Ein Gespräch über die »Karawane des Lichts« syrischer Geflüchteter in der Türkei und die europäische Flüchtlingspolitik

Despoten, Flucht und scharfe Schüsse

Die Türkei macht Anstalten, sich der syrischen Flüchtlinge zu entledigen. Diese organisieren eine »Karawane des Lichts«, um in die EU zu gelangen. Aber die EU-Außengrenzen werden seit 2020 immer stär­ker militarisiert, es gibt kaum noch ein Durchkommen. Dennoch werden erste Warnungen vor einer »Flüchtlingskrise« wie 2015 laut.

Bernd Beier: Vor etwa drei Wochen sammelten sich Medienberichten zufolge einige Zehntausend vor allem ­syrische Flüchtlinge in der türkischen Stadt Edirne nahe der griechischen Grenze, sie bildeten die sogenannte Karawane des Lichts. Es sah so aus, als ob, ähnlich wie 2015, Tausende Leute sich auf den Weg in Richtung Griechenland und EU machten. Dann hieß es, sie seien zurück nach Istanbul gegangen, um sich zu reorganisieren. Thomas, du warst jüngst in der Türkei. Wie war die Lage dort?

Thomas von der Osten-Sacken: Die Situation eskaliert, wie man seit Monaten verfolgen kann. Es sind über 3,5 Millionen Syrer in der Türkei, die vor ­allem von Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan und der AKP vergleichsweise gut behandelt wurden, auch als Teil ihrer Syrien-Politik. Diese Stimmung kippt. Die Türkei ist in einer schweren Wirtschaftskrise mit einer Inflationsrate von 80 Prozent, viele Leute wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Der Wahlkampf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nächsten Sommer beginnt. Umfragen zufolge wird die AKP wohl auch mit ihrem Koalitionspartner, der ultranationalistischen MHP, nicht die Mehrheit gewinnen. Erdoğan kämpft um sein politisches Überleben.

»Es gibt einen ›war on refugees‹ und einen ›war with refugees‹. Flüchtende werden als Waffe eingesetzt.« Thomas von der Osten-Sacken

Sowohl die Kemalisten von der CHP als auch die rechte islamistische Opposition nutzen die Stimmung gegen die Syrer. Meral Akşener, die Vorsitzende der rechtsnationalistischen İyi Parti (Gute Partei), hat gesagt, dass man alle syrischen Flüchtlinge loswerden müsse, und sie als Müll bezeichnet. Vor einigen Tagen wurde ein Syrer auf offener Straße erstochen. Syrer werden mit Waffengewalt abgeholt und an die Grenze gebracht, dann in die von der Türkei kontrollierten syrischen Gebiete abgeschoben. Wer eine Möglichkeit sieht, die Türkei zu verlassen, nutzt sie. Die »Karawane« ist ein Teil dieser Bemühungen.

2015/2016 hat das in Ungarn ganz gut funktioniert, als die Syrer sich organisierten und gemeinsam losliefen. Ob das erneut erfolgreich sein kann, ist sehr fraglich. Griechenland hat die Grenze ausgebaut und geht mit Gewalt gegen Leute vor, die die Landgrenze überqueren wollen.

BB: Karl, du warst kürzlich in Griechenland. Wie waren deine Erfah­rungen?

Karl Kopp: Die griechische Regierung, vor allem der Migrationsminister Notis Mitarachi, betont heute, dass mit aller Macht und aller Gewalt zurückgeschlagen werde. Das ist ein militä­risches Szenario. Es ist derzeit für eine »Karawane des Lichts« oder einen »March of Hope« unmöglich durchzukommen. 2020 zeigte sich modellhaft, wie Griechenland und die EU auf eine größere, gar organisierte, Fluchtbewegung aus der Türkei reagieren werden – nämlich mit aller Härte. Im März 2020 hat Griechenland vor den Augen der EU-Repräsentanten mit Tränengas, Blendgranaten und scharfen Schüssen Schutzsuchende am Evros, dem Fluss, der die griechisch-türkische Landgrenze bildet, zurückgetrieben.

