Über die Konjunktur des Begriffs "Kritik" im Universitätsbetrieb

Warenzeichen: kritisch

In der Geisteswissenschaft ist die Beteuerung, »kritisch« zu sein, weniger Ausdruck eines Interesses an Kritik als vielmehr ein Mittel, sich selbst zu beweihräuchern und nebenbei noch die Konkurrenz auszuschalten.

Wolfgang Pohrt bemerkte 1982 in seinem Vortrag »Die Rebellion der Heinzelmännchen« über die dama­ligen Alternativen, dass ihr selbstgewählter Name »zum Warenzeichen« geworden sei und verrate, wie sie sich selbst gern sehen. 40 Jahre später schimpft sich kaum noch jemand »alternativ«, schon allein deshalb, weil eine unliebsame deutsche Partei das Wort im Namen trägt. Die zeitgemäße Variante heißt »kritisch«.

Zwar gibt es keine politische Bewegung, die sich so nennt, sehr wohl aber Leute, die sich einbilden, einer solchen anzugehören. Man findet sie dort, wo es zur Existenzbedingung gehört, sich wichtiger zu nehmen, als man ist, nämlich in der Wissenschaft, genauer: in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Unzählbar sind die Initiativen und Netzwerke kritischer Geographen, Sozialarbeiter, Psychologen oder Ökonomen. Wer eher nischig interessiert ist, wird vielleicht beim »Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte« fündig oder beim »Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung«. Sogar das Frankfurter Institut für Sozialforschung unterhält einen Arbeitskreis mit dem Namen »Kritische Soziologie«.

Wer kritische Soziologie oder kritische Ökonomie betreibt, hat keine Kritik der Soziologie vor Augen und keine Kritik der Ökonomie. Stattdessen schielt man auf eine irgendwie andere, bessere Soziologie oder Ökonomie.

Nicht anders geht es in der Theorie selbst zu: Fast jede jüngere sozial- oder kulturwissenschaftliche Strömung beansprucht für sich, zur Ökumene kritischer Theorien zu gehören. Die kritische Weißseins­forschung und die kritische Mens­truationsforschung gibt es gar nicht ohne das wichtigtuerische Adjektiv. Gesellschaftstheorie, von der Theodor W. Adorno oft sprach, ist längst passé – heutzutage betreibt man kritische Gesellschaftstheorie. Selbst wer sich noch keinen feschen Namen für den eigenen Forschungszweig ausgedacht hat, schreibt mit Selbstverständlichkeit, dass er dieses und jenes kritisch untersuche, kritisch beurteile, kritisch einordne.

Warum aber klebt man allem das Wort »kritisch« an? Und nicht mehr, wie es vor Jahrzehnten verbreitet war, »marxistisch«? Oder – der Marx­ismus ist ja out – zumindest Alternativen wie »poststrukturalistisch«, »dekonstruktivistisch«, »intersektional«? Solche inhaltlichen Bezeichnungen würden den Sprachgebrauch der altehrwürdigen Traditionen (wie »Idealismus« oder »Empirismus«) imitieren. Darauf verzichtet man aus gutem Grund: Der Streit der Theorieschulen hat sich längst aufgelöst in ein friedliches Neben­einander unzähliger Methoden, Ansätze und Perspektiven.

Hinzu kommt eine banale außertheoretische Entwicklung: Rund ein Drittel des Gesamtbudgets der deutschen Universitäten machen heutzutage Drittmittel aus – Geld, das projektbezogen und im Wett­bewerb unter Forschern verteilt wird. Die Bewerbungsprozesse sind aufwendig, der Kampf um die Kohle ist hart. Als wissenschaftlich er­folgreich gilt, wer seine Konkurrenten mit dem besseren Antrag aussticht – wer würde sich da noch die Mühe machen, ihnen mit Argumenten zu begegnen? Ein solches System gibt keinen Anlass zu ausführlichem Streit zwischen verfeindeten Schulen – Erfolg verspricht vielmehr die Beteuerung, »kritisch« zu sein.

Es bleibt allerdings bei dieser Beteuerung. Sie drückt keinen Inhalt aus, sondern eine bestimmte Haltung, gerinnt zu einer Identität. Diese meint gleichzeitig mehr und weniger als die früheren Traditionsbezeichnungen. Weniger, weil sich Dr. Hinz unter »kritisch« vorstellen kann, was immer sie will, und folglich auch Dr. Kunz im kritischen Arbeitskreis mitmachen darf, solange er Hinzens Vorträge »spannend« nennt und ­artig applaudiert. Und mehr, weil Hinz und Kunz sich damit in einem ganz besonderen Verhältnis zu Wissenschaft und Gesellschaft wähnen, eben einem ausgesprochen kritischen. Das tut heutzutage ohnehin fast jeder, vom Klimaretter bis zum Dieselfreund, vom Queeraktivisten bis zum Biologieverteidiger. Mainstream sind immer die anderen. Der Konformismus des 21. Jahrhunderts heißt Selbstüberhöhung, und die ist am leichtesten zu haben, wenn man sich in Opposition zu übermächtigen Gegnern wähnt. Darum bauschen Dr. Hinz und Dr. Kunz ihre austauschbaren Lieblingstheoretiker zum dringend notwendigen und kritischen Korrektiv auf.

