss das Unternehmen seine französischen Standorte. Inzwischen teilte Amazon mit, die Standorte blieben noch bis zum 8. Mai geschlossen. Bis zur Wiedereröffnung liefert der Konzern Bestellungen aus Frankreich aus dem europäischen Ausland.

Über elf Millionen Lohnabhängige bezogen Anfang dieser Woche Kurzarbeitergeld. Ab Anfang Juni sollen diese Arbeitsministerin Muriel Pénicaud zufolge jedoch den Anspruch auf Lohnersatzleistungen verlieren, weil Schulen und Kindergärten dann voraussichtlich wieder geöffnet sein werden. Einer Umfrage zufolge wollen derzeit 60 Prozent der Eltern ihre Kinder vorläufig nicht wieder in die Schule schicken. Bildungsgewerkschaften bereiten sich auf Streiks vor.

Am 1. Mai wurde vielerorts versucht, sozialen Protest auf die Straße zu tragen. Die rechtlichen Regelungen sind unklar. Einerseits sind Versammlungen verschiedener Art im öffentlichen Raum seit dem 17. März verboten, ab kommenden Montag sind lediglich Versammlungen von maximal zehn Personen zugelassen. Andererseits heißt es im Gesetz zum »gesundheitlichen Ausnahmezustand« vom 22. März, das Verbot gelte nicht, falls die Teilnehmenden mindestens zwei Meter Abstand hielten.

In Paris versuchte am Vormittag des 1. Mai eine kleine Gruppe von Personen zu demonstrieren. Alle Teilnehmenden wurden zwecks Personalienaufnahme vorübergehend festgenommen, gegen eine Teilnehmerin wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Am Nachmittag sollte vor dem Bezirksrathaus des 18. Arrondissements von Paris demonstriert werden. Ein großes Polizeiaufgebot zerstreute die Teilnehmenden eines berufsgruppen- und organisationsübergreifenden Streikkomitees. Dieses war im Januar im Kampf gegen die Rentenpläne der Regierung gebildet worden.

Einige der Teilnehmenden demonstrierten kurz darauf vor einem Krankenhaus am nördlichen Pariser Stadtrand, dessen Personal seit Monaten gegen schlechte Arbeitsbedingungen protestiert. Die Demonstrierenden erhielten pro Person zwei Strafzettel zu je 135 Euro wegen Verstoßes gegen das Versammlungsverbot. Im Pariser Vorort Montreuil unterband ein riesiges Polizeiaufgebot nicht nur eine Demonstration, sondern auch eine Essensausgabe der »Brigades de solidarité populaire«. Diese gingen aus dem Milieu der Autonomen hervor und versuchen, Hilfe für Bedürftige mit Agitation zu verknüpfen.