Das Institut für Sozialforschung wird 100 Jahre alt

Herberge statt Grand Hotel

Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main feiert am 23. Januar seinen 100. Geburtstag. Dessen prominenteste Persönlich­keiten sind die Gesellschaftskritiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Unter den unterschiedlichen Institutsleitern ließ sich immer auch eine Veränderung der inhaltlichen Ausrichtung beobachten.

Zu seinem 100. Geburtstag gibt sich das Institut für Sozialforschung radikal. Wer die Homepage der Frankfurter Forschungseinrichtung besucht, wird mit einem Zitat Max Horkheimers aus dem Jahr 1937 begrüßt: »Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Men­schen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.« In seinem programmatischen Text »Traditionelle und kritische Theorie« hatte der damalige Institutsdirektor betont, dass es die Aufgabe einer kritischen Sozialforschung sei, auf die grundlegende Umwälzung der bestehen­den Verhältnisse hinzuarbeiten.

Auch die Einladung zur zweiten Marxistischen Arbeitswoche, die im Rahmen der Jubiläumsjahres im Mai am Institut stattfinden soll, schlägt einen kämpferischen Ton an: »In der gegenwärtigen Kumulation gesellschaftlicher Krisenphänomene« werde »die Unhaltbarkeit der gegebenen Verhältnisse immer offensichtlicher«. Bisher sei es kritischer Theorie und Praxis allerdings kaum gelungen, Antworten auf die Situation zu finden.

Viele linke Studierende der Achtundsechziger-Generation hatten die beiden Professoren zunächst als Vorbilder gesehen, warfen ihnen aber bald mangelnden revolutionären Elan vor.

Der Veranstaltungstitel bezieht sich auf die erste Marxistische Arbeitswoche: Im Mai 1923 hatten sich dazu rund 25 kommunistische Theoretiker:innen – unter ihnen Karl Korsch, Georg Lukács und Friedrich Pollock – im thüringischen Geraberg versammelt. Auf dem Programm stand die Auseinandersetzung mit den damaligen Krisenphänomenen, methodischen Fragen und der zukünftigen Organisation marxistischer Forschung. Zu dem Treffen hatte das Frankfurter Institut für Sozialforschung eingeladen, das nur wenige Wochen ­zu­vor auf Initiative des linken Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Kurt Gerlach und des jungen Nationalökonomen Felix Weil gegründet worden war. Das Vermögen der Familie Weil finanzierte Aufbau und Betrieb des Instituts.

Nachdem sich die Einrichtung unter der Leitung des Austromarxisten Carl Grünberg zunächst in eine orthodox marxistische Richtung entwickelt und die Erforschung der Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt gestellt hatte, erhielt das Institut unter der Leitung Max Horkheimers ab 1931 eine neue Ausrich­tung: Auf Grundlage eines interdiszi­plinären Materialismus, der verschiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer verband, sollte eine kritische Theorie der Gesellschaft erarbeitet werden. Die konkreten Gegenstände wurden von der geschichtlichen Realität vorgegeben, deren Opfer die Institutsmitglieder bald werden sollten: Wie war der Übergang vom Liberalismus zum Faschismus zu erklären? Wieso schlossen sich so viele Menschen bereitwillig der nationalsozialistischen Bewegung an, anstatt an einer humanen Umgestaltung der Gesellschaft mitzuwirken?

Im Frühjahr 1933 löste die Gestapo das Institut wegen staatsfeindlicher Bestrebungen auf. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Mitglieder der Forschungseinrichtung – zum größten Teil linke Intellektuelle aus jüdischen Familien – ihre Emigration bereits vorbereitet, auch das Institutsvermögen konnte gerettet werden. Zunächst siedelte das ­Institut nach Genf, wenig später dann in die Vereinigten Staaten über, wo bahnbrechende empirische Studien entstanden – vor allem die fünf »Studies in Prejudice«, deren erste unter dem ­Titel »The Authoritarian Personality« Weltruhm erlangte.

Während einige bedeutende Mitglieder des Instituts – wie Leo Löwenthal und Herbert Marcuse – in den USA blie­ben, kehrten Anfang der fünfziger Jah­re Horkheimer und Theodor W. Adorno, die im US-amerikanischen Exil die »Dialektik der Aufklärung« verfasst hat­ten, sowie Pollock nach Deutschland zurück, um das Frankfurter Institut wiederaufzubauen. Die Rückkehr in das Land der Täter war keinesfalls selbstverständlich. Neben dem Wunsch, wieder in deutscher Sprache zu arbeiten, waren die Remigranten von der Hoffnung motiviert, an der geistigen Ent­nazifizierung Deutschlands mitzuwirken. In einem Brief an den Hochschulreferenten im hessischen Kultusministerium, Hermann Lietz, schrieb Horkheimer 1948, dass »die wenigen Men­schen, welche unmittelbar unter dem Schrecken Hitlers ihm innerlich und äußerlich widerstanden haben, in der ganzen Welt uns am nächsten stehen. Für sie, die immer noch isoliert sind, kann das, was wir Ausgewander­ten zu sagen haben, am fruchtbarsten werden. Theoretisch wie praktisch bedürfen sie der Ermutigung.«

