Ein Gespräch mit Fabian Burkhardt über die Folgen des Kriegs für Putins ­Regime

»Der Krieg legt die Schwächen von Putins Regime offen«

»Es geht eigentlich nicht um die Nato«. Der Politikwissenschaftler Fabian Burkhardt spricht über die Folgen des russischen Angriffskriegs für das Regime von Wladimir Putin.
Interview Von

Stärkt oder schwächt der derzeitige bewaffnete Konflikt die Macht des russischen Präsidenten Wladimir Putin?

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist Putins folgenreichste Entscheidung in über zwei Jahrzehnten an der Macht. So viel lässt sich jetzt schon festhalten, obwohl der Ausgang des Kriegs nicht absehbar ist. Die im Fernsehen übertragene Sitzung des nationalen Sicherheitsrats am 21. Februar kurz vor Kriegsbeginn, bei der Putin mit den wichtigsten staatlichen Führungspersonen die Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk besprach, hat deutlich gemacht, dass der Sicherheitsrat kein Organ kollektiver Entscheidungen ist, wie es etwa das sowjetische Politbüro war. Der russische Staat ist ein personalistisches autoritäres Regime, die wichtigsten Entscheidungen werden von Putin im kleinsten Kreis getroffen. Paradoxerweise war der US-amerikanische Geheimdienst besser über die Kriegsvorbereitung ­informiert als die meisten in der russischen Regierung, im Parlament oder in Staatsunternehmen. Putin kann durchregieren, das signalisiert Stärke.

Die Kriegsentscheidung offenbart aber die Schwäche des personalistischen Regimes: Die Geheimdienste und das Militär haben Putin schlecht über die Ukraine informiert. Das angeblich reformierte russische Militär ist geplagt von Korruption, schwacher Moral, ­Problemen mit Kompetenzen und Koordination. Die technokratische Re­gierung war auf die Wucht der Sanktionen nicht vorbereitet und ist nun zu Ad-hoc-Maßnahmen gezwungen. Der Krieg legt die Schwächen von Putins Regime offen.

Wie lässt sich diese Haltung in der Bevölkerung messen? Inwieweit können Umfragen unter den derzeitigen Umständen zuverlässig sein?

Personalistisch-autoritäre Herrscher wie Putin leben gefährlich: Je länger sie an der Macht bleiben, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie irregulär aus dem Amt ausscheiden und gewaltsam abgesetzt, ins Gefängnis gesteckt oder gar ermordet werden. Putin kann nicht einfach sein Amt an einen Nachfolger übergeben und in den Ruhestand treten. Das ist der Grund, warum er sich immer verbissener an die Macht klammert; der Krieg hat dieses Dilemma für Putin verschärft. All­gemein gesprochen gehen die größten Gefahren von einer Palastrevolte durch Führungspersonen, durch revolutionäre Massenproteste oder einer Kombination von beidem aus. Da Putin Geheimdienste und Militär hinter sich hat, muss er derzeit weder von der Führungsschicht noch von der Bevölkerung Gefahr befürchten. Seit Kriegsbeginn gab es innerhalb eines Monats über 15 000 Festnahmen bei Protesten gegen den Krieg. Es drohen hohe Geldstrafen oder bis zu 15 Jahren Haft für jene, die die Wahrheit sagen.

»Über die Jahre hat Putin ein ausgeklügeltes System von ›checks and balances‹ geschaffen, das es keiner führenden Gruppe oder Behörde erlaubt, übermächtig zu werden.«

Umfragen über die Haltung der Bevölkerung zum Krieg sollten aber mit äußerster Vorsicht interpretiert werden. Analysen zeigen, dass sich das Gros der Befragten weigert, überhaupt Fragen zu beantworten. Das heißt: Es nehmen nur Personen an Umfragen über den Krieg und die politische Lage in ­Russland teil, die sich ent­weder nicht fürchten oder Putin unterstützen. Die Kriegszensur, die die Schließung der verbleibenden ­unabhängigen Medien in Russland zur Folge hatte, und die fast schon totale Staatspropaganda, was den Krieg angeht, tun ein Übriges: Viele Befragte antworten bei Umfragen so, wie sie vermuten, dass es die Mehrheit in Russland tun würde.

Putin rief ukrainische Armeeangehörige am 25. Februar dazu auf, Präsident Wolodymyr Selenskyj zu entmachten, was nicht verfing.Sollen die Sanktionen gegen die politische Führung und Oligarchen Russlands einen Aufstand der Führungsschicht gegen Putin provozieren?

