Luis E. Herrero schildert im Film »El Entusiasmo« die Hoffnungen während der spanischen transición

Der zweite Sommer der Anarchie

Warum 1968 in Spanien 1975 stattfand. Der Dokumentarfilm »El Entusiasmo« feiert den Aufbruch in Spanien nach dem Tod des Diktators Franco. Aber er deutet am Ende auch an, warum sich die Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel nicht erfüllten.

»Nach Francos Tod schien alles möglich«, lautet der deutsche Untertitel des Films »El Entusiasmo«, der die Ausnahmesituation in Spanien nach dem 20. November 1975 zeigt. Europas letzter faschistischer Diktator war altersschwach im Bett gestorben; sein Tod ebnete einer aufbegehrenden Jugend den Weg, die vieles nachzuholen hatte. Arbeiter, Studentinnen, Intellektuelle und neue soziale Bewegungen nutzten die Gunst der Stunde, um gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, die in vielen anderen europäischen Ländern bereits mit dem Aufbruch von 1968 eingesetzt hatten.

Anhand von Interviews und Filmaufnahmen erzählt der Historiker, Kulturwissenschaftler und Filmemacher Luis E. Herrero die Geschichte einer Gesellschaft im Umbruch. Der im Stil eines Musikvideos gehaltene spanische Film, der rund zwei Jahre nach der Erstaufführung im Originalton mit Untertiteln in die deutschen Kinos kommt, lebt von den historischen Materialien derjenigen, die in der Zeit der transición gefilmt, fotografiert oder gezeichnet haben. Zu Beginn werden die von Konfrontation, Repression und dem Erodieren der Machtapparate geprägten letzten Jahren der Franco-Diktatur angerissen. Vage deutet sich der Übergang von der Diktatur über die konstitutionelle Monarchie zur Demokratie an.

Eine Reihe junger Filmschaffender machte sich die politischen und sozialen Kämpfe der Zeit um 1975 zu eigen und realisierte mit knappen Mitteln Filme aus der Bewegung für die Bewegung. Grobkörnige Bilder, verrauschte Videos – es sind diese dem experimentellen Film verpflichteten Aufnahmen, die eine alternative Geschichte der »transición« erzählen.

Obwohl die Apparate von Polizei und Justiz in der Franco-Zeit lange Zeit nahezu unverändert blieben, herrschte ein widersprüchliches ­Nebeneinander des Handelns staatlicher Institutionen. So konnten die 1939 ins Exil geflüchteten alten Anarchosyndikalisten nach Spanien zurückkehren, während in den spanischen Gefängnissen noch immer ­politische Gefangene saßen, die dafür verurteilt worden waren, die anarchosyndikalistische Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) neu aufzubauen. Bevor die ­Gewerkschaft legalisiert wurde, traf sich die CNT bereits wieder öffentlich. Die Schwäche der Diktatur war offenkundig. Und so hatten alte, ehemals in der CNT Aktive einen Traum: die soziale Revolution von 1936 zu vollenden.

Die Dokumentation rekonstruiert, wie die Anarchosyndikalisten neu zusammenfanden. Die CNT war bis zum Sieg Francos eine entscheidende Kraft in der spanischen Gesellschaft und die Triebfeder der sozialen Revolution gewesen; nach seinem Tod erlebte sie eine Renaissance. Der temporeich geschnittene Film montiert parallel und immer wieder anhand von Großereignissen die Bilder einer Generation, die 40 Jahre lang in der Franco-Diktatur ausgeharrt hatte, mit Aufnahmen einer rebellierenden Jugend, die die staatlichen Institutionen ebenso wie die Geschlechterrollen revolutionierte. Der Unübersichtlichkeit innerhalb der libertären Bewegung versucht der Film stilistisch zu entsprechen – vieles wird kurz angerissen, wenig erklärt, schon erfolgt der Schnitt zum nächsten Ereignis.

»Im sozialen und kulturellen Bereich fanden regelrechte Explosionen statt«, kommentierte Herrero den Aufbruch in einem Interview mit dem linken spanischen Kulturmagazin Neo 2 anlässlich der Premiere seines Films 2020 in Spanien. Plötzlich waren Frauen als handelnde Subjekte im öffentlichen Raum präsent, Arbeitende, die zwischen Fabrik und Hochhaussiedlung hin- und herpendelten, waren nicht mehr dazu verdammt, den Mund zu halten. Die Innenstädte gehörten nicht mehr länger nur den Kleinfamilien, die Versammlungssäle nicht mehr nur den Herren mit Schlips und Kragen.

Das Kinospektakel lässt die Vielfalt hochleben, das Aufbegehren gegen die 40 Jahre währende klerikal­faschistische Diktatur; es geht um das Erproben neuer Lebensformen, freie Liebe und Körperlichkeit, nichtkommerzielle Stadtteilräume, avantgardistisches Theater, Rock, Punk und Free Jazz, freies Sprechen und Streiten um Gleichberechtigung und Emanzipation. Die Bilder des Films sind so faszinierend wie unkonventionell. Die Akteurinnen und Akteure reden drauflos, ohne dass ihr Auftreten aus dem Off kommentiert wird.

