Adorno, ein Fan des Films

Bilderverbot und Bildersehnsucht

Gerne wird Theodor W. Adorno vorgeworfen, er habe die Massenkultur verachtet. Dabei erinnern seine Vorstellungen von moderner Kunst an den Film. Dritter Teil einer Serie zum 50. Jubiläum der Publikation von Adornos »Ästhetischer Theorie«.

Das Verhältnis der Kritischen Theorie zum Kino ist alles andere als konsistent. Es oszillierte zwischen der frühen Filmkritik Siegfried Kracauers, dessen späterem historiographischem Zugang, der revolutionären Kino­begeisterung Walter Benjamins, der häufig herbeizitierten Kritik Theodor W. Adornos und Max Horkheimers an der US-amerikanischen Kultur­industrie und Adornos spätestens ab den frühen sechziger Jahren erfolgender impliziter Anerkennung der ästhetischen Möglichkeiten des ­Kinos. Das Kino forderte die Kritische Theorie auf vielfältige Weise immer wieder heraus.

Bereits die dadaistische Proletarier-Comedy in den Filmen der Marx Brothers stieß bei Adorno und Horkheimer in den vierziger Jahren auf Bewunderung. Beide würdigten auch die großen US-amerikanischen Kinosäle als Zufluchtsort. So heißt es in der »Dialektik der Aufklärung«: »Der Hausfrau gewährt das Dunkel des Kinos (…) ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab, zum Fenster hinausblickte. Die Beschäftigungslosen der großen Zentren ­finden Kühle im Sommer, Wärme im Winter an den Stätten der regulierten Temperatur.«

Die dadaistische Proletarier-Comedy in den Filmen der Marx Brothers stieß bei Adorno und Horkheimer in den vierziger Jahren auf Bewunderung. Beide würdigten auch die großen US-amerikanischen Kinosäle als Zufluchtsort.

Das Verhältnis der Kritischen Theorie zum Film darf man sich als ­alternierende Parallelmontage zwischen journalistischer, wissenschaftlicher und praktischer Tätigkeit vorstellen. Tatsächlich gedachten Horkheimer und Adorno selbst, in Hollywood einen Aufklärungsfilm zur Kritik des Antisemitismus drehen zu lassen, für den Elia Kazan und Dalton Trumbo als mögliche Partner im Gespräch waren. Das Projekt kam aber über die Planungsphase nicht hinaus. Horkheimer verfasste überdies für das American Jewish Committee 1947 ein Gutachten zu Edward Dmytryks Kriminalfilm »Crossfire«, der antisemitische Einstellungen kritisch darstellte.

1967 reflektierte Adorno seine Thesen von der Kulturindustrie als Massenbetrug neu. Er musste zugestehen, dass die Kulturindustrie sich in ihrer ästhetischen und ideologischen Funktion so widersprüchlich verhält, wie es die Gesellschaft ist, auf die sie losgelassen wird. Adorno sprach der Kulturindustrie die Möglichkeit zu, ihren eigenen falschen Zwecken entgegenzutreten: »Sie enthält das Gegengift ihrer eigenen Lüge«, stellte er in seinem Essay »Filmtransparente« fest.

1970 posthum erschienen, markiert die »Ästhetische Theorie« den Schluss­akt jener Kritischen Theorie, der gleichermaßen von Bilderverboten und der Sehnsucht nach utopischen Bildern bestimmt war. Gerade im populären Kinofilm scheint sich ein neuer ästhetischer Horizont aufzutun. Mit Altersmilde hat das allerdings wenig zu tun. Noch immer urteilt Adorno hart über die ästhetische Moderne, wo sie sich folgsam in das gesellschaftliche Realitätsprinzip und seinen Betrieb eingliedert. Aber das Kriterium seiner Betrachtungen hat sich verändert, die starre Dichotomie zwischen »echter Kunst« und ideologischer Kulturindustrie besteht nicht mehr. Vielmehr entwickelte Adorno einen differenzierten Begriff der Massenkultur. In der ­»Ästhetischen Theorie« heißt es gleich auf den ersten Seiten: »Die von oben her gestellte Frage, ob ein Phänomen wie der Film noch Kunst sei oder nicht, führt nirgendwohin. (…) Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten.« Solche Invarianten wie Geniekult, betonter Künstlerhabitus oder würdevoller Ernst führen Adorno zufolge nicht zu einem unabhängigen Kunstwerk, sondern qualifizieren höchstens noch zur Gestaltung von Kriegerdenkmälern und Parkhäusern. Die gesellschaftliche Tendenz, der sich Kunst im Spätkapitalismus unterworfen sieht, ist ihr Warencharakter: »Verdinglicht sie sich nicht, so wird sie Ware«, sagt Adorno. Das ist das Geburtsmal der künstlerischen Moderne in der Massenkultur. Künstlerische Autonomie besteht daher niemals a priori. Sie muss dem Warencharakter permanent abgetrotzt werden und kann ihm doch nur opponieren, weil sie aus ihm entspringt. Das klingt nach Dilemma, ist aber als einzig verbleibender Ausweg zu verstehen. »Auf den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit reagiert Kunst nicht bloß durch konkrete Änderungen ihrer Verhaltens- und Verfahrensweisen, sondern indem sie an ihrem eigenen Begriff zerrt wie an einer Kette: der, dass sie Kunst ist.«

Solch eine freimütige Absage an das Prädikat der Kunst als Bedingung, sich aus dem Dickicht der ­Warenform befreien zu können, birgt nicht zufällig eine gewisse Komik. Adorno nennt diese vertrackte Situation so knapp wie humorvoll ein »Münchhausenkunststück«. Als Münchhausen im Morast zu versinken drohte, zog er bekanntlich sich selbst, samt seinem Pferd, am eigenen Haarzopf aus dem Sumpf. So führt das Bewegungsgesetz moderner Kunst geradewegs hinein in die Warenform, den Sumpf, um in der Metapher zu bleiben.

