Untersuchungsbericht über Antisemitismus in der britischen Labour-Partei

Belästigt und diskriminiert

Ein offizieller Untersuchungsbericht wirft der Labour-Partei vor, nicht ausreichend gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen vorgegangen zu sein und rechtswidrig gehandelt zu haben. Die Parteimitgliedschaft des ehemaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn wurde suspendiert.

Die britische Equality and Human Rights Commission (EHRC) hat eine niederschmetternde Bilanz der Antisemitismusaffäre in der Labour-Partei gezogen. In einem Ende vorigen Monats veröffentlichten Untersuchungsbericht wirft sie Labour direkte und indirekte Diskriminierung sowie schwerwiegende Mängel in Hinblick auf Beschwerde- und Disziplinarverfahren wegen Antisemitismus vor. Im Vorwort schreibt die Interimsvorsitzende der EHRC, Caroline Waters, diese Faktoren hätten zu einem »Zusammenbruch des Vertrauens zwischen der ­Labour-Partei, vielen ihrer Mitglieder und der jüdischen community« geführt.
Das britische Parlament hatte 2006 ­beschlossen, die EHRC als Antidiskriminierungsbehörde einzurichten; diese nahm 2007 ihre Arbeit auf. Sie wird von der Regierung finanziert, ist aber formell unabhängig.

Die EHRC hatte die Untersuchung im Mai 2019 angekündigt, nachdem die NGO Campaign against Antisemitism (CAA) und das Jewish Labour Movement (JLM), die offizielle Vertretung jüdischer ­Labour-Mitglieder, Beschwerde eingereicht hatten. Die Ankündigung sorgte unter anderem deshalb für Aufsehen, weil bis zu diesem Zeitpunkt nur eine einzige andere Partei Gegenstand einer EHRC-Untersuchung geworden war: 2009 verklagte die EHRC die rechtsextreme British National Party (BNP), weil deren Statuten Nichtweiße von der Parteimitgliedschaft ausschloss.

Überraschend war die Ankündigung nicht. In den vergangenen Jahren hatte eine Vielzahl an Vorfällen und Skandalen für eine anhaltende öffentliche Debatte über – insbesondere israelbezogenen – Antisemitismus in der Labour-Partei ­gesorgt. JLM und CAA reichten bei der EHRC mehr als 220 Beschwerdefälle aus dem Zeitraum 2011 bis 2019 ein. Offizielle Parteiangaben deuten ebenfalls auf ein ernsthaftes Problem hin. Im vergangenen Jahr dokumentierte die Partei 773 antisemitische Vorfälle, suspendierte 296 Mitglieder und schloss 45 aus. 75 Mitglieder entzogen sich möglichen Sanktionen, indem sie aus der Partei austraten.

Nicht nur prominente Parteimitglieder, sondern auch bekannte Weggefährten Jeremy Corbyns, der von 2015 bis 2020 Parteivorsitzender war, wurden infolge Disziplinarverfahren wegen Antisemitismus sanktioniert. Zu ihnen gehören Ken Livingstone, ehemals Bürgermeister Londons, Chris Williamson und Peter Willsman, die in den vergangenen Jahren Mitglieder des Labour-Parteivorstandes (National Executive Committee) waren; ihre Parteimitgliedschaft wurde auf ­unbestimmte Zeit suspendiert. Das Disziplinarverfahren gegen Willsman, der auf der Website der Labour-Partei weiterhin als Vorstandsmitglied geführt wird, ist Medienberichten zufolge noch nicht abgeschlossen. Livingstone und Williamson sind vor Abschluss des Verfahrens aus der Partei ausgetreten. Jackie Walker, die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Basisbewegung Momentum, die Corbyn unterstützte, wurde aus der Partei ausgeschlossen.

