Israels rechter Sicherheits­minister hat den Tempelberg in Jerusalem besucht

Ärger auf dem Tempelberg

Der kurze Besuch des israelischen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir auf dem Tempelberg in Jerusalem sorgt für Empörung bei den arabischen Staaten. Kritik an der Visite gibt es auch in Israel.

Ein Besuch von Israels erst Ende Dezember neu ernanntem Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, auf dem Jerusalemer Tempelberg löste in der vergangenen Woche heftige internationale Kritik aus. China und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hatten, auf Betreiben Jordaniens und der palästinensischen Autonomiebehörde, eine Sondersitzung des UN-­Sicherheitsrats beantragt, der sich denn auch mit dem Ereignis befasste. Am Abend nach dem Rundgang des wegen seiner rechtsextremen und antiarabischen Positionen umstrittenen israelischen Politikers der nationalistischen Kleinpartei Otzma Yehudit auf dem Plateau in der Jerusalemer Altstadt feuerten palästinensische Terroristen aus dem Gaza-Streifen eine Rakete auf ­Israel ab, die jedoch ihr Ziel verfehlte und auf palästinensischem Territorium niederging. Berichte über Tote oder Verletzte gab es nicht.

Zuvor hatte der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa zufolge ein Sprecher von Mahmoud Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ben-Gvirs Besuch auf dem Tempelberg als »Erstürmung der al-Aqsa-Moschee« bezeichnet, die das palästinensische Volk, die arabische Nation und die internationale Gemeinschaft herausfordert«. Ähnlich lautende Stellungnahmen kamen aus Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE. Ben-Gvir hatte die Moschee während seines Rundgangs allerdings weder »erstürmt« noch auch nur betreten. Es handelte sich um einen recht kurzen Besuch des israelischen Politikers, der mit einer kleinen Entourage und ohne Medienvertreter um sieben Uhr morgens ganze 13 Minuten auf dem Tempelberg spazieren ging.

Die israelische Regierung betont, dass der Status quo durch Ben-Gvirs Rundgang nicht in Frage gestellt worden sei.

Der Besuch war mit Israels Sicherheitsbehörden abgestimmt und verlief ohne Zwischenfälle. Es war die bloße physische Präsenz Ben-Gvirs auf dem Tempelberg, die die Gemüter erhitzte. Der israelische UN-Gesandte Gilad Erdan bezeichnete es als »absurd«, dass sich der UN-Sicherheitsrat mit einem solchen »Nichtereignis« befasse. Obgleich das Gremium der Vereinten Nationen keine offizielle Erklärung verabschiedete, forderten mehrere Mitglieder in individuellen Stellungnahmen Israel dazu auf, den sogenannten Status quo beizubehalten, der die Verwaltung und die Besuchsrechte von Mitgliedern der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an der für alle drei monotheistischen Weltreligionen heiligen Stätte regelt und Nichtmuslimen das Beten dort untersagt. Gleichlautende Forderungen wurden auch vom US-amerikanischen Außenministerium und vom Auswärtigen Amt in Berlin verlautbart, das den Tempelberg-Besuch Ben-Gvirs außerdem als »Provokation« kritisierte.

Die israelische Regierung betont hingegen, dass es sich zum bisherigen Stand der Dinge bekenne und dieser durch Ben-Gvirs Rundgang nicht in Frage gestellt worden sei, da er zu einer Zeit stattfand, in der es Nichtmuslimen gestattet ist, den Tempelberg zu betreten. In einer Mitteilung der Regierungspressestelle heißt es: »Ministerpräsident Netanyahu steht für die strikte Aufrechterhaltung des Status quo, ohne jegliche Änderung, ein.« Im Rahmen dieses Status quo hätten israelische Minister auch in den vergangenen Jahren den Tempelberg besucht.

Die kulturelle Verwaltung des Tempelbergs ist der Waqf-Behörde Jerusalem unterstellt, einer von Jordanien ­finanzierten islamischen Stiftung. Für die Sicherheit der Stätte und polizei­liche Aufgaben ist hingegen Israel zuständig. Die Vereinbarung über den Status des Tempelbergs sieht vor, dass Nichtmuslime ihn nur zu bestimmten Zeiten besuchen dürfen. Das Beten ist ihnen dort grundsätzlich untersagt und allein Muslimen vorbehalten. Das Plateau befindet sich im Osten der Altstadt, die 1967 im Sechstagekrieg von Israel erobert und 1980 annektiert wurde. In der Antike stand auf ihm der herodianische jüdische Tempel. Über die Frage, ob auch der frühere salomonische Tempel an derselben Stelle stand, wird debattiert. Seit dem Mittelalter befinden sich hier die islamischen Heiligtümer der al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms, dessen berühmte goldene Kuppel das Stadtbild Jerusalems bestimmt. Deswegen wird das Plateau im Arabischen auch al-Haram al-Sharif, das edle Heiligtum, genannt.