In den ersten neun Monaten dieses Jahrs haben es lediglich 10 500 Menschen nach Griechenland geschafft, davon 4 500 über die Landgrenze. Diese Region am Evros ist eine menschenrechtliche twilight zone. Heute kontrollieren die Grenze dort Polizei und ­Militär, die illegale Zurückweisungen – sogenannte Pushbacks – durchführen. Flüchtlinge, die sich bereits auf griechischen Boden befinden, verschwinden in Haftlagern, ohne registriert zu werden. Nachts werden sie über den Evros geschafft. Während der Pushbacks kommt es zu Misshandlungen und zu Todesfällen. Eine griechische Anwältin sagte mir, dass das eine Situation ist, wie man sie eher aus Kriegen kennt. Zudem werden Hilfsorganisationen, die diese Menschenrechtsverletzungen, diese Straftaten vor Gericht bringen, kriminalisiert.

BB: Es gibt seit langer Zeit eine Art Erzfeindschaft zwischen der Türkei und Griechenland und neue Konflikte beispielsweise um Gasvorkommen im Mittelmeer. Welche Rolle spielen dabei die syrischen Flüchtlinge?

KK: In der Ägäis könnte jeden Tag ein kleiner Zwischenfall eine Konfrontation zwischen den beiden Nato-Staaten provozieren. Diese Zuspitzung und die Covid-19-Pandemie haben dazu geführt, dass es seit 2020 keine legalen Abschiebungen von Griechenland in die Türkei mehr gibt. Der Flüchtlingsdeal vom März 2016 zwischen der EU und der Türkei funktioniert nicht mehr.

Die griechische Küstenwache führt den Deal jedoch mit anderen Mitteln fort: Es finden Pushbacks, unter den Augen und zum Teil mit Beteiligung der EU-Grenzagentur Frontex, in bisher unbekannter Systematik und Brutalität statt. Für die vergleichsweise wenigen Bootsflüchtlinge, die noch ankommen, geht das Leid auf den griechischen Inseln weiter.

Die EU-Hotspots in Griechenland sind die teuersten Elendslager der Welt. Zehntausende Schutzsuchende wurden bereits in diesem zynischen EU-Laborversuch ihrer Rechte beraubt, physisch und psychisch verletzt. Nach dem Brand des Lagers Moria auf Lesbos im September 2020 baut nun die EU sukzessive moderne Hightech-Haftlager auf den Inseln, wo die völlige Entrechtung Schutzsuchender weitergeht. Registrierung, Asylverfahren und Abschiebung werden unter einen Dach abgewickelt, das geschieht außerhalb des Blickfelds der Öffentlichkeit.

TOS: Die Türkei ist ein Nadelöhr der Fluchtrouten, sowohl aus Asien wie auch aus Afrika; zuletzt sind auf Lesbos viele Somalier aus der Türkei angekommen. In manchen Vierteln von İzmir sieht man praktisch keine Türken mehr, es ist wie Kleinsyrien dort; in anderen Städten in der Türkei stammen 50 Prozent der Bevölkerung aus Syrien. Es ist natürlich auch eine Leistung, die Versorgung für sie zu schaffen. Griechenland hat für ein paar Hunderttausend Flüchtlinge über zwei Milliarden Euro von der EU bekommen und die Türkei für mehr als drei Millionen Flüchtlinge sechs Milliarden Euro.

Die türkisch-syrische Grenze wurde mit EU-Geldern verstärkt, was es Syrern so gut wie unmöglich macht, in die Türkei zu gelangen. Die Frage, wie lange der Iran noch in Syrien auf Seiten der Diktatur Bashar al-Assads mitwirken kann, ist offen. In Syrien sind fast die Hälfte aller Personen Binnenflüchtlinge. Die Türkei hat eine wahnsinnige Angst, dass, wenn die Situation dort ­eskaliert, sie dann Hauptleidtragende der nächsten großen Flüchtlings­welle ist.