Beeindruckend sind die Dokumentaraufnahmen der ersten Massenversammlung der CNT im März 1977 auf der Plaza de Toros von San Sebastián de los Reyes, einer Vorstadt von Madrid. Einer der Redner ist das CNT-Mitglied Fernando Carballo, der 1964 bei einem gescheiterten Anschlag auf Franco verhaftet wurde. 26 Jahre saß er in franquistischen Gefängnissen. Im Januar 1977 wurde er freigelassen, zwei Monate später hielt er eine kämpferische Rede vor Zehntausenden.

Für das Selbstverständnis der CNT ist der Antiautoritarismus entscheidend, ebenso die eigenverantwortliche Selbstorganisation und die Ablehnung der Repräsentation durch Stellvertreter. Im Film erzählt eine Historikerin, wie bewegend es vor allem für junge Zuhörende war, als Angehörige der älteren Generation erstmals ohne Angst und Scham über die erlebte Erniedrigung und Ausbeutung sprachen und dagegen aufbegehrten.

Der Film lässt sein Publikum Zeuge dieses historischen Moments einer kollektiven Negation der Verhältnisse werden. Dass all diese Originalaufnahmen existieren, ist das Verdienst der damaligen Kinoavantgarde: An den Rändern der spanischen Filmindustrie waren in den siebziger Jahren Filmkollektive und Videogruppen entstanden, die sich als visuelle Gegenöffentlichkeit verstanden. Eine Reihe junger Filmschaffender machte sich die politischen und ­sozialen Kämpfe der Zeit zu eigen und realisierte mit knappen Mitteln Filme aus der Bewegung für die ­Bewegung. Grobkörnige Bilder, verrauschte Videos – es sind diese dem experimentellen Film verpflichteten Aufnahmen, die eine alternative ­Geschichte der transición erzählen.

Der linken Zeitung El Salto sagte der 1976 geborene Herrero, der nicht nur das Buch geschrieben und Regie geführt hat, sondern den Film mit zwei Assistenten auch selbst geschnitten hat, wie er sich die Zeit des Neuanfangs durch die Sichtung der Filme und der Interviews angeeignet hat: »Während der siebziger Jahre wurden viele Filme mit sozialen und politischen Inhalten gedreht, die antifranquistisch waren und die am Rande der Industrie klandestin produziert, vertrieben und gezeigt wurden.« Es sei schwer gewesen, an die Filme heranzukommen, keine offizielle In­stitution hatte sie gesammelt. Herrero spricht anerkennend von einer »Guerilla des Zelluloids, die ihre Kameras in den Dienst des Kampfes gegen die Diktatur gestellt hat«. Zum Beispiel die Gruppen Cine de Clase (Kino der Klasse), ein Kollektiv, zu dem ­Helena Lumbreras und Mariano Lisa gehörten, die Cooperativa de Cinema Alternatiu (Kooperative des alternativen Kinos), das Kollektiv Penta oder die Videogruppe Video Nou.

Die Materialfülle, in der der Film schwelgt, hat ihre Tücken: Viele ­Sequenzen sind zu schnell getaktet, viele Bilder lassen sich nur dann zuordnen, wenn man mit der Geschichte der transición vertraut ist. Selbst das junge spanische Filmpublikum schien überfordert zu sein. Jedenfalls bemühten sich die Filmrezensenten der linken spanischen Medien erkennbar darum, den politischen und sozialen Hintergrund des ­Aufbruchs genauestens zu erklären.

So wie Pablo Elorduy, der in dem in El Salto erschienenen lesenswerten Aufsatz »Der herrliche Sommer der Anarchie« schreibt: »Der zweite Sommer der Anarchie zeigte sich in Kollektiven und anonymen Figuren einer verstreuten autonomen und antikapitalistischen Bewegung, die in den siebziger Jahren in versprengten Lesungen, neuen Musikstilen und in den Kämpfen gegen die Fa­brik­gesellschaft auftauchten, und er sah die Confederación Nacional del Trabajo auferstehen, jene Gewerkschaft, welche seit den zwanziger Jahren die Arbeiterkämpfe unterstützt und die kurze Revolution von 1936 ermöglicht hatte.«

Auch dieser Sommer währte nicht ewig, wofür der »Fall Scala« steht – benannt nach einem Nachtclub in Barcelona, der im Januar 1978 mit Molotowcocktails in Brand gesetzt wurde. Vier Arbeiter starben. Die Brandsätze stammten von einem agent provocateur aus den Reihen der Polizei und nicht, wie behauptet wurde, von der CNT, die so fälschlicherweise mit terroristischer Gewalt in Verbindung gebracht wurde. Ein Rückschlag in der Geschichte der Gewerkschaft, die nach schwindelerregendem Wachstum durch staatliche Infiltration und Kriminalisierung ins Schlingern geriet und viele Mitglieder wieder verlor. »Der Dokumentarfilm endet mit ›Scala‹, denn was ich in ›El Entusiasmo‹ erzählen wollte«, sagt Herrero, »ist die aufsteigende Phase des Übergangs, in der, ob das naiv war oder nicht, alles möglich schien.«

El Entusiasmo (Spanien 2018). Buch und Regie: Luis E. Herrero. Kinostart: 23 Juni