Der Kampf ist eröffnet
Während eine wirksame Eindämmung der Covid-19-Pandemie weiter auf sich warten lässt, hat der Kampf um die Verteilung der Krisenkosten längst begonnen. Ginge es nach den Unternehmen, sollten die vor allem die abhängig Beschäftigten tragen. Die Krisengewinne hingegen sollen in den Firmenkassen verbleiben. Das zeigt sich besonders deutlich an den derzeitigen Tarifauseinandersetzungen. In mehreren Branchen spitzen sich die Verhandlungen um Löhne und Arbeitsbedingungen zu und die Zahl der Arbeitsniederlegungen steigt.
Der Internetversandhändler Amazon ist zwar Mitglied im Arbeitgeberverband Handelsverband Deutschland, weigert sich jedoch, den von Verdi und dem Verband geschlossenen Tarifvertrag zu übernehmen.
Ende März platzte die vierte Verhandlungsrunde in der Papier, Pappe und Kunststoffe verarbeitenden Industrie. Die Vertreter des Hauptverbands Papier- und Kunststoffverarbeitung (HPV) weigerten sich an zwei Terminen dieser Runde, die mit der Gewerkschaft Verdi anberaumten Verhandlungen überhaupt zu beginnen. Wie schon im Rahmen der ersten Runde stellten die Arbeitgebervertreter die Verhandlungen unter die Bedingung, dass nicht gestreikt werde.
Während der bisherigen drei Verhandlungsrunden hatte Verdi auf Warnstreiks verzichtet, obwohl die Friedenspflicht Anfang Februar abgelaufen war. Während der Friedenspflicht müssen Gewerkschaften und Arbeitgeber Kampfmaßnahmen unterlassen. Seit Anfang März haben jedoch in mehreren Bundesländern etwa 3 00 Kolleginnen und Kollegen die Arbeit niedergelegt. Die Gewerkschaft wertet die verweigerte Aufnahme der Verhandlungen als »ein einseitiges Diktat«. »Es ist unfassbar, dass wir nun mit dem kleinen Einmaleins der demokratischen Grundrechte anfangen müssen, bevor wir endlich in konstruktive Verhandlungen einsteigen können: Streikrecht ist ein Grundrecht. Das gilt auch für den Zeitpunkt von Warnstreiks!« sagte der Verhandlungsführer für Verdi, Andreas Fröhlich. Die Gewerkschaft beruft sich auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984, wonach Warnstreiks nach Ablauf der Friedenspflicht auch während noch laufender Tarifverhandlungen zulässig sind.
Festgefahren waren die Verhandlungen schon länger. Verdi zufolge will der HPV die andauernde Pandemie ausnutzen, um einen möglichst niedrigen Tarifabschluss mit einer 24monatigen Laufzeit durchzusetzen. »Und dies, obwohl die papierverarbeitende Industrie bisher vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen ist«, schreibt die Gewerkschaft in einer Pressemitteilung: In großen Bereichen der Industrie gebe es eine überdurchschnittliche Auslastung, so dass Sonderschichten und Überstunden geleistet würden. Auch im April wird es daher wohl zu Arbeitsniederlegungen kommen.
Beigelegt ist hingegen der Tarifkonflikt in der Metall- und Elektroindustrie. Dort einigten sich IG Metall und Arbeitgeber noch vor Ostern. Warnstreiks, an denen sich rund 800 00 Metaller beteiligt hatten, zwangen die Unternehmen, ihre Blockadehaltung zumindest teilweise aufzugeben. Allerdings wurde für die Beschäftigten wie schon im Jahr zuvor auch für dieses Jahr keine dauerhafte Lohnerhöhung vereinbart. Stattdessen gibt es eine einmalige »Coronabeihilfe« von 500 Euro. Im kommenden Jahr sollen die Gehälter durch eine dauerhafte jährliche Sonderzahlung um 2,3 Prozent steigen. Mehr wäre wohl nur durch eine weitere Erhöhung des ökonomischen Drucks möglich gewesen. Dass die IG Metall prinzipiell dazu in der Lage ist, hat sie mit ihren ganztägigen Arbeitsniederlegungen in der Tarifrunde 2018 gezeigt. Angesichts der pandemiebedingten und wirtschaftlichen Unsicherheiten wollte man eine solche Eskalation diesmal jedoch offenbar vermeiden.
Nicht voran kommen die Tarifverhandlungen dagegen bei der Deutsche Bank Direkt GmbH, einem ausgelagerten Tochterunternehmen der Deutschen Bank. Die Servicegesellschaft betreibt vor allem die Callcenter der Deutschen Bank und wickelt das Telefon- und Online-Banking ab. Seit mehreren Monaten ziehen sich die Verhandlungen hin. Die Beschäftigten, deren Stundenlohn in der Regel nicht höher als 13 Euro liegt, fordern eine Anhebung der Gehälter um sechs Prozent und die Einführung eines 13. Monatsgehalts. Bereits im Dezember und Januar kam es zu ersten Warnstreiks, jedoch ohne Ergebnis. Nach der Ankündigung der Bank, ihren Investmentbanker Boni zu zahlen, während die Beschäftigten weiterhin auf ein Tarifangebot warten, traten sie im Februar in den unbefristeten Ausstand. »Die Callcenter-Beschäftigten sind die Visitenkarte der Deutschen Bank. Für sie ist angeblich kein Geld da. Für die Investmentbanker sollen dagegen 1,8 Milliarden Euro ausgeschüttet werden«, empörte sich Christoph Schmitz, Bundesvorstandsmitglied von Verdi.
