Thüringen prescht bei der Aufhebung von Pandemiemaßnahmen vor

Thüringen wird normal

Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) möchte in Thüringen viele der Maßnahmen zum Schutz vor Sars-CoV-2 aufheben. Kritiker halten das für voreilig. Andere spekulieren über das politische Kalkül hinter dem Vorschlag.

»Ab 6. Juni möchte ich den allgemeinen lockdown aufheben und durch ein Maßnahmenpaket ersetzen, bei dem die lokalen Ermächtigungen im Vordergrund stehen.« Mit dieser Aussage heizte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (»Die Linke«) die bundesweite Debatte über die Pan­demiemaßnahmen in der vergangenen Woche erneut an. Der ehemalige ­Gewerkschaftler begründete seine Entscheidung, die Kontaktbeschränkungen aufzuheben – einen umfassenden lockdown gab es in Deutschland nicht – mit den Infektionszahlen in Thüringen. Die Landesregierung gab an, dass sich in dem Bundesland seit Beginn der Epidemie 2 932 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert hätten, davon 122 Personen in den sieben Tagen vor dem 28. Mai. Zum Vergleich: Im Nachbarland Bayern infizierten sich bis zum 28. Mai 46 729 Personen, davon 625 Menschen in der Woche vor dem Stichtag.

Ernsthaftes Buhlen um Teilnehmer der Coronaproteste klingt anders als Ramelows Vorschläge – wie Sahra Wagenknecht kürzlich bewiesen hat.

In einem Beitrag auf seiner Website vom 23. Mai beschreibt Ramelow, wie er sich die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen vorstellt. So will er ­seinem Kabinett Vorschläge unterbreiten, wie bis zum 6. Juni auf allge­meine Schutzvorschriften verzichtet werden könnte. An die Stelle von Verboten ­sollen Gebote und selbstverantwortetes Maßhalten ­treten. Darüber ­hinaus soll die Pandemiebekämpfung vor allem auf regionaler Ebene stattfinden. Wenn in einer Region ein Grenzwert von 35 Infektionen pro 100 000 Einwohner überschritten wird, würde das Thüringer Gesundheits­ministerium auf den Plan treten und Unterstützungsmaßnahmen für die betroffenen Gebiete veranlassen, so Ramelow. Er könne sich mit diesen Maßnahmen auch eine umfassende Wiederaufnahme des regulären Kita- und Schulbetriebs vorstellen. Um dabei den Schutz vor Infektionen für ­Erzieher und Lehrer zu ­gewährleisten, will Ramelow 25 Millionen Euro für Tests auf Infektionen mit Sars-CoV-2 bereitstellen.

Nachdem der Thüringer Ministerpräsident seine Pläne öffentlich gemacht hatte, setzte scharfe Kritik ein. Harte Worte waren aus Bayern zu ­hören. Der dortige Innenminister Joachim Herrmann (CSU) bezeichnete ­Ramelows Vorschläge als »unverantwortlich«. Man werde nicht tatenlos zusehen, wie Ramelow große Erfolge im Kampf gegen das Virus zunichtemache, drohte Herrmann weiter. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach warnte im Gespräch mit der Rheinischen Post davor, dass mit der Entscheidung Thüringens ein Wettlauf der Bundesländer bei der Lockerung der Restriktionen einsetzen könnte.

Auch von Mitgliedern der eigenen Regierung wurde Ramelow kritisiert. So begrüßte Thüringens Wirtschaftsminister Wolfang Tiefensee (SPD) ­Berichten des MDR zufolge zwar die Lockerungen, zeigte sich aber skeptisch über den Zeitpunkt, an dem diese in Kraft treten sollen. Deutlich Heftigeres musste sich Ramelow von Katharina König-Preuß anhören, die für die Linkspartei im Thüringer Landtag sitzt. Auf Twitter schrieb sie, sie werde ­un­abhängig von den Infektionszahlen weiterhin für Maßnahmen plädieren, die die Ausbreitung von Sars-CoV-2 beschränken könnten. Sie halte es für ­einen Fehler, diese aufzuheben.

Unterstützung erhielt Ramelow von seinem Parteikollegen Dietmar Bartsch. Im Deutschlandfunk verteidigte der Co-Vorsitzende der Fraktion der Linkspartei im Bundestag den Minister­präsidenten damit, dass dieser die Maskenpflicht und Abstands­regeln nicht abschaffen, sondern lediglich das Maß der Auflagen regionalisieren wolle.

Angesichts der harten Kritik relativierte Ramelow seine Aussagen zwei Tage nach der Ankündigungen der Lockerung leicht. So sollen Berichten der Taz zufolge in Thüringen auch weiter ein Mindestabstand von anderthalb Metern und die Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes bei bestimmten Gelegenheiten vorgeschrieben sein. Auch solle es weiterhin landesweit verordnete Infektionsschutzregeln und Infektionsschutzkonzepte geben. Zugleich verteidigte Ramelow seinen Vorschlag. So sagte er Deutschlandfunk Nova, er habe die Kontaktbeschränkungen für sinnvoll gehalten, da die Verbreitung des Virus dadurch eingedämmt worden sei. Er wolle aber die allgemeinen Verordnungen auf­heben, die im Kern »Notstandsverordnungen« seien.

Angesichts des niedrigen Infektionsaufkommens in Thüringen müsse man dieser Tage entscheiden, ob man zu einer gewissen Normalität kommen könne. Zugleich betonte er, das Virus stelle immer noch eine Gefahr dar.

Dass der Thüringer Ministerpräsidenten mit seinen Vorschlägen weitere politische Ziele verfolgt, legte Christoph von Marschall in einem Kommentar im Tagesspiegel nahe. Er interpretierte die geplanten Lockerungen auch als einen Versuch Ramelows, Teilnehmer der Coronaproteste zurückzugewinnen, zumal auch Wähler der Linkspartei dazugehörten. Ramelows Vor­gehen sei ein »kluger Kampf gegen rechts«.

Tatsächlich lassen sich die »Coronarebellen« nicht ausschließlich dem rechtsextremen Milieu zuordnen (Jungle World 22/2020). Viele von ihnen gehören zur Wählerschaft etablierter Parteien und stören sich nicht daran, neben organisierten Neonazis zu demonstrieren, die die Demonstrationen zur Propaganda nutzen. Er habe »mit Sorge beobachtet«, schreibt Ramelow auf seiner Website, »wie Verschwörungstheorien um sich griffen, wie einige den Blick für ihren Nächsten ver­loren und nur die eigene, individuelle Lage im Blick hatten«. Solchen »Ent­solidarisierungstendenzen« will Rame­low eine »verantwortungsbewusste ­Solidarität« der Mehrheit der Bevölkerung entgegensetzen.

Ernsthaftes Buhlen um Teilnehmer der Coronaproteste klingt anders – wie Sahra Wagenknecht kürzlich bewiesen hat. Die ehemalige Bundestagsfraktionsvorsitzende der Linkspartei zog in der ARD-Sendung »Anne Will« einen Vergleich zum Umgang mit der Pegida-Bewegung: »Jeder, der Flüchtlingspolitik kritisch gesehen hat, wurde schnell in die Ecke ›Rechts­extremer‹ und ›Rassist‹ gestellt.« So etwas dürfe sich nicht wiederholen.