Die EU hat 2016 eben nicht Griechenland, sondern der Türkei die Karte in die Hand gedrückt: Die gesamte Flüchtlingspolitik der EU hängt von der Türkei ab. Die Türkei ist der Flaschenhals und Erdoğan kontrolliert den Korken. Das versucht die Türkei auszunutzen.

Die wegen der Ukraine-Krise explodierenden Energiepreise und die Nahrungsmittelverteuerung zeigen schon ihre Folgen. Es war klar, dass es zu neuen Massenprotesten im Nahen Osten kommt. Die finden jetzt im Iran statt. Der Tod der 22jährigen Kurdin Mahsa Amini war nur der Auslöser. Viele im Iran haben die Schnauze voll und wissen nicht, wie sie durch den Winter kommen sollen. Im Irak ist es genauso. Ein kleiner Funken reicht, dann geht es wieder los. Und weil man nicht dafür gesorgt hat, dass die vielen jungen Menschen eine Perspektive im Nahen Osten haben, ist ihre einzige Aussicht der Versuch, nach Europa zu kommen. Die griechisch-türkische Grenze ist dabei nur der Seismograph, an dem man merkt, dass das große ­Beben ­losgeht.

In Griechenland hat man die Sorge, dass wieder eine Situation wie 2015 / 2016 entsteht. Ich war oft genug auf Lesbos, die Leute dort sind traumatisiert. Das ist keine Verteidigung der europäischen Flüchtlingspolitik; aber die Vorstellung, dass wieder 25 000 Leute auf Lesbos in irgendwelchen Zelten ausharren, ertragen die Einwohner dort auch nicht. Griechenland leidet im europäischen Vergleich besonders stark durch die Verteuerung und Inflation. Ein Liter Benzin kostet 2,50 Euro und das bei Gehältern, die nur ein Viertel der in Deutschland üblichen betragen.

BB: Wie organisieren unter solchen Bedingungen die Flüchtlinge in der Türkei die sogenannte Karawane des Lichts? Gibt es neue Organisations­formen?

KK: Es gibt einen starken Druck auf die Flüchtlingscommunitys in der Türkei, nicht nur auf syrische Geflüchtete. Die Türkei schiebt beispielsweise auch afghanische Schutzsuchende nach Kabul ab.
Syrische Flüchtlinge, die in der Türkei, auch mit Unterstützung durch EU-Gelder ihr Leben irgendwie organisieren konnten, geraten nun immer mehr ins Fadenkreuz eines rassistischen Mobs. Staatlicherseits finden illegale Abschiebungen nach Syrien statt. Und Europa ist bereit, diese Fliehenden zurückzuschlagen. In Griechenland, Bulgarien, Ungarn, Kroatien, Polen und anderswo – überall finden völkerrechtswidrige Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen statt.

»Wenn Flüchtende gefoltert werden wie in Kroatien – es passiert nichts. Die Uniformierten bleiben straflos, weil die Kommandokette bis in die höchsten politischen Instanzen reicht.« Karl Kopp

Geflüchtete werden entmenschlicht, indem sie von führenden Politikerinnen und Politikern als »politische Waffe« oder »eine Form der hybriden Bedrohung« bezeichnet werden. Toxische Begriffe, die auch von der Brüsseler Kommission in Gesetzestexte gegossen werden. In einer sogenannten Instrumentalisierungsverordnung will die Kommission schäbige Praktiken von Rechtsbrüchen, wie Aussetzung des Asylrechts, Grenzverfahren unter Haftbedingungen, Einschränkung des Rechtsschutzes et cetera, in Gesetzesform gießen. Was genau unter »In­strumentalisierung« zu verstehen ist, bleibt vage. Ein Staat kann einfach ­behaupten, ein anderes Land oder ein nicht-staatlicher Akteur motiviere Menschen dazu, an seine Grenzen zu kommen, um die EU zu destabilisieren. Ein Freibrief für Maßnahmen aller Art, ein Sargnagel für den Flüchtlingsschutz.

