Neue Rivalitäten
Die Überschrift ist nüchtern formuliert: »Die Türkei im Sahel« lautet der Titel der neuesten Studie, welche die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group (ICG) am 27. Juli zu diesem Thema veröffentlichte. Die Pariser Abendzeitung Le Monde fasste am 6. August in einer weniger neutral gehaltenen Überschrift zusammen, was sie dem vorgelegten Text entnahm: »Der wachsende Einfluss der Türkei im Sahel beunruhigt«.
Erstmals schloss die Türkei im Juli 2020 ein militärisches Abkommen mit Niger; dessen genauer Inhalt wird jedoch geheim gehalten.
Die Studie untersucht die Rolle der türkischen Außenpolitik in der Sahelregion in den vergangenen zehn Jahren und vergleicht diese mit dem türkischen Vorgehen in Somalia im selben Zeitraum. Dort leistete die Türkei während einer Hungersnot im Jahr 2011 zunächst humanitäre Hilfe. Aber 2017 wurde dann in der Hauptstadt Mogadischu eine türkische Militärbasis eingeweiht, das derzeit größte Trainingslager der türkischen Armee außerhalb ihres Staatsgebiets. Ferner knüpfte der – staatlich durch die Religionsbehörde Diyanet organisierte – Klerus des Landes Beziehungen zu somalischen religiösen Funktionsträgern.
Ähnlich wie am Horn von Afrika war das Osmanische Reich, der Vorgänger der Republik Türkei, auch im Sahel präsent. Seit dem 16. Jahrhundert regierten im späteren Somalia Sultanate, die vom Osmanischen Reich abhängig waren. Da das Osmanische Reich im 17. und 18. Jahrhundert unter anderem das heutige Libyen und Algerien beherrschte, besaß es auch in der benachbarten Sahelzone Autorität.
Dort ist die Türkei heutzutage auf eine Stärkung ihres Einflusses bedacht, beginnend mit der Eröffnung von Botschaften 2010 in Mali und 2012 in Burkina Faso sowie Niger. Die Türkei verfolgt dabei zumeist eine Strategie der soft power, wie auch der ICG-Report darlegt: Ausbildung von Imamen, Finanzierung von Pilgerreisen nach Mekka, Einladungen zu Seminaren in die Türkei, Errichtung von Moscheen, Religionsschulen und Krankenhäusern sowie Investitionen in das Schulwesen.
Eine Schlüsselrolle spielten bis in die jüngere Vergangenheit die Bildungseinrichtungen des Netzwerks um den islamistischen Imam Fethullah Gülen. Dieser war zunächst ein wichtiger Verbündeter und Förderer des damaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, doch Ende 2013 zerstritten sich die beiden. Mit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 spitzte sich der Konflikt erheblich zu. Der türkische Staat versucht seitdem, die Kontrolle über Schulen des Gülen-Netzwerks zurückzugewinnen. Dafür hat er eine eigene Stiftung unter dem Namen Maarif (arabisch, etwa: Bildung) eingerichtet.
In Mali, dem Hauptknotenpunkt der türkischen Investitionspolitik im Sahel, überwarf sich diese Stiftung jedoch mit den örtlichen Behörden und vor allem den Eltern der Schüler in den 18 Bildungsstätten des Gülen-Netzwerks, genannt écoles Horizon. Die Eltern wollten auf die gut ausgestatteten Bildungsangebote des bisherigen Betreibers nicht verzichten. Maarif richtete daraufhin eigene Schulen ein, schaffte es jedoch nicht, die Kontrolle über den türkisch beeinflussten Zweig des Bildungswesens in Mali völlig zurückzuerlangen. Eine ähnliche Offensive begann der türkische Staat 2020 in Togo.
Die ICG relativiert die quantitative Bedeutung der türkischen Investitionen in der Region: Zwar habe sich das türkische Handelsvolumen mit Mali von fünf Millionen US-Dollar im Jahr 2003 auf 57 Millionen im vorvergangenen Jahr gesteigert. Doch dasjenige französischer und chinesischer Unternehmen im selben Zeitraum betrage Hunderte von Millionen Dollar, überdies habe die EU habe von 2011 bis 2019 insgesamt acht Milliarden Euro sogenannter Entwicklungshilfe in Projekten in der Sahelregion angelegt.
Dennoch tendiert die ICG auch nicht zur Unterschätzung. In jüngster Zeit gehe die türkische soft power-Strategie erstmals mit offenem politischem und militärischem Agieren einher. Die NGO verweist darauf, dass türkische Politiker, unter ihnen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, sich als Erste mit den Urhebern des Militärputschs in Mali vom August 2020 getroffen und dadurch Unterstützung signalisiert hätten, während Frankreich den Machtwechsel ablehnte. Allgemein profitiert die Türkei vom Schwinden des Einflusses Frankreichs, das in diesem Jahr angekündigt hat, die Zahl der Soldaten seiner Sahel-Streitmacht Barkhane – derzeit 5 100 – um voraussichtlich 40 bis 50 Prozent zu verringern.
Erstmals schloss die Türkei im Juli 2020 ein militärisches Abkommen mit Niger; dessen genauer Inhalt wird jedoch geheim gehalten. Es sieht jedenfalls Hilfe bei der Ausrüstung nigrischer Streitkräfte, aber auch die Entsendung türkischer Soldaten unter anderem zur Bekämpfung der regionalen Ableger der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram vor. Dadurch könnte die Türkei ihre derzeitige militärische Präsenz in Libyen nach Süden ausdehnen. Die ICG zeigt sich über die Tendenz »weiterer Militarisierung« in der Region beunruhigt, zumal die türkischen Ambitionen einen Wettlauf mit den rivalisierenden Vereinigten Arabischen Emiraten bei militärischen Projekten auszulösen drohten.
Der Bericht hebt auch hervor, dass der Türkei vorgeworfen werde, islamistische Strömungen, insbesondere jene der Muslimbruderschaft, durch ihre Regionalpolitik fördern zu wollen. Zugleich stellt er die von emiratischer und französischer Seite geäußerte, von der Türkei dementierte Unterstellung in Frage, die Türkei könnte auch gewalttätig vorgehende Jihadisten in der Region, etwa in Mali, fördern: Dieser Verdacht sei von diversen Ansprechpartnern an Ort und Stelle nicht erhärtet worden. »Nach Angaben einiger hoher malischer Verantwortlicher, bewaffneter Gruppen aus dem Norden Malis und westlicher Diplomaten in der Region«, so heißt es in dem Bericht, »reflektieren solche Gerüchte eine wachsende Beunruhigung in Hinblick auf die regionalen Ambitionen Ankaras.«
Tatsächlich scheint der türkischen Politik eher eine Strategie der institutionellen Durchdringung zugrunde zu liegen. Führende französische Politiker warfen der Türkei in jüngster Zeit wiederholt vor, im Sahel »Destabilisierung« zu Ungunsten Frankreichs zu betreiben, darunter die Verteidigungsministerin Florence Parly am 12. Januar im Parlament und Präsident Emmanuel Macron im November vorigen Jahres.