In der Theorie geht tatsächlich die größte Gefahr für Putin von der Führungsschicht aus. In der Praxis hat ­Putin sie derzeit aber fest im Griff. Über die Jahre hat Putin ein ausgeklügeltes System von checks and balances geschaffen, das es keiner führenden Gruppe oder Behörde erlaubt, übermächtig zu werden. Zwar hat sich Putin im Verlauf der Pandemie immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen, offensichtlich auch, weil er mit der Kriegsvor­bereitung beschäftigt war. Aber er verbleibt weiterhin als Schiedsrichter über den Interessengruppen. So beschatten sich die drei Geheimdienste (FSB, SWR und GU, besser bekannt als GRU), der Präsidentenschutzdienst (FSO), die Nationalgarde und das Militär ­gegenseitig. Funktionale Verschränkungen und gegenseitige Kontrolle erschweren einen Putsch zum Beispiel des Inlandsgeheimdienstes (FSB) oder der Armee immens.

Oligarchen im strengen Sinne gibt es nicht mehr: Wirtschaftsmagnaten ­verfügen im Unterschied zu den neunziger Jahren kaum noch über politischen Einfluss, sie haben sich mit den Spielregeln unter Putin arrangiert. Auch sind sie eher Konkurrenten und haben wenig Kooperationserfahrung. Die Sanktionen erhöhen zwar die Kosten für Putins Regime enorm, doch ­bisher bleibt mit wenigen Ausnahmen ein öffentliches Lossagen von oder gar eine Mobilisierung der Führungsschicht gegen Putin aus.

Es wird in den deutschen Medien viel über die Persönlichkeit Putins diskutiert. Hätte ein anderer rus­sischer Präsident kein Problem mit der Osterweiterung der EU und der Nato gehabt?

Russlands unprovozierter Angriffskrieg gegen die Ukraine hat einmal mehr deutlich gemacht, dass es dabei eigentlich nicht um die Nato geht. Vor der Annexion der Krim war die außenpolitische Neutralität der Ukraine in der Verfassung festgeschrieben, und in der Bevölkerung war nur eine Minderheit für den Nato-Beitritt. Lediglich Russlands aggressives außenpolitisches Verhalten und insbesondere die Militärmanöver im Frühjahr und Herbst 2021 sorgten endgültig dafür, dass die Nato-Mitgliedschaft mehrheitsfähig wurde. Die Fehler und Versäumnisse der Nato und der EU in Bezug auf die Sicherheitsinteressen Russlands in Europa sollten ehrlich diskutiert werden, aber sie können niemals eine Rechtfertigung für Russlands Angriffskrieg darstellen.

Es ist mit Sicherheit so, dass die Besorgnis in Russland über die Osterweiterung von Nato und EU viel tiefer in der Führungsschicht verankert ist als nur bei Putin, dies war auch schon in den neunziger Jahren unter Boris Jelzin zu spüren. Mit der Nato-Russland-Grundakte von 1997 haben sich aber beide Seiten auf ein gemeinsames ­Fundament geeignet.

Das Grundproblem besteht in der Natur des personalistischen autoritären Regimes: Hätte sich Russland demokratisiert, so hätte es auch im Präsidentenamt einen häufigeren Wechsel gegeben. Weder das Regime noch Putin selbst hätten sich in ihrer Weltsicht derartig verhärten und radikalisieren können. Durch demokratische Regierungswechsel hätte es auch eine bessere Durchmischung und Verjüngung der Führungsschicht gegeben. Putin und seine Alterskohorte sind nie über den Zerfall der Sowjetunion hinweg­gekommen, sie sind geprägt von Ressentiment und Revanchismus, ihr neoimperiales Denken erkennt die Nachbarstaaten wie die Ukraine nicht als souverän und selbstbestimmt an.

Die Folgen der Sanktionen bekommt die Bevölkerung Russlands überall zu spüren. Kann dies der Opposition schaden?

Die Frage ist, was wir unter Opposition verstehen. Im Nachhinein wird klar, warum Putin in den vergangenen Jahren so erpicht darauf war, nahezu jeg­liche außerparlamentarische Opposition zu ersticken. Schon im Jahr 2015 wurde Boris Nemzow in Sichtweite des Kreml ermordet, der zu diesem Zeitpunkt der schärfste russische Kritiker der Annexion der Krim und des mili­tärischen Eingreifens in der Ostukraine gewesen war. Die versuchte Tötung von Aleksej Nawalnyj mit dem militärischen Nervengift Nowitschok muss als Versuch gewertet werden, den einflussreichsten Oppositionellen vor dem Krieg auszuschalten und sein russlandweites Netzwerk, das sehr erfolgreich Proteste organisierte, zu liqui­dieren. Inzwischen ist klar: Solange Putin im Präsidentenamt ist, wird Nawalnyj in Lagerhaft bleiben. Bemerkenswert ist, dass sich sowohl Nemzow als auch Nawalnyj für Sanktionen gegen Putin nahestehende Wirtschaftsmagnaten ausgesprochen hatten.