Corbyn pflegte vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden Kontakte zu den islamistischen Terrororganisationen Hamas und Hizbollah und trat mehrmals im iranischen Staatsfernsehsender Press TV auf. Außerdem wurde ihm wiederholt vorgeworfen, das Ausmaß von linkem Antisemitismus kleinzureden und jüdische Perspektiven zu ignorieren. In einer im Juli 2019 ausgestrahlten BBC-Dokumentation werfen ehemalige Parteimitarbeiter Corbyns Büro vor, in laufende Disziplinarverfahren beschwichtigend oder hemmend eingegriffen zu haben.

In politischer Hinsicht blieb die EHRC-Untersuchung beschränkt. Es ging nicht darum, das Ausmaß des Antisemitismus in der Partei einzuschätzen und zu untersuchen, inwieweit dieser institutionalisiert ist. Die Hauptauf­gabe bestand darin, nach rechtswidrigen Formen antisemitischer Diskriminierung und Belästigung zu suchen und zu bewerten, ob die Partei angemessen auf diese reagiert hatte. Als rechtswidrig gilt eine Verhaltensweise, die nicht durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist, da sie die Würde einer anderen Person verletzt oder für diese eine »einschüchternde, feindliche, herabwürdigende oder beleidigende Umgebung« erzeugt, wie es in dem Bericht heißt.

Hierzu wurde eine Auswahl von 70 Beschwerdefällen untersucht. Der Bericht dokumentiert zahlreiche Beispiele für antisemitische Verhaltensweisen und stuft mindestens 18 Fälle als potentiell gesetzwidrige Belästigung ein. In zwei Fällen macht er die Labour-Partei sogar direkt für gesetzwidrige Belästigung verantwortlich, weil diese von offiziellen Parteivertretern ausging, die nachweislich im Namen der Partei handelten. Livingstone verteidigte im April 2016 einen antisemitischen Kommentar der Labour-Politikerin Naz Shah unter anderem mit der Bemerkung, diese sei einer Schmierenkampagne der »Israel-Lobby« ausgesetzt. Die Lokalpolitikerin Pam Bromley veröffentlichte im April 2018 unter anderem einen Facebook-Beitrag, in dem sie sich über den Einfluss der Familie Rothschild ausließ und nahelegte, das islamistische Attentat von Manchester 2017 sei von Premierministerin Theresa May eingefädelt worden. Der ­Bericht würdigt zwar verschiedene Reformbestrebungen der vergangenen Monate, spricht aber von einer »Kultur in der Partei, die im besten Fall nicht genügend tat, um Antisemitismus zu verhindern, und für die im schlimmsten Fall gelten könnte, dass sie diesen akzeptierte«.

Corbyn schrieb in einer Stellungnahme, er akzeptiere »nicht alle« Ergebnisse des Berichts. Weiter schrieb er: »Ein Antisemit ist einer zu viel, aber das Ausmaß des Problems wurde aus ­politischen Gründen auch dramatisch übertrieben von unseren Gegnern ­innerhalb und außerhalb der Partei sowie von vielen Medien.«
Seit der Ankündigung der EHRC-Untersuchung hat es Versuche gegeben, deren Seriosität in Frage zu stellen. In einem Anfang Juni veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenplattform Middle East Eye bezeichnete Corbyn die EHRC als »Teil der Regierungsmaschine«, der es an partei- und regierungspolitischer Unabhängigkeit mangele. Belege hierfür nannte er nicht.

Vermutlich bezog er sich auf eine laufende Diskussion über das Verhältnis von EHRC und Konservativer Partei. Im Mai hatte die EHRC entschieden, eine bereits angekündigte Untersuchung zu sogenannter Islamophobie bei den Tories abzusagen. Kritiker warfen der EHRC deshalb vor, bei Konservativen und Labour mit zweierlei Maß zu messen. Die EHRC erwiderte in einer Stellungnahme, eine Intervention sei derzeit nicht verhältnismäßig, da die Konservative Partei kurz zuvor eine eigenständige Untersuchung ange­kündigt hatte.

