Die Diskussion über die Silvesternacht in Berlin-Neukölln

Die große Neukölln-Debatte

In der Debatte über die Ausschreitungen in der Silvester­nacht versuchen Konservative und Linksliberale ihr eigenes Weltbild zu bestätigen. Den Erfahrungen und Interessen der Neuköllner Anwohner wird wenig Beachtung geschenkt.
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Es war ein Déjà-vu in den deutschen Medien. Die noch andauernde Debatte über die Silvesternacht in Berlin-Neukölln lief nach alt­bekannten Mustern. Während die eine Seite einen kompletten Bezirk und seine migrantischen Bewohner:innen für die Angriffe auf die Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr verantwortlich machte, versuchte die andere Seite, Erklärungen dafür in der verfehlten Sozialpolitik des Staats zu suchen. Und einmal mehr gingen die Meinungen und die Interessen der Anwohner in der Debatte völlig unter. Stattdessen versuchten die Parteien, die Debatte zu nutzen, um sich für die bevorstehende Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses warmzulaufen.

Doch zunächst von vorn: In der Silvesternacht kam es teilweise zu heftigen Übergriffen auf Beamte der Berliner Feuerwehr und Polizei, die von Jugendlichen mit Pyrotechnik und anderen Gegenständen aggressiv attackiert worden sind. 145 Personen seien in der Nacht vorläufig festgenommen worden, hieß es zunächst von Seiten der Polizei. Von den Festgenommenen hätten der Polizei zufolge 45 die deutsche Staatsbürgerschaft, 27 die afghanische, 21 die syrische, neun die irakische und jeweils fünf die polnische, türkische und libanesische.

Schnell wurden Parallelen zu den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015 gezogen und über die gescheiterte Inte­gration von Neuköllner:innen geklagt, weil im Berliner Fall der überwiegende Teil der Verdächtigen Ausländer gewesen seien. Doch tatsächlich bezogen sich die zunächst kursierenden Zahlen auf alle Personen, die in der Silvesternacht festgenommen wurden, aus welchen Gründen auch immer. Wie eine Anfrage des Tagesspiegel eine Woche später zutage brachte, waren nur 38 Personen wegen Angriffen auf Rettungs- oder Polizeikräfte festgenommen worden – und davon waren zwei Drittel Deutsche.

Die Berliner CDU scheint an solchen Feinheiten kein Interesse zu haben; sie stellte im Berliner Senat einen Antrag, um zu erfahren, wie die Tatverdächtigen mit Vornamen heißen. Auch Deutsche könnten schließlich Ausländer sein, dachte man sich bei der CDU offenbar. Dass die Tatverdächtigen, auch wenn sie arabische Namen tragen, dieselben Vornamen haben können wie unbescholtene Neuköllner Bürger oder sogar wie angegriffene Beamte, kam der CDU-Fraktion anscheinend nicht in den Sinn. Prompt hagelte es Rassismusvorwürfe – zu Recht.

Auf der linksliberalen Seite sucht man unterdessen händeringend nach anderen Erklärungen für die Ausschreitungen, von den zurückliegenden Coronamaßnahmen bis zur sozial prekären Lage der Tatverdächtigen. Beides ist sicherlich nicht falsch, doch wurde damit einmal mehr die Gewalt und Kriminalität im Bezirk bagatellisiert, mit der die Anwohner:innen seit Jahrzehnten zu kämpfen haben – die dann zum Dank dafür auch noch mit den mutmaßlichen Tätern in einen Topf geworfen werden.

Auffallend ist, dass diese Erklärungsversuche kaum jemals vorgebracht werden, wenn es beispielsweise darum geht, die Ausschreitungen in der sächsischen Kleinstadt Borna zu erklären. In der Kleinstadt bei Leipzig sollen an Silvester etwa 200 teils vermummte Personen auf dem Marktplatz randaliert, das Rathaus beschädigt und Einsatzkräfte mit Böllern attackiert sowie »Sieg Heil«-Parolen skandiert haben.

Statt immer nur nach bequemen Erklärungen zu suchen, die das eigene Weltbild bestätigen, sollte man jene zur Verantwortung ziehen, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, und ihnen Grenzen aufzeigen. Und man sollte die Sorgen und Ängste der Neuköllner Anwohner:innen – ob migrantisch oder nichtmigrantisch – ernst nehmen. Sie haben die Angriffe verurteilt und sie wünschen sich in großer Mehrheit dasselbe: in einem funktionierenden Rechtsstaat zu leben.