»Oligarchen im strengen Sinne gibt es nicht mehr: Wirtschafts­­magnaten verfügen kaum noch über poli­tischen Einfluss, sie haben sich mit den Spielregeln unter Putin arrangiert.«

Auch die programmatisch liberale, aber von Grigorij Jawlinskij autoritär dominierte Partei Jabloko kritisiert Putins Ukraine-Politik scharf, aber Jab­loko war vor dem Krieg schon politisch marginalisiert. Die traditionelle, sogenannte systemische Opposition – also die rechtsnationale LDPR, die links­stalinistische Partei »Gerechtes Russland – Für die Wahrheit« und die Kommunistische Partei (KPRF) – sind allesamt als antiukrainische Hurra­patrioten zu werten. Die KPRF hatte bei den vergangenen Dumawahlen im September noch einige Stimmen von Protestwählern – etwa von sozialde­mokratisch denkenden Menschen oder Unterstützern Nawalnyjs – ergattert, wurde deswegen aber von der Regierung bewusst mit Repressionen angegangen. Und gerade die KPRF war es, die die Parlamentspetition an Putin initiierte, die »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anzuerkennen.

Insofern kann man von einer nahezu totalen Gleichschaltung der poli­tischen Parteien in Russland sprechen. Trotzdem halten sich derzeit hartnäckig Gerüchte, dass die Regierung einzelne Regional- oder Kommunalwahlen, die im September anstehen, verschieben könnte. Dies zeugt davon, dass man sich im Kreml seiner Sache überhaupt nicht sicher ist.

Sind Flüchtlinge aus der Ukraine, sowohl aus den »Volksrepubliken« als auch aus dem Rest des Landes, ein wichtiges Thema für die russische Politik?

Geflüchtete aus der Ukraine gibt es in Russland nicht erst seit diesem Jahr. Schon im Zuge der heißen Kriegsphase in der Ostukraine in den Jahren 2014 und 2015 sind Hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Russland geflohen. Allerdings haben nur die wenigsten einen offiziellen Flüchtlingsstatus erhalten, sondern bekamen ­lediglich eine temporäre Aufenthaltserlaubnis. Demographische Gründe und der Arbeitsmarkt spielten ebenfalls eine wichtige Rolle, denn die ­Aufnahme war auch von regionalen Quoten bestimmt. Solche Ukraine­rinnen und Ukrainer, die gefragte Berufe ausübten, bekamen bevorzugt eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Die russische Einbürgerungsgesetz­gebung erwies sich allerdings als sehr unflexibel, auch eine beschleunigte ­Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft über das Landsleute-Programm war bei Ukrainerinnen und Ukrainern wenig beliebt, da damit meist die Niederlassung in wenig attraktiven Regionen Russlands verbunden war. In den Nachbarregionen zum ukrainischen Donbas wie vor allem im Gebiet Rostow setzte nach anfänglich großer Hilfs­bereitschaft zunehmend Ernüchterung ein aufgrund der Ressourcen, die für die Unterstützung und Integration der Geflüchteten aufgewandt werden mussten. Auch vor diesem ­Hintergrund ist die Verteilung von russischen Pässen im Donbas zu sehen, die Russland seit April 2019 ­for­cierte.

Seit Mitte Februar 2022 ist es zu einer neuen Welle von Migration von Zehntausenden Menschen aus den »Volks­republiken« nach Russland gekommen. Diese ist aber eher als Zwangsdepor­tation denn als genuine Flucht zu werten. Mit der Evakuierung wollte Russland einen weiteren Vorwand für den Krieg schaffen, denn die Massenbe­wegung sollte der Welt zeigen, dass die Ukraine kurz vor einem Angriff auf die »Volksrepubliken« im Donbas stehe und diese somit schutzbedürftig seien.

Eine ähnliche Taktik wendet Russland nun im Krieg nach Beschuss und Umzingelung von Städten in der Ost­ukraine an: Russland will in Städten wie Mariupol die Evakuierung der Zivil­bevölkerung nach Russland erzwingen, um diese dann als Opfer ukrainischer »Nationalisten« und sich als »humanitäre« Macht darzustellen. Dies ist somit ein weiteres Beispiel, wie Russland russischsprachige Menschen in der Ostukraine nicht nur nicht schützt, sondern sie zynisch für seine Kriegspläne instrumentalisiert.