Gestreikt haben Ende März auch die Beschäftigten von Amazon. In bundesweit sechs Verteilerzentren legten sie die Arbeit nieder. Seit Jahren kämpfen sie für die Anerkennung des Flächentarifvertrags des Einzel- und Versandhandels bei Amazon. Der Internetversandhändler ist zwar Mitglied im Arbeitgeberverband Handelsverband Deutschland (HDE), weigert sich jedoch, den von Verdi und HDE geschlossenen Tarifvertrag zu übernehmen. Amazon argumentiert, kein Einzelhandels-, sondern ein Logistikunternehmen zu sein.
Amazon gehört zu den größten Profiteuren der Pandemie. Weltweit setzte der Konzern im vergangenen Jahr über 386 Milliarden US-Dollar um. Allein in Deutschland stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr um 33 Prozent auf knapp 25 Milliarden Euro. Dies ging auf Kosten der Beschäftigten: Vereinbarungen zum Gesundheits- und Arbeitsschutz zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind bei Amazon unzureichend, so dass es Verdi zufolge immer wieder zu größeren Covid-19-Ausbrüchen kommt wie an den Standorten Graben bei Augsburg und Koblenz. Die im Frühjahr 2020 während der ersten Welle der Pandemie ausgelobten Stundenzuschläge von zwei Euro wurden bereits im Sommer wieder gestrichen.
Während in Deutschland nur die Verteilerzentren bestreikt wurden, versuchten die italienischen Gewerkschaften die gesamte Auslieferkette des Konzerns landesweit lahmzulegen.
Mit durchschlagendem Erfolg: Bis zu 40 00 Beschäftigte beteiligten sich am 22. März an der 24stündigen Arbeitsniederlegung, die von den Mitarbeiterinnen im Versand bis zu den Lieferboten reichte. Letztere sind nicht bei Amazon beschäftigt, machten aber knapp die Hälfte aller Streikenden aus. Den italienischen Gewerkschaftsverbänden CGIL, CISL und UIL zufolge traten landesweit etwa 75 Prozent aller Amazon-Beschäftigten in den Streik. Sie fordern unter anderem höhere Löhne, eine Sonderzulage wegen der Mehrbelastung durch die Pandemie und besseren Gesundheitsschutz. Expertinnen und Experten sprechen von Millioneneinbußen für den Versandhändler.
In Deutschland bildeten die Streiks bei Amazon den inoffiziellen Auftakt der diesjährigen Tarifrunde im Einzelhandel. Im Frühsommer werden die Arbeitsbedingungen und Löhne der 2,5 Millionen Beschäftigten neu verhandelt. Zu den Kernforderungen von Verdi gehört, einen Flächentarifvertrag auszuhandeln und für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. So würde die Vereinbarung für alle Unternehmen in der Branche gelten, auch für die, die nicht tarifgebunden sind oder sich – wie Amazon – trotz Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband nicht an den Tarifvertrag halten.
Allerdings muss die Allgemeinverbindlichkeit von beiden Tarifparteien, also Verdi und HDE, beantragt werden. Dem verweigert sich der Arbeitgeberverband bislang. Auch sonst dürfte die Tarifrunde konfliktreich werden. So fordert Verdi eine Lohnsteigerung von 4,5 Prozent und ein Mindestentgelt von 12,50 Euro pro Stunde. Die Arbeitgeber verweisen hingegen auf sinkende Umsätze im Einzelhandel wegen der Pandemie und warnen vor zahlreichen Insolvenzen. Sie verlangen ihrerseits ein »tarifliches Rettungspaket« und damit die Verlagerung der Krisenkosten auf die abhängig Beschäftigten.
Wie das Beispiel Amazon zeigt, stellt sich die finanzielle Lage in der Branche weit differenzierter dar, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht nur der Internetversandhändler konnte seinen Umsatz im vergangenen Jahr erhöhen, auch Teile des stationären Handels wie Baumärkte, Drogerien und Supermärkte gehören zu den Krisengewinnern. Selbst die von langen Schließungen betroffenen Möbelhäuser konnten im vergangenen Jahr ein deutliches Plus erwirtschaften. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts stiegen die Umsätze im Einzelhandel im Vergleich zum Vorjahr preisbereinigt um etwa vier Prozent. Es wären also genug Gewinne für eine deutliche Lohnerhöhung da, wie Verdi betont.
Der Streik bei Amazon dürfte also nicht der letzte in diesem Jahr gewesen sein. Auch in anderen Bereichen des Einzelhandels könnte der erstrebten Öffnung der Geschäfte trotz hoher Infektionszahlen schnell die arbeitskampfbedingte Schließung folgen. Das wäre gut sowohl für die Entwicklung der Löhne im Einzelhandel als auch für den Kampf gegen die Covid-19-Pandemie.