De facto findet ein Krieg gegen Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen statt.

TOS: Ich bezeichne das als doppelten Krieg: Es gibt einen war on refugees und einen war with refugees. Flüchtende werden als Waffe eingesetzt. Der syrische Diktator Assad und Russland haben diese Flüchtlinge 2015 gezielt »produziert«, um Europa zu destabilisieren. Und sie haben das 2019 erneut versucht, als die Offensive in Idlib begann. Der Krieg mit Flüchtlingen ist ein Krieg, in dem Flüchtlinge als Waffe verwendet werden. Das muss man verstehen, um das Handeln der Türkei zu verstehen. Karl hat es bereits erwähnt: Im März 2020 wurden Flüchtlinge von den türkischen Behörden in ein Niemandsland gehetzt.

Die Syrer können sich in der Türkei nur organisieren, wenn sie grünes Licht von oben bekommen. Die Frage ist, welche Interessen die Türkei dabei verfolgt. Ich hatte immer viele Sympathien für Aktionen aus Deutschland zur Unterstützung von Flüchtlingen. Jetzt muss man aber sehr vorsichtig sein, wegen der geplanten »Karawane des Lichts« in Jubel auszubrechen – ­irgendwelche armen syrischen Schlucker zahlen womöglich den Preis.

An den Außengrenzen kommt man so nicht mehr durch. Angesichts der Krise in der EU wird es wohl weitgehend hingenommen werden, wenn an den Außengrenzen geschossen wird. Die Sympathien werden in Europa wohl nicht bei den Flüchtlingen sein, sondern es dürfte eine große Akzeptanz geben, wenn Griechenland mit Gewalt gegen die Flüchtlinge vorginge.

Griechische Boote patrouillieren während einer militärischen Übung auf dem Grenzfluss Evros

Neulich auf dem Evros. Griechische Boote patrouillieren während einer militärischen Übung auf dem Grenzfluss

KK: 2015 sind 850 000 Bootsflüchtlinge in der Ägäis angekommen, 450 000 alleine auf Lesbos. Nach Jahren der Vertreibung und Gewalt kamen 2015 vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan in Griechenland an. Schutzsuchende, die jahrelang durch eine Containment-Politik in der Region gehalten worden waren. Die EU hat vorher diese Flüchtlinge, aber auch die Hauptaufnahmeländer von Geflüchteten, völlig im Stich gelassen.

Als in Griechenland 2015 die Syriza-Regierung an die Macht kam, wurden immerhin die Pushbacks auf See beendet und zumindest in der Ägäis wurde das Völkerrecht eingehalten. Am 4. September 2015 zogen ­syrische Schutzsuchende mit EU-Flagge vorweg von Budapest aus über die Autobahn Richtung Österreich los und kamen durch.

Doch mittlerweile gilt in der EU die Devise – wie es der frühere österreichische Kanzler Sebastian Kurz gefordert hatte –, man müsse selbst die »hässlichen Bilder« akzeptieren. Vor laufenden Kameras wurden in Polen Schutzsuchende nach Belarus zurückgeprügelt. Natürlich hatte der belarussische Diktator Lukaschenko die Flüchtlinge instrumentalisiert, aber das macht auch der König von Marokko. Auch Gaddafi erpresste die EU mit der Drohung, Flüchtlinge zu schicken.

Aber es zeigt sich eher, dass die EU-Staaten und auch die EU-Führungs­riege mit der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereit sind, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte an den Außengrenzen erodieren zu lassen. Das ist ein neuer Sachverhalt. Egal was passiert, nichts wird sanktioniert: Wenn Flüchtende bei den Pushbacks gefoltert werden wie in Kroatien, wenn sie bei Pushbacks sterben wie in Griechenland und Polen – es passiert nichts. Die Uniformierten bleiben komplett straflos, weil die Kommandokette bis in die höchsten politischen Instanzen reicht.