Unter der Hand schwindet dabei Kritik, die den Namen verdient hätte. Auch das verrät schon die Selbstbezeichnung. Wer kritische Soziologie oder kritische Ökonomie betreibt, hat nämlich keine Kritik der Soziologie vor Augen und keine Kritik der Ökonomie. Stattdessen schielt man auf eine irgendwie andere, irgendwie linke und natürlich höchst innovative, also bessere Soziologie oder Ökonomie. Der kleine sprachliche Unterschied zwischen dem Substantiv »Kritik« und dem Adjektiv »kritisch« ist inhaltlich entscheidend: Eine Kritik der Naziphilosophie Heideggers ist etwas ganz anderes als eine kritische Heidegger-Lektüre. Das eine Mal kommt so etwas wie der »Jargon der Eigentlichkeit« dabei her­aus, das andere Mal der Poststruk­turalismus.

Die kritischen Geistes- und Sozialwissenschaftler bestätigen Pohrts Beobachtung, dass der Name, den man sich gibt, viel über einen selbst verrät. Pohrt konnte allerdings noch kaum ahnen, wie recht er hatte, als er deshalb vom »Warenzeichen« einer Bewegung sprach. Es ist wie mit der Zitronenlimonade im Supermarkt­regal: Hätte der Hersteller keinen Markennamen auf die Banderole gedruckt, könnte man das Gesöff nicht von den anderen unterscheiden, die im Regal daneben stehen.

Dieselbe Funktion, nämlich Distinktion, erfüllt im Wissenschaftsbetrieb das Warenzeichen »kritisch«. Kritische Initiativen, Forschungsverbünde und Theorien heißen so, weil sonst keiner auf die Idee käme, dass sie sich von anderen wesentlich ­unterschieden. Durch den Markennamen »kritisch« wird Stiftungen und Berufungskommissionen bedeutet, dass sie mit dem fraglichen Produkt eine gute Wahl treffen: Irgendwie wird das Zeug schon wichtig für die Gesellschaft sein. Ihre freiwillige Unterordnung unter das Diktat des Marketings ist den Akademikern nicht einmal vorzuwerfen, sondern dem Betrieb, in dem sie sich auf ­Gedeih und Verderb behaupten müssen. Die als unkritisch gescholtene Konkurrenz schläft ja nicht. Sie macht ihrerseits geltend, dass sie beson­dere Dienste für die Verwaltung, Industrie oder Geldwertstabilität ­leiste.

Unabdingbar ist derlei Marketing gerade für junge Wissenschaftler. In der Mehrzahl sind es ambitionierte Studenten und der sogenannte Mittelbau, die das Prädikat »kritisch« für sich reklamieren – also all jene, die mit den begehrten Professorenposten liebäugeln. Um einen davon abzugreifen, veröffentlichen kritische Akademiker genauso viele überflüssige Artikel wie alle anderen, bewerben sich auf Stipendien wie alle anderen und netzwerken wie alle anderen. Dass man sich bei all dem gegenseitig unterstützt, gehört zum Wesen der kritischen Zusammenschlüsse. Als Tauschbörsen für Vortragseinladungen, Sammelband­beiträge, Zitationen und Kontakte unterscheiden sie sich kaum von ­anderen Wissenschaftskartellen. Der universitäre Cliquenbetrieb bleibt derselbe – ob seine Gepflogenheiten nun kritisch oder unkritisch fort­geführt werden.

Gleichwohl unterscheidet sich die Abteilung kritische Wissenschaft in einem wesentlichen Punkt von den anderen: Sie enttäuscht Hoffnungen. Wer an der Hochschule Kurse belegt oder Vorträge besucht, um sich über Managementstrategien, die Vorteile des Zweikammersystems oder die Geschichte der Karolinger zu informieren, bekommt in der Regel geboten, was er erwartet hat. Wer aber wissen will, warum er an der Welt verzweifelt, warum Millionen Bundesbürger sich kaum genug Essen leisten können, warum Punk tot ist, warum die Documenta 15 vor antisemitischem Agitprop nur so strotzte und warum sich links gebende Poststrukturalisten den Nazi­philosophen Heidegger feiern – wer so etwas wissen will, wird mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht. Auf das geistige Scheibeneinschmeißen, für das gar nicht so wenige an die Universitäten kommen, warten sie vergeblich. Stattdessen wird ihnen beigebracht, jede menschliche Regung akademisch zurechtzustutzen und jedes Unrecht in ein theoretisches Problem zu verwandeln. Manche finden darin Erfüllung. Bei anderen erzeugt es Missmut. Aus dem speisen sich Apathie, Zynismus und noch etwas: Kritik.