Margarita Zavadskaya, Politologin, über die Migration aus Russland

»Die Kompetenten werden durch die Loyalen ersetzt«

Der Krieg gegen die Ukraine und die Teilmobilmachung haben in Russland eine neue Auswanderungswelle ausgelöst - nicht zuletzt in zentralasiatische Länder, aus denen früher Arbeitsmigranten nach Russland kamen. Margarita Zavadskaya forscht am Aleksanteri Institute – Finnish Centre for Russian, Eurasian and Eastern European Studies in Helsinki und arbeitet mit am Projekt Outrush, das russische Migranten befragt und interviewt.
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Sie gehören selbst zu denen, die Russland jüngst verlassen haben, und erforschen dieses Phänomen. Ist es schwierig, gleichzeitig Subjekt und Objekt der Forschung zu sein, zudem noch, wenn es um einen andauernden Prozess geht?

Ich zähle mich nicht zur jüngsten Welle von Migranten, da ich bereits 2011 aufgehört habe, ausschließlich in Russland zu wohnen. Dann kam ich 2016/2017 zurück und bis zum Kriegsbeginn pendelte ich zwischen Finnland und Russland im Allegro-Zug, der zwischen Sankt Petersburg und Helsinki verkehrt. Ich denke, das war für mich eher hilfreich. Aber mein Umzug verlief stückweise, anders als bei denen, die im Februar und März geflohen sind, zudem hatte er bei mir eher berufliche Gründe.

»Von den Bürgern Nordkoreas und des Iran erwarten wir auch nicht, dass sie um jeden Preis da bleiben und das Regime stürzen. Warum verlangen wir es dann von den rus­sischen Bürgern?«

Worin besteht Ihre Forschungsarbeit über die Migration aus Russland?

Unser Projekt Outrush widmet sich der Erforschung der Emigration aus Russland nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 mit Hilfe der wiederholten Befragung derselben Personen und zusätzlicher Interviews. Wir haben bereits zwei Runden der Umfrage durchgeführt, an denen in der Summe über 2 000 Personen teilnahmen, und im vergangenen Sommer einige Interviews in der georgischen Hauptstadt Tiflis geführt. Für die nächsten Monate planen wir eine dritte Runde und Interviews mit Emigranten in Kasachstan, Armenien, der Türkei und Serbien.
Äußern die Befragten Ängste? Gibt es Probleme, in Kontakt mit ihnen zu treten?

Überraschenderweise kaum. Es ist verwunderlich, aber einige Befragte sprechen sogar über Sachen, die eigentlich strafbar sind. Selbstverständlich gibt es auch diejenigen, die misstrauisch sind. Nach der ersten Runde der Umfrage im März bekamen wir einige Kommentare über »den Genossen Major« (auf einem sowjetischen Witz beruhender geläufiger Verweis auf einen vermuteten geheimdienstlichen Hintergrund, Anm. d. Red.). Aber solche Befürchtungen werden selten geäußert.

Wie viele Menschen haben mit der Auswanderungswelle seit Kriegsbeginn Russland verlassen?

Eine präzise Zählung ist nicht möglich. Wir stürzen uns auf die Statistik der aufnehmenden Länder. Die Schätzungen liegen weit auseinander. Mindestens 70 000 Menschen haben Russland verlassen. Die Kollegen von Kovcheg (Die Arche, eine im März vorigen Jahres gegründete Hilfsorganisation für rus­sische Migranten, Anm. d. Red.) gehen aber von etwa eineinhalb Millionen Menschen aus.

Warum ist die genaue Erfassung so schwierig?

Weil Russlands Grenzschutz, Innenministerium und Zoll alle registrieren, die überhaupt das Land verlassen, einschließlich Touristen, Geschäftsreisenden und so weiter. Daher sind diese Zahlen sehr hoch. Zudem haben viele der Ausgereisten sich nicht an ihrem festen Wohnsitz in Russland bei den Ämtern abgemeldet, weil sie es nicht wollten, es vergessen haben oder einfach keine Zeit hatten. Schon gar nicht geben sie ihre Staatsbürgerschaft auf, das ist ein sehr kompliziertes Verfahren in Russland. Daher lassen sich diejenigen, die für immer weggezogen sind, und diejenigen, die sich nur zeitweise im Ausland auf­halten, nur schwer auseinanderhalten.

Ein weitverbreitetes neues Wort des Jahres 2022 in Russland war neben »Spezialoperation« als Euphemismus für Krieg »relokazija«, Relo­kation, international ein Begriff aus dem Dienstleistungsbereich für den Ortswechsel aus beruflichen Gründen – ein Euphemismus für Auswanderung. Handelt es sich dabei wirklich um ein neues Phänomen?

Es ist kein neues Phänomen. Beschäftigte der IT-Branche sind auch schon vor dem Krieg ins Ausland umgezogen. ­Eigentlich handelt es sich um Personen, die gemeinhin als Expats bezeichnet werden. Im Zusammenhang mit Krieg haben sich viele Spezialisten »relokalisiert«, sie sind ins Ausland umgezogen. Insofern ist das nur eine Form der Emigration.

Die Emigration wird sowohl von den regierungstreuen Medien Russlands als auch von vielen Oppositionellen und westlichen Beobachtern als Sache einer Elite bezeichnet. Häufig ist von »brain drain«, dem Verlust von Fachkräften, die Rede. Stimmt es, dass es vor allem die wohlhabenden und gut ausgebildete Großstadtbewohner das Land verlassen? Ist es derzeit teuer, Russland zu verlassen?

Ja, vor der Verkündung der Teilmobilmachung im September wanderten vor allem die Angehörigen der privilegierten Gruppen aus, nun sind es mehr Leute aus ländlichen Regionen. Die Kosten des Aufenthalts, vor allem die Mieten, sind in Kasachstan, Armenien und Georgien erheblich gestiegen.