Die Erfahrungen des Exils und die Reflexion des Antisemitismus blieben für das praktische und theoretische Wirken Horkheimers und Adornos zentral. Insbesondere Horkheimer bezog sich immer wieder auf Motive aus der jüdischen Religionsphilosophie und hielt damit eine Geistestradition am Le­ben, die der Nationalsozialismus beinahe vernichtet hätte. Viele linke Studie­rende der Achtundsechziger-Generation sahen die beiden Professoren zunächst als Vorbilder, warfen ihnen aber bald mangelnden revolutionären Elan vor. An den spezifischen Erfahrungen ihrer jüdischen Lehrer zeigten sie ein vielsagendes Desinteresse. Erst 1987 arbeite Detlev Claussen heraus, welche Bedeutung die Reflexion der nationalsozialistischen Judenverfolgung für Adornos Philosophie hatte: »Offensicht­lich wird erst heute sichtbar, dass im Zentrum des Adornoschen Werkes Auschwitz steht.« Claussen schrieb seinen Text vor dem Hintergrund des ersten Historikerstreits und wandte sich ge­gen den Versuch rechter Intellektueller, den Holocaust zu relativieren. Es sei falsch, »Auschwitz zu einer ganz normalen geschichtlichen Grausamkeit wie andere auch« zu erklären.

Ab den siebziger Jahren bestimmte Jürgen Habermas die öffentliche Wahrnehmung des Frankfurter Instituts, lehnte den Posten des geschäftsführenden Direktors allerdings ab, den nach Horkheimer für lange Zeit Ludwig von Friedeburg innehatte. Anfang des neuen Jahrtausends übernahm schließlich der Sozialphilosoph Axel Honneth das Amt, der mit seinen Arbeiten zum Begriff der Anerkennung an Habermas' kommunikationstheoretische Überlegungen anknüpfte. Wie diese philosophischen Ansätze zu bewerten sind, ist weiterhin umstritten: Während manche in den Texten Habermas’ und Honneths eine zeit­gemäße Erneuerung der Kritischen Theorie sehen, merken Kritiker:innen an, dass durch den Fokus auf die interpersonale Ebene der Blick für die materielle Einrichtung der Gesellschaft ver­lorengegangen sei.

Im April 2021, pünktlich zu den Jubiläumsvorbereitungen, übernahm schließlich der Soziologe Stephan Lessenich die Institutsleitung. Lessenich war zuvor Professor in Mün­chen gewesen, wo er auch an der Gründung der linken Kleinstpartei Mut beteiligt war. Außerdem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des globalisierungskritischen Netzwerks Attac. Seine Pläne zur Neuausrichtung des Instituts hat er in einem kurzen Beitrag für die Zeitschrift Soziologie umrissen: Das Institut solle »offen für Neues, für Impulse von außen, für die Fragen der anderen« werden, unter anderem indem der klassische Kanon der Kritischen The­orie um »queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven« erweitert werde. In Sichtweite des alten Grand Hotel Abgrund – so hatte Georg Lukács die Kritische Theorie polemisch charakterisiert – könne dann die »Petite Auberge Aufbruch« (Kleine Herberge Aufbruch) entstehen.

Es bleibt offen, wie dieser Anspruch in Zukunft am Institut konkret eingelöst werden soll. In einem Interview, das Lessenich im April 2022 dem Westdeutschen Rundfunk gab, war von der propa­gierten Aufbruchstimmung wenig zu spüren. Lessenichs Äußerungen zum russischen Angriff auf die Ukraine klangen weniger nach einer erneuerten Gesellschaftstheorie als nach verstaubtem Antiimperialismus linker Prägung: Er lehnte deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine ab und warn­te vor einer »absoluten Dämonisierung Putins«. »Dieser Mann« sei zwar ein Problem, so Lessenich, »die einseitige Dämonisierung« führe indes nur dazu, »in diesem Lande die Diskussion über Aufrüstung, über Wehrausgaben, über angemessene Verteidigungspolitik zu unterminieren«.

Möglicherweise hätte sich an dieser Stelle ein Blick auf die erste Generation der Kritischen Theorie gelohnt. Aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus und der Verbrechen des Stalinismus waren Horkheimer und Adorno von der Notwendigkeit überzeugt, den bürgerlichen Staat gegen dessen autoritäre Konkurrenten zu verteidigen. Bereits in den fünfziger Jahren war am Ins­titut für Sozialforschung eine Studie im Auftrag der Bundeswehr entstanden. Ziel war es, Methoden zur Auswahl geeigneter – zuvorderst: demokratischer – Bewerber für die Offizierslaufbahn zu entwickeln. Zugleich geben Horkheimers und Adornos Texte aus dieser Zeit Auskunft darüber, dass sie sich keine ­Illusionen über den gewaltvollen Charakter der bestehenden Gesellschaft machten.

Ob auf die radikalen Ankündigungen des heutigen Instituts für Sozialforschung eine Wissenschaftspraxis in der Tradition der ersten Generation der Kritischen Theorie folgen wird, ist also fraglich. Andererseits ist die Klage dar­über, dass der eigentliche Geist der Kritischen Theorie im Universitätsbetrieb verraten werde, inzwischen beinahe so eingeschliffen wie der Betrieb selbst. Über den kritischen Gehalt sozialwissenschaftlicher Forschung kann nicht vorweg geurteilt werden, er zeigt sich erst in ihrer Praxis.