BB: Angesichts dieser Entwicklungen ist der Ausblick auf die kommenden Monate also wenig erfreulich. Was tut sich dagegen?

TOS: In Griechenland gibt es zusätzlich zu den Pushbacks derzeit die Skandale wegen des Abhörens der Telefone von Oppositionellen und Journa­listen, in Italien dürfte eine neue rechte Regierung mit Giorgia Meloni härter gegen Flüchtlinge vorgehen. Wenn ich dann lese, dass die Bild-Zeitung jetzt schon verbreitet, dass man sich eine zweite »Flüchtlingskrise« nicht leisten könne – ich sehe nicht, wer sich dann hinstellt, um Rechte zu verteidigen, die gerade unpopulär sind.

KK: Aber es gibt keine Alternative. Die Zivilgesellschaft ist immer noch sehr stark. In der EU-Flüchtlingspolitik fallen die letzten Tabus: Die EU kooperiert mit Kriminellen, der sogenannten libyschen Küstenwache, die Bootsflüchtlinge tausendfach in die Folterlager zurückschaffen. Aber es existiert auch eine zivile Seenotrettung – Leute, die jeden Tag dafür kämpfen, Leben zu retten und Bootsflüchtlinge in sichere Häfen nach Europa bringen.

Die Justiz als potentielles Korrektiv arbeitet äußerst schleppend. Acht Kinder und drei Frauen sind im Schlepptau der griechischen Küstenwache im Januar 2014 vor den griechischen Inseln gestorben. Die Überlebenden mussten länger als acht Jahre auf Gerechtigkeit warten. Der Menschenrechtsgerichtshof hat im Juli 2022 Grie­chenland in allen zentralen Punkten verurteilt und klargestellt, dass die Küstenwache verantwortlich für den elffachen Tod ist.

Es werden weiterhin jeden Tag Fälle dokumentiert und es wird versucht, den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Rechte Schutzsuchender zu verteidigen, bedeutet heute, für ein europäisches Asylrecht einzutreten und alles dafür zu tun, dass die Gewalt und die Straflosigkeit an den Grenzen der EU endlich enden.

TOS: Außerdem gehen Menschen, die ein anderes Leben wollen, in den Hauptherkunftsregionen tagtäglich auf die Straße. Derzeit sind es die ­Iraner. Sie verbrennen Kopftücher, während die europäischen Politiker mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi, dem Schlächter von Tausenden Gefangenen, verhandeln. Das sind fatale Signale – egal wo die Menschen auf die Straße gehen, im Iran, Syrien oder dem Irak. Die Schlächterregime sind nicht nur generell Ansprechpartner, sondern auch Verbündete in der Flüchtlingspolitik – nicht nur Erdoğan, auch der ägyptische Präsident Abd ­al-Fattah al-Sisi, syrische Milizen oder das Regime in Eritrea.

Eigentlich hat die EU ein Interesse, dass dort eine fadenscheinige Stabilität herrscht. Aber dort sind Diktatoren, vor denen Menschen fliehen, an der Macht, mit denen dann die EU verhandelt, um die Grenzen dichtzumachen. Eine entschiedene Unterstützung der Menschen, die im Iran auf die Straße gehen, ist wichtig. Nicht weil ich gerne ein paar dieser netten Leute in Deutschland hätte, sondern weil sie im Iran was ändern wollen. Wenn sie nicht die Gesellschaft, die sie wollen, gestalten können, werden sie abhauen, um woanders ein besseres Leben zu leben. Sie wollen einfach ihr Leben ändern.

Irgendwann verlieren sie die Hoffnung, wie zum Beispiel im Sommer 2013 in Syrien nach dem Giftgasangriff in Ghouta, und kurz darauf gehen sie. Das ist der Zusammenhang zwischen Diktatur und Flucht. Und all das dann noch in einer Region, die vom Klimawandel stark getroffen wird. Ein pa­kistanischer Politiker brachte es kürzlich auf den Punkt: Pakistan ist an einem Prozent der weltweiten Emissionen schuld und eines der sieben Länder, die am Klimawandel meisten unter dem Klimawandel leiden.