Hat die Auswanderung negative Folgen für Russland?

Die negativen Folgen werden sich auf mittlere und längere Sicht zeigen. Die Kompetenten werden durch die Loyalen ersetzt. Wissenschaft und Bildung werden am stärksten in Mitleidenschaft gezogen. Alles, was mit freiem Wort und Weltoffenheit zu tun hat, droht völlig verlorenzugehen.

Häufig wird gefordert, dass Russen nicht auswandern, sondern bleiben und gegen das Regime kämpfen sollen. Wie sehen Sie das?

Ich halte das für eine sehr schädliche und heuchlerische Position. Von den Bürgern Nordkoreas und des Iran erwarten wir doch auch nicht, dass sie um jeden Preis da bleiben und das Regime stürzen. Warum verlangen wir es dann von den russischen Bürgern? Im Übrigen gibt es durchaus Widerstand, aber wer sich daran beteiligt, landet schnell hinter Gittern.

Wie steht es um die Aufnahmebereitschaft der Zielländer für »Kriegsmigranten« aus Russland?

Die Politik unterscheidet sich stark von Land zu Land. In der EU, und besonders in Estland, Finnland und Polen, ist die Aufnahmebereitschaft gering, sie wollen weder Touristen noch politische Emigranten. Deutschland und die Niederlande betreiben eine freundlichere Politik. In Kasachstan, Usbekistan, Armenien und Kirgisien ist die Haltung relativ wohlwollend, aber die politische Opposition ist dort nicht sicher vor russischen Behörden. Georgien beginnt, sich gegen Emigranten abzuschotten.

Was lässt sich über die derzeitige Migrationswelle unter Gender-­Aspekten sagen? Die Teilmobilmachung betrifft ja die Männer. Ver­­­­las­sen sie Russland ohne ihre Familien?

Ja, diejenigen, die vor der Rekrutierung flohen, reisten häufig alleine aus. Sie wollten entweder das Ende der bedrohlichen Zeiten abzuwarten oder die Familie zu sich zu holen, wenn sie selbst sich am neuen Ort eingelebt haben. Diese Migranten hatten nicht die Möglichkeit, die Ausreise langfristig vor­zubereiten.

Rhetorik gegen Migranten war in den vergangenen Jahren in der staatlichen Propaganda, aber auch in manchen oppositionellen Me­dien Russlands sehr verbreitet. Wie verhalten sich die russischen Staatsbürger zu anderen migrantischen Gruppen, wenn sie selbst plötzlich Migranten sind? Wie sind ihre Beziehungen zu den alteingesessenen postsowjetischen Migranten und den ukrainischen Flüchtlingen?

In Kasachstan, Usbekistan und Kirgisien sind die neuen, »umgekehrten« ­Hierarchien – also Russen als Migranten in Ländern, aus denen früher Arbeitssuchende nach Russland kamen – eher Gegenstand von Scherzen. Die ­Beziehungen zu den alteingesessenen Communitys in den westlichen Länder sind entweder nicht vorhanden oder gespannt. Mehr Verbindungen gibt es zu den in jüngeren Zeit, aber noch vor dem Krieg ausgereisten Aktivisten. Das Verhältnis zu den ukrainischen Flüchtlingen ist sehr unterschiedlich, aber Fälle von Kooperation und gegenseitiger Hilfe sind nicht selten.

In den liberalen oppositionellen Kreisen Russlands ist es jetzt Mode geworden, »imperskost«, den im­perialen Geist oder Habitus, abzulegen. Bedeutet das, dass viele ­Migranten jetzt anfangen, Georgisch oder Usbekisch zu lernen?

Ja, geistige Dekolonisierung ist ein starker Trend in der oppositionellen Öffentlichkeit. Und ja, die Migranten fangen häufig an, enthusiastisch die Sprachen der Aufnahmeländer zu lernen. Eine andere Frage ist, ob die Motive nicht eher praktischer Natur sind. Die Sprachen werden meist gelernt, weil man ohne deren Kenntnis nicht zurechtkommen und keine Arbeit finden kann. Das sind die stärksten Stimuli. Aber nicht für alle Migranten aus Russland ist das eine dringende ökonomische Notwendigkeit. Laut unseren Umfragen ist jedenfalls der Wille, die Sprachen der Aufnahmeländer zu lernen, stark.

Haben die Versuche, eigene politischen Organisationen im Exil zu gründen, wie das Antikriegskomitee Russlands, eine Chance auf breite Unterstützung der Migranten? Bislang scheinen die Projekte prominenter Exilrussen wie zum Beispiel Michail Chodorkowskij und Garri Kasparow zu dominieren.

Es scheint so, als würden die oppositionellen Exilprojekte und die nun massenhaft Emigrierenden in zwei Parallelwelten leben. Das Projekt von Garri Kasparow und Dmitrij Gudkow, einen »Pass des guten Russen« einzuführen, um Regimegegnern eine bessere Behandlung in den Aufnahmeländern zu verschaffen, gibt in keiner Weise die Hoffnungen, Haltungen und Ansichten der nach dem 24. Februar Ausgereisten wieder. Es ist kein Resultat einer breiten und inklusiven Diskussion, sondern ein elitärer Versuch der früher ausgereisten Unternehmer, sich weißzu­waschen. Sie repräsentieren nicht die neue Opposition.

Margarita Zavadskaya studierte Politische Wissenschaft an der European University in Sankt Petersburg. Derzeit arbeitet sie als stipendienfinanzierte Forscherin am Aleksanteri Institute – Finnish Centre for Russian, Eurasian and Eastern European Studies in Helsinki.