Das autonome Formgesetz künstlerischer Moderne stellt hier die Hand dar, die am Haarschopf den Menschen- und Pferdekörper aus ­eigener Kraft dem Morast entreißt. Künstlerische Form macht das ­ästhetische Rohmaterial des Kunstwerks seiner Warenform abspenstig. »Form wirkt als Magnet, der die Elemente der Empirie in einer ­Weise ordnet, die sie dem Zusammenhang ihrer außerästhetischen Existenz entfremdet.« Die Empirie deformieren, um neue, fremdartige Gebilde zu schaffen: Ein solche Proklamation prädestiniert ausgerechnet den populären Film, obwohl in der »Ästhetischen Theorie« nur ein Dutzend Mal erwähnt, zum Platzhalter für eine Kunst, die sich aus eigener Stärke der Warenform entzieht.

Das Kino ist eine technisch reproduzierbare Volkskunst. Seine historischen Vorgänger waren der Zirkus, das Varieté und der Jahrmarkt. Buster Keaton begann seine Karriere noch im Varieté. Während Adorno in der »Ästhetischen Theorie« nur selten auf das Kino zu sprechen kommt, wird er nicht müde, immer wieder zu ­betonen, dass es sich bei Zirkusakrobatik und Clownnummern um tatsächliche Urbilder formalästhetischer Autonomie handelt. Nicht nur hat ein autonomes Konstruktionsprinzip in der Kunst sein »Korrelat an dem Element des Albernen und Clownshaften«, Adorno wird noch deutlicher: »Auf dem obersten Formniveau wiederholt sich der verachtete Zirkusakt: die Schwerkraft besiegen; und die offene Absurdität des Zirkus: wozu all die Anstrengung, ist eigentlich schon der ästhetische Rätsel­charakter.« Das ist nicht weniger als eine genaue Beschreibung des kinematographischen Archetyps, der Slapstick-Comedy von Chaplin, Keaton und den Marx Brothers.

Eine der berühmtesten Szenen aus Charlie Chaplins Film »Modern Times« (1936) zeigt ihn am Fließband, er zieht Schrauben in immer schnellerem Tempo fest. Plötzlich scheint ihn das Fließband zu erfassen, oder vielmehr, er springt aus eigenem Antrieb darauf, sein Kollege ruft noch entsetzt »He’s crazy!«, aber da saust Chaplin schon mit tänzerischer ­Anmut zwischen den Zahnrädern umher. Als er wieder aus dem Schlund der Maschine auftaucht, ist er wie durch ein Wunder unversehrt. Mitte der dreißiger Jahre wuchs der Druck auf Chaplin, zu einem glatteren Tonfilmstil überzugehen. Den Vorgaben scheinbar folgend, schuf Chaplin mit »Modern Times« und »The Great Dictator« zwei surrealistisch improvisierte Hybridfilme, die stumme Pantomime und dadaistische Nonsenssprache vermischten.

Die Marx Brothers verwandelten in »A Night at the Opera« eine Opernpremiere in eine lustvolle Party irgendwo zwischen Baseballspiel, ­Kinosaal und Saloon. Buster Keaton bastelte in seinen Filmen derweil ­geheimnisvolle Apparaturen, deren Bestandteile ihrer technischen Funktion entfremdet wurden, die aber dadurch plötzlich viel besser funktionieren. Die Schwerkraft besiegen, das ästhetische Rohmaterial von unten nach oben neu arrangieren, zuletzt die offenbare Absurdität der zweckbefreiten Bewegung filmischer Körper und Objekte – das ist materialistische Filmästhetik und zugleich die Utopie einer Gesellschaft, die der jetzigen grundlegend entgegensteht.

»Als ästhetisches Phänomen kennzeichnet das Formlose den Film«, konstatiert die Filmwissenschaftlerin und Adorno-Schülerin Heide Schlüpmann in ihrem Buch »Öffentliche Intimität« von 2003. Mitnichten hat man es im Kino mit einem zurichtenden Dispositiv oder einem patriarchalen Blickregime zu tun, sondern vielmehr mit deren Auflösung. Ein Kinofilm besteht nicht nur aus formbefreiten Körpern und zweckbefreiten Handlungsabläufen. Die Einstellungen des Films, die kontinuierlich aneinander anschließen, ­setzen sich in der Montage auch fortwährend gegeneinander ab. Jede ­Einstellung tritt damit in Widerspruch zur vorangegangenen, jeder Schnitt wird zum Umsturz. Wo der Film – man spricht nicht ohne Grund von ­movies – sein Material auf solche Weise in tanzende Bewegung setzt, sind auch zum Tanzen gebrachte gesellschaftliche Verhältnisse nicht mehr fern.

Im akademischen Betrieb fanden diese Gedanken keinen Widerhall. Anstatt auf den »unbenannten Konnex Adornos Theorie mit der Massenkultur« einzugehen, wie Schlüpmann schreibt, setze sich seit den siebziger Jahren eine »affirmative Medienwissenschaft« durch, die sich begierig auf Lacan, Foucault und Derrida stürzte. Doch Adornos Sprache war eine, die »unermüdlich Bilder produziert«, wie die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch es einmal ausdrückte. Seine ästhetische Theorie ist dem Kino so sehr verpflichtet, dass sie selten von ihm spricht.