Tatsächlich war die EHRC im Falle der Labour-Partei ähnlich vorgegangen. Bereits 2016 hatte die Partei zwei eigene Untersuchungen zum parteiinternen Antisemitismus vorgenommen, doch hatte sich die Lage seither nicht verbessert. Die EHRC hatte Labour also ganze drei Jahre Zeit gelassen, das Problem in den Griff zu bekommen.

Der Unmut des Corbyn-Flügels richtete sich nicht nur gegen die EHRC, sondern auch gegen Personen, die sich öffentlich gegen Antisemitismus ausgesprochen hatten. Im April wurde bekannt, dass Corbyns Büro in den letzten Wochen von dessen Parteivorsitz, die im selben Monat endete, einen internen Bericht über das Beschwerde- und Disziplinarverfahren angefertigt hatte. Vermutlich sollte dieser Bericht dem restlichen Beweismaterial hinzugefügt werden, das die Partei der EHRC bereits übergeben hatte. Dies geschah letztlich nicht, doch eine unbekannte Quelle leitete den 850seitigen Bericht an Medien weiter.
Der Nachrichtenplattform Sky News zufolge stellt der Bericht die These auf, für die mangelhafte Aufarbeitung antisemitischer Vorfälle seien in erster Linie Corbyn-feindliche Parteifunktionäre verantwortlich gewesen. Sie hätten beständig versucht, das Beschwerde- und Disziplinarverfahren zu blockieren, um das Ansehen der Parteiführung zu beschädigen. Namentlich sollen einige der ehemaligen Parteimitarbeiter hervor­gehoben worden sein, die zur erwähnten BBC-Dokumentation beigetragen hatten. Seit diese ausgetauscht wurden, seien keine Mängel mehr festgestellt worden. Der Guardian berichtete, der damalige Parteianwalt Thomas Gardiner habe dem Bericht in einer E-Mail an die Generalsekretärin der Partei, Jennie Formby, attestiert, die Tatsachen verzerrend darzustellen, und von einer weiteren Verbreitung gewarnt.

Keir Starmer, der Corbyn am 4. April als Labour-Vorsitzender abgelöst hat, sprach in Hinblick auf die Veröffentlichung des EHRC-Berichts von einem »Tag der Schande für die Labour-Partei« und bezeichnete diejenigen in der Partei, die hinter Antisemitismusvorwürfen lediglich eine politische Schmierenkampagne wittern, als »Teil des Problems«. Kurz nachdem Corbyn seine Stellungnahme veröffentlicht hatte, wurde seine Parteimitgliedschaft suspendiert. Nun muss er sich zum ersten Mal einem Disziplinarverfahren stellen.

Die Labour-Partei muss der EHRC bis zum 10. Dezember einen Plan vorlegen, wie sie gegen das in dem Bericht monierte gesetzwidrige Verhalten vorgehen will. Bis dahin wird voraussichtlich die Causa Corbyn im Zentrum der Debatte bleiben. Corbyn kündigte an, seine Suspendierung anzufechten – und erhielt hierfür prominente Unterstützung. In einer Stellungnahme forderten 22 Mitglieder der Socialist Campaign Group, einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten der Labour-Partei, die Suspendierung Corbyns aufzuheben.

Unterzeichnet hat auch Rebecca Long Bailey, die selber eine wichtige Rolle in der Antisemitismusdebatte der vergangenen Monate gespielt hat. Im Juni verlor sie ihre Rolle als Schattenministerin für Bildung, da sie sich positiv auf ein Zeitungsinterview mit der Schauspielerin Maxine Peake bezoge hatte. Letztere verbeitet darin die antisemitische Verschwörungstheorie, die Tötung George Floyds sei auf den Einfluss ­israelischer Geheimdienste auf die Festnahmepraktiken US-amerikanischer Polizeibehörden zurückzuführen.