Ich bin gerade im Irak. Er ist eines der fünf am Klimawandel hauptleidtragenden Länder und ich sehe Jahr für Jahr, wie die Ressourcen, die Lebensgrundlagen verschwinden und die Menschen in diesen Regionen nicht mehr leben können. Die Menschen, die nach Europa kommen, sind nur ein Symptom für etwas anderes. Sie zeigen jeden Tag, dass sie in ihren Gesellschaften etwas anderes wollen.

KK: Die EU wählt immer die schmutzigsten Partner bei der Fluchtabwehr und produziert dabei neues Leid und neue Fluchtbewegungen. Im Zuge des Angriffs Russlands auf die Ukraine ist die EU einen anderen Weg gegangen. In diesem Fall bleiben die Fluchtwege offen. Die Geflüchteten sollen ihre Mobilität nutzen, frei ihr Schutzland wählen. Und sie erhalten sofort – beispielsweise in Deutschland – die Rechte gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Wir fordern eine ähnliche Konzeption für alle Flüchtlinge. Schluss mit Flüchtlingen erster, zweiter und dritter Klasse.

BB: Gibt es noch andere Aspekte?

TOS: Das Interessante bei der Ukraine ist ja, dass es viel Verständnis gibt. Für Syrien gab es das nicht. Hätte man die anfangs überhaupt nicht islamistische Opposition in Syrien mit Flugverbotszonen und Schutzzonen unterstützt und eine Perspektive eröffnet, dass Menschen in Syrien bleiben können – nicht zwangsweise, sondern freiwillig –, dann hätte sich die Situation dort ganz anders entwickelt. Aber man wollte sich nicht mit dem Iran anlegen und auch nicht mit Assad.

Dasselbe gilt für Afghanistan. Wenn man in Afghanistan interveniert, etwas von Demokratie erzählt und allerlei verspricht, dann einfach abhaut und die Leute im Stich lässt, sind das fatale ­Signale für Menschen, die eigentlich bleiben wollen. Alle Afghanen, die ich in Griechenland kennengelernt habe, sagen, zum Glück sind wir abgehauen, sonst wären wir Opfer der Taliban geworden. Im Fall der Ukraine existiert ein integriertes Verständnis für ein politisches Problem. Für andere Länder gilt das nicht.

KK: Man könnte auch den nächsten Schritt machen. Es gibt einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. Gegen die Teilmobilisierung in Russland gibt es Proteste und Zehntausende entziehen sich diesem Krieg. Wird diesen Menschen, die sich dem Wehrdienst entziehen, desertieren oder gegen den Krieg protestieren, geholfen? Wird ihnen ein Fluchtkorridor eröffnet? Die Reaktion der EU ist beschämend. Fakt ist: Die baltischen Staaten und ­Polen machen dicht. Die EU ist völlig zerstritten.

TOS: Leute, die sich jetzt für 5 000 Eu­ro ein Flugticket von Sankt Petersburg nach Istanbul kaufen, sind andere als irgendwelche armen Schlucker, die in Dagestan oder im Osten Russlands zwangsrekrutiert werden und nicht mehr fliehen können. Die werden verheizt. Wer kann, geht nach Finnland oder Kasachstan. Der Krieg Russlands hat einen sehr starken ethnischen ­Aspekt, das Kanonenfutter wird in den asiatischen Republiken rekrutiert.

KK: Wenn man etwas gegen Krieg unternehmen will, dann muss man den Leuten, die sich gegen den Krieg oder ein autoritäres Regime stellen, auch eine Option eröffnen, wie sie rauskommen, auch aus Drittstaaten wie der Türkei oder Georgien.

TOS: Man muss sie motivieren, das zu tun.

KK: Das schwächt auch die Kriegspartei. Humanitäre Visa sollten schnell und unbürokratisch ausgestellt werden. Aber es braucht auch Aufnahmeprogramme, um russische Staatsan­gehörige zu retten.