Die Kolumnistin plädiert dafür, Betroffenen von sexuellen Übergriffen zu glauben

Im Zweifel gegen den Zweifel

Bei Vorwürfen von sexualisierten Übergriffen sollte man auch kom­plizierte Geschichten des Opfers glauben.
Bodycheck - Die Kolumne zu Biopolitik und Alltag Von

Eine anonyme Gruppe erhebt auf Instagram Vorwürfe gegen den Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet, in der Linkspartei spitzen sich die Konflikte über den Umgang mit mutmaßlichen Übergriffen zu, über die sexualisierte Gewalt auf dem Festival »Monis Rache« ­erscheinen demnächst ein Buch und ein Dokumentarfilm. Die Diskussion über die Bewertung von und den Umgang mit Sexismus, sexua­lisierten Übergriffen und Grenzverletzungen, mit Tätern und Betroffenen ist innerhalb des linken und linksradikalen ­Milieus so dringlich wie lange nicht.

Unvermeidlich scheint dabei die Verharmlosung von Übergriffen und die Infragestellung von Erfahrungen der Betroffenen zu sein. In der Theorie sind in der Linken selbstverständlich alle gegen Sexismus und Übergriffe, deswegen darf es halt so nicht passiert sein, sonst müsste man als Partei, als Politgruppe oder als Kollektiv ja etwas unternehmen. Beliebt ist die Methode, das Opfer zu diskreditieren, die Geschichte als unglaubwürdig und übertrieben darzustellen – wenn man es nicht geschafft hat, die Tat ganz aus der Öffentlichkeit zu halten.

Und tatsächlich ist das oft nicht so schwierig, weil es in den Berichten und Beschuldigungen häufig Ungereimtheiten, Unklarheiten und scheinbare Widersprüche gibt. Das kann verschiedene Gründe haben, beispielsweise möchten die Betroffenen in der Regel vermeiden, dass intime Details über ihr Leben in die Öffentlichkeit gelangen. Oft haben Betroffene bereits länger versucht, intern zu ­einer Verständigung oder Lösung zu kommen, ohne an die Öffentlichkeit zu gehen. Wenn die Erlebnisse selbst oder die Reaktionen von nahestehenden Menschen darauf zu (re)traumatisierend waren, kann das negative Effekte auf das Erinnerungsvermögen und damit auf die Kohärenz der Geschichte haben.

Wer glaubt, dass es häufig vorkommt oder sehr wahrscheinlich ist, dass Betroffene sich solche Erlebnisse ausdenken oder einbilden, hat neben wenig Empathie auch wenig Ahnung davon, wie die Ver­arbeitung sexualisierter Übergriffe und Grenzverletzungen funktioniert. Die meisten weiblich sozialisierten Menschen erleben sexua­lisierte Übergriffe und Grenzverletzungen; einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2014 zu Gewalt gegen Frauen in der EU zufolge ist jede 20. Frau vergewaltigt worden, über die Hälfte aller Frauen hat sexuelle Belästigung erlebt.

Gerade wenn der Täter (oder auch die Täterin) kein völlig fremder Mensch ist, bei dem es einfach Zufall oder Pech war, dass man zu dessen Opfer wurde, sondern es eine wie auch immer geartete Beziehung gibt, ist es auch gar nicht so einfach, einen Übergriff oder eine Grenzverletzung zu bemerken und zu benennen. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 25 Jahren ein Straftatbestand. Und ­immer noch gilt die Libido von Männern als größer als die von Frauen, ein vermeintliches Problem, das in monogamen heterosexuellen Partnerschaften häufig so gelöst wird, dass der weibliche Teil sich auf sexuelle Handlungen einlässt, ohne wirklich Lust zu haben. Das ist nicht im eigentlichen Sinne ein direkter Übergriff, aber Ausdruck von patriarchalen Strukturen, emotional verletzend und erniedrigend. Es ist also viel einfacher, so etwas als Betroffene gar nicht wahrzunehmen, vor sich selbst herunterzuspielen und zu verleugnen. Und auch für den Täter ist es einfacher, das nicht wahrzunehmen, obwohl es bemerkt werden könnte – aber er bekommt ja auch, was er will. In einer toxischen oder gar manipulativen Beziehung vergeht oft geraume Zeit, bis das Opfer sich eingestehen kann, was passiert ist und woran man mitgewirkt hat. Das ist dann allerdings erst der Anfang eines komplizierten und schmerzhaften Verarbeitungsprozesses.

Häufig macht sich eine Person, die einen Übergriff oder eine Grenzverletzung im Nahbereich erlebt hat, Vorwürfe, fragt sich, ob sie falsche Zeichen ausgesendet hat, ob sie Warnzeichen übersehen hat, ob die Grenzen, die überschritten worden sind, klar ersichtlich waren. Hat man bei der ersten Grenzüberschreitung deutlich ein »Nein« kommuniziert, oder hat man sie irgendwie zugelassen? Und wenn es komplizierter ist, weil es nicht die initiale, deutliche Grenzüberschreitung gab, sondern die Grenze langsam verschoben wurde, so dass man gar nicht wirklich gemerkt hat, dass man Dinge tut oder mit sich tun lässt, auf die man keine Lust hatte, die man nicht wollte, zweifelt man an der eigenen Realitätswahrnehmung, an der eigenen Menschenkenntnis – das Vertrauen in sich selbst ist schwer erschüttert.

Gleichzeitig ist es schwierig, sich Hilfe zu suchen, wenn man sich mitschuldig fühlt und die Geschichte komplizierter ist als der eine ungewollte Übergriff, das übergangene »Nein«. Wen weiht man ein, wenn Täter und Betroffene Teil des gleichen Freundeskreises, Kneipenkollektivs oder Partei-Kreisverbandes sind? Wer auch nur einen Fall von sexualisierten Übergriffen und dem Umgang damit mitbekommen hat, weiß, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass dem Opfer geglaubt wird und es Unterstützung findet. Selbst wenn die Freunde und Genossen nicht selbst sexistisch und unreflektiert sind und dem Opfer glauben wollen, zweifeln auch sie oft an der eigenen Realitätswahrnehmung, an der eigenen Menschenkenntnis. Um den notwendigen Prozessen Zeit zu geben, gibt es aber keine Alternative dazu, den Betroffenen zu glauben und potentielle Täter (zeitweise) aus den Strukturen zu entfernen, auch wenn es kompliziert und unangenehm ist.