Für die EU hat in Nordafrika Migrations­kontrolle Priorität

Zahme Reaktionen der EU

Die EU reagierte zurückhaltend auf die Suspendierung des tunesischen Parlaments. Der tunesische Präsident Kaïs Saïed ist ein wichtiger Partner bei der Flüchtlingsabwehr.

Man werde die Situation im Blick behalten, so könnte man die Äußerungen der EU Ende Juli zusammenfassen, nachdem der tunesische Präsident Kaïs Saïed den ersten Minister abgesetzt und das Parlament suspendiert hatte. Die EU forderte »eine schnellstmögliche Rückkehr zur institutionellen Stabilität, und besonders eine Wiederaufnahme der Parlamentsarbeit«. Das deutsche Außenministerium ging etwas weiter: Man beobachte die Entwicklungen in Tunesien »mit Sorge«, es sei wichtig, »schnell zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren«. Doch konkrete Maßnahmen, die Druck auf Saïed ausüben könnten, gab auch Deutschland nicht bekannt. »Die EU hat Milliarden in den Schutz und die Förderung der tunesischen Demokratie investiert«, zitierte damals das Magazin Politico Tarek Megerisi vom Think Tank European Council on Foreign Relations: »Jetzt steht Europa am Spielfeldrand und versucht, möglichst zurückhaltend zu bleiben.«

Weil es kaum noch Rettungsmissionen aus Europa gibt, wächst die Rolle der nordafrikanischen Staaten Tunesien und Libyen bei der Migrationskontrolle.

Seit dem Sturz des Diktators Ben Ali 2011 intensivierte die EU die Zusammenarbeit mit Tunesien und stellte seitdem fast drei Milliarden Euro an ­Direkthilfen zur Verfügung, deren Auszahlungen oft an Fortschritte bei Menschenrechten oder Rechtsstaatsreformen geknüpft waren.

Die größte Herausforderung für ­Tunesien seit der Revolution war jedoch die wirtschaftliche Entwicklung. Seit 2015 verhandelte die EU mit Tunesien über eine »vertiefte und umfassende Freihandelszone«, wie sie auch mit den postsowjetischen Ländern Ukraine, Georgien und Moldau besteht. 70 Prozent aller tunesischen Exporte gehen schon jetzt in die EU. Jedoch waren die Marktöffnungen, die die EU etwa im Landwirtschaftsbereich verlangte, in Tunesien umstritten. In einer vor zwei Jahren veröffentlichten Studie des Berliner Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hieß es, »die Intensität der Ablehnung« des Abkommens in Tunesien sei »vergleichbar mit der Kampagne gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) in Deutschland und Europa«. Abgeschlossen sind die Verhandlungen bis heute nicht.

Im Februar gab die EU eine »neue Agenda für das Mittelmeer« bekannt – einen umfassenden Plan zur Vertiefung der Beziehungen zur »südlichen Nachbarschaft« nach der Coronakrise. Priorität hat jedoch derzeit vor allem die Migrationskontrolle. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex meldete im Juli, dass die Zahl illegaler Grenzübertritte in der EU nach dem pandemiebedingt sehr niedrigen Stand des vorigen Jahres wieder stark angestiegen sei. Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden 61 000 illegale Grenzübertritte gezählt. Im zentralen Mittelmeer, also an der italienischen Südküste, seien allein im Juni 4 700 Flüchtlinge angekommen, doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum. Die zweitgrößte Migrantengruppe seien Tunesier.

Mindestens 1 146 Menschen seien in den ersten sechs Monaten im Mittelmeer gestorben, meldete die International Organisation for Migration (IOM). Weil es kaum noch Rettungsmissionen aus Europa gibt, wächst die Rolle der nordafrikanischen Staaten Tune­sien und Libyen bei der Migrationskontrolle. Laut IOM nahm die Zahl der von der tunesischen Küstenwache auf dem Meer aufgegriffenen Flüchtlinge im letzten Halbjahr um 90 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zu. 220 Menschen seien zwischen Januar und Juni 2021 vor der Küste Tunesiens ertrunken.

Im September 2020 legte die EU-Kommission einen »Neuen Pakt für Migra­tion und Asyl« vor, der auch die EU-Beziehungen mit Ländern wie Tunesien neu regeln soll. Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, reiste im Mai ­gemeinsam mit dem italienischen Innenminister nach Tunis, um mit Präsident Saïed einen Deal auszuhandeln, wie ihn die EU mit zahlreichen Staaten Nordafrikas bereits hat oder anstrebt: Die EU müsse mit Tunesien daran arbeiten, »irreguläre Ausreisen zu reduzieren und die Migration zu steuern sowie die ökonomischen Ursachen für Migration zu untersuchen«, schrieb Johansson in einem Tweet am 20. Mai. Auch über die Rücknahme von Flüchtlingen aus Italien wurde verhandelt. Dafür stellen EU und Italien Geld in Aussicht. Ähnliche Verhandlungen führt die EU mit der libyschen Regierung in Tripoli.

Anfang Juni war der tunesische Präsident Saïed zu Gesprächen mit EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Präsidenten des ­EU-Rates, Charles Michel, in Brüssel. Dabei sagte er dem Nachrichtensender Euronews, »die Migrationswelle« lasse sich nicht durch Sicherheitsabkommen allein bekämpfen. Vielmehr sei die ökonomische Entwicklung afrikanischer Länder entscheidend. Er verwies auf EU-Programme, um Arbeitsplätze für junge Menschen in Nordafrika zu schaffen. Überdies seien allein im vergangenen Jahr 500 Ärzte aus Tunesien nach Europa emigriert. Das Ergebnis seines Besuches in Brüssel war eine Abschlusserklärung, in der es unter anderem heißt, man werde die gemeinsame Arbeit bei den Themen »Asyl, Grenzkontrolle, Kampf gegen Schmuggel von Migranten und dem Menschenhandel« fortsetzen. Nur wenige Tage zuvor hatte die EU 300 Millionen Euro Finanzhilfen an Tunesien gezahlt.

Besonders Italien macht Druck, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Schon jetzt sei die Zahl der Ankommenden laut italienischem Innenminis­terium dreimal so hoch wie im vergangenen Jahr. Auch das könnte erklären, dass die EU derzeit andere Prioritäten hat, als den tunesischen Präsidenten Saïed mit der Forderung zu behelligen, dass dieser dem Parlament wieder ­erlaubt, seine Arbeit aufzunehmen.