Die ukrainische Rückeroberung von Cherson befeuert innerrussische Kritik am Krieg

Russlands Misere

Die Ukraine hat die Stadt Cherson zurückerobert. Die innerrussische Kritik an der Kriegsführung wird lauter.

Als ukrainische Streitkräfte am Freitag vergangener Woche in die acht Monate lang von russischen Truppen besetzte Stadt Cherson einzogen, herrschte auf den Straßen eine ausgelassene Stimmung. Fast machte es den Eindruck, als sei der Sieg schon greifbar nah. Schließlich befindet sich mit Cherson die einzige Gebietshauptstadt, die Russland nach der Militärinvasion im Februar erobert hatte, wieder unter ukrainischer Kontrolle. Am Montag machte sich auch Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Bild von der Situation in der Stadt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits alle russischen weiß-blau-roten Flaggen verschwunden und den ukrainischen Nationalfarben Gelb und Blau gewichen.

Das Ausmaß an Zerstörung ist allerdings immens. Die zivile Infrastruktur, wie Wasser- und Stromleitungen, wurde von russischen Truppen vor dem Abzug stark beschädigt, der Handy- und Internetempfang ist eingeschränkt. Wichtige Einrichtungen seien vermint, teilte Selenskyj bei seinem Besuch in der Stadt mit. Wert- und Kunstgegenstände, darunter 15 000 Museumsexponate, sowie Sanitärtechnik und Kloschüsseln, schaffte die russische Armee über den Dnjepr. Als Rechtfertigung hatten russische offizielle Stellen verlautbart, die ukrainische Regierung plane den flussaufwärts gelegenen Staudamm zu sprengen und Cherson zu fluten.

Selbst vor den Tieren des örtlichen Zoos machten russische Soldaten nicht halt: Ein vor den imaginierten Flutwellen evakuierter Waschbär geriet zum Symbol dieses Raubzugs. Auch Tausende Bewohner haben auf Anweisung der russischen Besatzungsmacht in den vergangenen Wochen ihre Wohnungen auf dem rechten Dnjepr-Ufer verlassen und halten sich nun auf der anderen Seite des Flusses auf, von wo sie nicht mehr ohne weiteres zurückkehren können. Denn die beide Ufer verbindende Antoniwkabrücke wurde gesprengt, mutmaßlich vom russischen Militär.

Gleich nach seiner Ernennung zum Kommandeur der vereinten Streitkräfte Russlands Anfang Oktober kündigte General Sergej Surowikin »schwierige Entscheidungen« an. Es ist anzunehmen, dass der Rückzug vom rechten Dnjepr-Ufer bereits zu diesem Zeitpunkt beschlossene Sache war, wie die New York Times berichtete.

Surowikins Funktion bestand nicht zuletzt darin, blamable Botschaften zu überbringen. Am 9. November durften russische Fernsehzuschauer be­obachten, wie er während eines Lageberichts den Rückzug der Streitkräfte vom rechten Dnjepr-Ufer forderte, um den Fluss als neue Verteidigungslinie gegen weitere Vorstöße ukrainischer Einheiten zu nutzen, und wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu das Vorhaben abnickte. Dass es sich dabei bereits um vollendete Tatsachen handelte, sagte er nicht.

Obwohl die Öffentlichkeit darauf vorbereitet war, blieb zumindest aus dem rechten Lager heftige Kritik nicht aus. Das Internetportal des Fernsehsenders Zargrad TV, der dem der russisch-orthodoxen Kirche nahestehenden Unternehmer Konstantin Malofejew gehört und als Sprachrohr der Verfechter einer »russischen Welt« auftritt, fand wenig schmeichelnde Worte: »Wenn der Abzug der russischen Truppen aus Cherson ein Schritt zu einem sogenannten schmählichen Frieden ist, heißt das, der Tod unserer russisches Land verteidigenden Kämpfer war umsonst. Und wer eine solche Entscheidung trifft, gehört mindestens aus dem Amt entfernt, im Extremfall aber zum Tod verurteilt.« Sollte sich allerdings herausstellen, dass Cherson eines spä­teren großen Sieges willen vorübergehend aufgegeben wurde, müssten die neuen Gegebenheiten akzeptiert ­werden.

Der rechtsextreme Ideologe Aleksandr Dugin geht davon aus, dass Cherson bereits komplett verloren sei, und macht dafür die Staatsführung verantwortlich. Jewgenij Prigoschin wiederum, der Leiter der paramilitärischen Wagner-Gruppe, sonst nicht um Kritik an der Armeeführung verlegen, lobte Surowikin für seine Offenheit, machte aber gleichzeitig deutlich, dass seine Söldnertruppe nichts mit der Aufgabe von Cherson zu tun habe. Auch Tsche­tscheniens Präsident Ramsan Kadyrow lobte den Kommandeur der Streitkräfte für seine »weise und weitsichtige Entscheidung«.

Andere Scharfmacher reagierten verhalten oder gar nicht – anders als beim Rückzug aus dem Charkiwer ­Gebiet im Sommer. Das trifft insbesondere auf zahlreiche Kriegskorrespondenten wie Aleksandr Koz von der Tageszeitung Komsomolskaja Prawda zu, die auf ihren Telegram-Kanälen teils Zehntausende Follower haben und schon zu Beginn der sogenannten Spezialoperation für eine offensive Kriegsführung eingetreten waren.

Inzwischen soll es unterschiedlichen Berichten zufolge Listen von allzu eigenwilligen und lautstarken Kriegsbefürwortern geben, die mit der Drohung von Strafverfahren an die Kandare genommen zu nehmen seien. Da der russische Machtapparat nichts gerne dem Zufall überlässt, hat die Präsi­dialverwaltung nach Angaben des unabhängigen Nachrichtenportals Wjorstka (auch »Verstka« transkribiert) staatlichen Medien Vorgaben erteilt, welche Abgeordneten der Duma nur noch eingeschränkt zitiert werden dürfen. Redeverbot erhalten fast alle, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach durch offizielle Positionen nicht vertreten fühlen.

Zudem erzeugen die geltenden Gesetze ein Dilemma, das verdeutlicht, welches Chaos Putins Herrschaftsmodell in vieler Hinsicht charakterisiert: Wer sich hinter die Entscheidung der Armeeführung stellt und den Rückzug aus Cherson begrüßt, riskiert ein Strafverfahren wegen Aufrufs zum Verstoß gegen die territoriale Integrität Russlands. Wer den Rückzug hingegen kritisiert, läuft Gefahr, wegen Diskreditierung der russischen Streitkräfte zur Verantwortung gezogen zu werden. In beiden Fällen droht eine Haftstrafe.

Brücken hinter sich abbrechen, aber immer eine Hintertür offenhalten – so in etwa lässt sich der widersprüchliche Umgang der russischen Führung mit der derzeitigen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Misere in Kurzform zusammenfassen. Putin macht dabei jedenfalls keine gute Figur, auch wenn oder gerade weil er die Verantwortung für die offensichtliche Niederlage an andere delegiert. Regierungssprecher Dmitrij Peskow wollte widersprüchliche Reaktionen auf die Aufgabe Chersons gar nicht erst kommentieren. Er stellte lediglich klar, dass man das Gebiet auf dem rechten ­Dnjepr-Ufer nach wie vor als russisches Staatsterritorium ansehe.