Bei einer Fernsehdebatte im vergangenen Oktober, kurz vor der jüngsten ­israelischen Parlamentswahl am 1. November, sagte Ben-Gvir: »Es kann nicht sein, dass Araber auf dem Tempelberg beten dürfen und Juden nicht.« Er bezeichnete das Gebetsverbot auch als »rassistisch«. Damit hatte er, zumindest indirekt, den Status quo in Frage gestellt. Als ihn am Abend nach seinem Besuch auf dem Tempelberg die Journalistin Yonit Levi in einem ­Interview für den israelischen Fernsehsender Keshet 12 fragte, ob er sich dafür engagieren wolle, dass Juden auf dem Tempelberg beten dürfen, wich der Minister allerdings aus. In einem weiteren Beitrag des Senders heißt es, dass Ben-Gvir während seines Rundgangs nicht rituell gebetet, aber »ein leises Gebet vor sich hingemurmelt« habe.

Die Palästinenser beanspruchen Ostjerusalem als Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staats, eine Forderung, die Ben-Gvir ablehnt. Doch die Debatte über die Frage, wer auf dem Tempelberg beten darf, zeigt, dass es bei den heftigen Reaktionen auf die Visite des israelischen Ministers um grundlegende Deutungsansprüche geht. Die palästinensische Autonomiebehörde und arabische Staaten versuchen seit Jahren, die Bedeutung der Stätte für Juden und Christen zu verleugnen. Für schwere Kontroversen sorgte eine im Oktober 2016 von einer Gruppe arabischer Staaten eingebrachte und verabschiedete Unesco-Resolution, die den Tempelberg lediglich bei seinem arabischen Namen nennt und damit die historisch-kulturelle Verbindung zwischen dem Judentum und der Stätte negiert. Die Erklärung forderte außerdem das Ende einer archäologischen Ausgrabung in Jerusalems Altstadt, welche die Verbindung des Orts zum Judentum belegt – das war ein Grund dafür, dass Israel am Jahresende 2018 aus der Weltkulturorganisation der Vereinten Nationen austrat.

Das jordanische Außenministerium geißelte den Tempelberg-Besuch Ben-Gvirs der Nachrichtenagentur Reuters zufolge als »Entweihung« der al-Aqsa-Moschee. Der jordanische Parlamentsabgeordnete Yanal Abd al-Salam Nour al-Din al-Fraihat verstieg sich Berichten des israelischen Nachrichtensenders I24 News zufolge bei einer Sitzung des Jordanischen Nationalrats zu einer antisemitischen Tirade, in der er jüdische Israelis als »Söhne von Affen und Schweinen« beschimpfte und drohte, »alle Jordanier« würden »zu Selbstmordattentätern für Palästina und al-Aqsa werden«, da Ben-Gvir eine »rote Linie« überschritten habe. Ein Sprecher der palästinensischen Terrororganisa­tion Hamas, die den Gaza-Streifen kontrolliert, sagte Keshet 12 zufolge, es handele sich um einen »kriminellen Angriff auf die palästinensische, arabische und islamische Identität von ­al-Aqsa« und einer »Provokation seines Volkes«. Er drohte indirekt mit Gewalt und sagte, dass das Ereignis eine »Eskalation näherbringe«, für die Israel verantwortlich sein werde.

Doch auch in Israel wird Ben-Gvirs Besuch auf dem Tempelberg kritisiert, da er in den Augen vieler Israelis unnötige Konflikte provoziere. Der Ausbruch der zweiten Intifada folgte im September 2000 auf einen Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg. Einer Umfrage von Keshet 12 zufolge sind 59 Prozent der Israelis der Meinung, Ben-Gvir hätte nicht auf den Tempelberg gehen sollen. Kommentatoren in israelischen Medien werfen dem Sicherheitsminister vor, er ordne die Sicherheit des Lands einer populistischen Geste an seine Wählerschaft unter. Ben-Gvir hingegen kontert, man dürfe sich von den Gewaltandrohungen der Hamas nicht einschüchtern lassen.

Israels Oppositionsführer Yair Lapid von der liberalen Partei Yesh Atid sieht in dem Geschehen einen Ausdruck der Schwäche von Ministerpräsident Ben­jamin Netanyahu, der sich in seiner neuen Regierungskoalition von rechtsextremen Kräften wie Ben-Gvirs Partei abhängig gemacht und dem Minister dessen Besuch auf dem Tempelberg bewilligt habe. Auf Twitter schrieb Lapid: »Das passiert, wenn ein schwacher Ministerpräsident gezwungen ist, dem verantwortungslosesten Mann im Nahen Osten den explosivsten Ort im ­Nahen Osten anzuvertrauen.« Am Montag zitierte die in London erscheinende arabische Tageszeitung Asharq al-Awsat eine ungenannte ägyptische Quelle dahingehend, dass der Vorfall zwar Einfluss auf die Beziehung zwischen der Regierung Netanyahu und Ägypten haben werde, dass aber keine schwerwiegenden Spannungen in den bilateralen ägyptisch-israelischen Beziehungen zu erwarten seien.