Ist mit einem baldigen Beitritt der »Volksrepubliken« zur Russischen Föderation zu rechnen?

Russlands Politik gegenüber den selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk wurde oft als schleichende Annexion bezeichnet. Auf den ersten Blick scheint dies Sinn zu machen, da Russland durch seine militärische, politische, finanzielle und auch humanitäre Unterstützung und Kontrolle die Integration der völkerrechtlich nicht anerkannten Territorien immer weiter vertiefte. Dennoch war Russland im Unterschied zur Krim nie an jenen Republiken als neuem Staatsterritorium interessiert, sie waren und sind bis heute ein Druckmittel ­gegen die ukrainische Zentralregierung. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der »Volksrepubliken« und die bilateralen Freundschaftsverträge, die im Februar 2022 geschlossen wurden, sind als bisheriger symbolischer Höhepunkt der Integration zu verstehen und dienten vor allem als Vorwand für den Krieg. Mit einem Beitritt würde Russland dieses Druckmittel gegen die Ukraine mit einem Schlag verlieren.

Deswegen ist davon auszugehen, dass Russland auf seinem Kriegsziel beharren wird: Die Ukraine soll die staatliche Unabhängigkeit der abtrünnigen Ter­ritorien anerkennen. Höchstwahrscheinlich wird Russland auch darauf bestehen, dass die Ukraine den Gebietsanspruch der Separatisten auf die ganzen Regionen Donezk und Luhansk anerkennt. Vor der erneuten Invasion im Februar 2022 hatten die »Volksrepubliken« lediglich etwa ein Drittel der ukrainischen Donbas-Regionen unter ihrer Kontrolle. Einiges deutet darauf hin, dass Russland beabsichtigen könnte, die Ausrufung weiterer »Volksrepubliken« im Osten der Ukraine zu erzwingen, ein Versuch in Cherson ist bisher allerdings gescheitert. Es geht Russland also nicht darum, mehr Territorien ­formal zu annektieren, sondern die ukrainische staatliche Souveränität und territoriale Integrität möglichst in Trümmer zu legen und sich dabei mindestens eine Landbrücke zur Krim und die Kontrolle über die Küste am Asowschen Meer zu sichern.

Was hat es mit dem angekündigten Kriegsziel Russlands »Denazifizierung der Ukraine« auf sich?

«Denazifizierung« ist eindeutig an die vier großen D (Dezentralisierung, ­Demilitarisierung, Demokratisierung und Denazifizierung) angelehnt, mit denen die Alliierten nach Kriegsende Deutschland vom Nationalsozialismus befreien wollten. Russland positioniert sich somit als Nachfolgerin der Sowjetunion und gibt vor, dass die »Spezialoperation« in der Ukraine in der Tradition des »Großen Vaterlän­dischen Krieges« gegen Nazi-Deutschland steht.

Dabei ist bemerkenswert, dass sich der Inhalt der Entnazifizierung offensichtlich verändert hat. Als im Kreml noch Kriegsoptimismus herrschte, beabsichtigte Putin nach einem Blitzkrieg die schnelle Einnahme von Kiew, um danach eine russlandhörige Marionettenregierung zu installieren. Später erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow, dass die Ukraine alle Gesetze annullieren müsse, die eine nazistische Ideologie enthielten. Gemeint war damit Gesetzgebung, die die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine diskriminierte. Für die Ukraine ist dieser Punkt hinfällig, da in der Ukraine Nazipropaganda verboten ist.

Seit Russland Ende März angekündigt hat, die »Spezialoperation« nur noch auf den Donbas konzentrieren zu wollen, ist laut Medienberichten die »Denazifizierung« vollständig aus den Verhandlungen gestrichen worden. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Entnazifizierungsforderung Russlands völlig haltlos ist. Vielmehr wird eine grundlegende Entnazifizierung Russlands vonnöten sein, entwickelt doch die Staatspropaganda immer totalitärere Züge, während das Z-Symbol des russischen Angriffskriegs zum Symbol protofaschistischer Kräfte geworden ist.

 

Fabian Burkhardt

Fabian Burkhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und Redakteur bei den Länderanalyseportalen »Russland-Analysen« und »Ukraine-Analysen«, die von einem Konsortium von sechs Forschungsinstitutionen herausgegeben werden.