Die Science-Fiction-Serie »The Peripheral«

Ungemütliche Zeiten

Gute Science-Fiction-Serien sind rar, »The Peripheral« ist eine davon. Die auf einem Roman von William Gibson basierende Produktion führt die Zuschauer in ein dysto­pisches London der Zukunft – und weicht zum Glück des Öfteren von der Vorlage ab.

Das ländliche Amerika macht keinen Spaß. Gegenwärtig nicht, und wenn es nach der Amazon-Prime-Serie »The Peripheral« geht, auch nicht in etwa einem Jahrzehnt, im Jahr 2032. Flynne Fisher (Chloë Grace Moretz) wohnt mit ihrer kranken Mutter in einem heruntergekommenen Haus am Rand der Kleinstadt Clanton, ihr Bruder Burton (Jack Reynor) lebt in einem heruntergekommenen Air­stream-Wohnwagen gleich nebenan. Flynne arbeitet in einer 3D-Druckerei und kümmert sich um ihre Mutter, Burton lebt von der Unterstützung der VA (Veterans Affairs), denn er gehörte einst zu einer Eliteeinheit der Marines, in der die Mitglieder mit Hilfe einer Art Bluetooth zu einem kognitiven und emotionalen Ganzen verschmolzen waren. Er leidet an einem posttraumatischen Belastungssyndrom und an den Nebenwirkungen der in seinen Körper eingepflanzten, immer noch aktiven Technologie. Dabei ist er noch weit besser weggekommen als sein Kamerad Conner Penske (Eli Goree), dem seit dem Kriegseinsatz der halbe Körper fehlt und der meist mit einem spezialangefertigten Trike nachts durch die Gegend donnert, gern auch berauscht von Alkohol und Drogen.

Wer die Romanvorlage zur Hand nimmt, entdeckt, dass nicht nur einzelne Figuren anders akzentuiert, neu hinzugefügt oder entfernt worden sind, sondern dass das auch für ganze Handlungsstränge und Themenkomplexe gilt.

Keine rosigen Umstände in Clanton also, was sich auch in Politik und Ökonomie zeigt. Die Machtstrukturen in diesem Landstrich sind schnell aufgedröselt: Ein skrupelloser ehemaliger Autohändler namens Corbell Pickett (Louis Herthum) kontrolliert die Herstellung und den Vertrieb synthetischer Drogen im ganzen Landstrich – und damit den einzig übriggebliebenen profitablen Wirtschaftszweig. Daneben gibt es noch die Gesetzeshüter in Form von Sheriff Jackman (Ben Dickey) und seinem Deputy Tommy Constantine (Alex Hernandez), der zwar selbst nicht Teil des schmutzigen Vereins ist, aber Tag für Tag eine ganze Menge Schmutz übersehen muss. So läuft das in Clanton, und das schon lange.

In diese Gemengelage aus Korruption und Resignation bricht völlig unvermutet die fernere Zukunft ein. Burton bessert nämlich illegalerweise seine VA-Rente durch seine Tätigkeit als bezahlter Gamer auf; seine Fähigkeiten als ehemaliger Marine sind da nur nützlich. Aber Flynne ist im virtuellen Ballern mindestens genauso so gut wie er, und sie vertritt ihn, wenn er gerade verhindert ist. Die Arzt- und Medikamentenrechnungen ihrer Mutter müssen ja auch irgendwie bezahlt werden.

Der neueste Gaming-Job fühlt sich aber anders an. Erstens hat der mysteriöse Auftraggeber ein neurales Interface vorbeigeschickt, das der gän­gigen VR-Technologie um Generationen voraus ist. Zweitens ist die seltsame Welt, in die dieses Interface führt, nicht nur extrem detailliert, sondern auch auf eine Art brutal, die selbst der erfahrenen Flynne zu schaffen macht. Und drittens geht natürlich etwas gründlich schief. Auf surreal grausame Art werden ihr in der Spielwelt Daten übertragen, von denen sie keine Kenntnis haben soll. Und dann stellt sich heraus, dass das Spiel gar kein Spiel ist, sondern der Zugang zu einer möglichen Zukunft. Seit diese mit Flynnes Gegenwart Kontakt hat, können beide einander beeinflussen. Zwar geht es nicht um Zeitreisen, sondern nur um Informationsübertragung, aber das reicht schon für allerlei ungute Verwicklungen.

Der Ort in der Zukunft, genauer gesagt im Jahr 2100, zu dem Flynne ­Zutritt hat, ist ein äußerst seltsames London. Auf den ersten Blick ist alles recht hübsch und technologisch fortgeschritten. Doch die wenigen Menschen, die dort leben, müssen sich in einer brutalen Gesellschaftsstruktur zurechtfinden. Neben kriminellen, ursprünglich russischen Oligarchen (den sogenannten Klept) gibt es noch das viel zu fortgeschrittene Research Institute und die viel zu neugierige und mächtige Metropolitan Police. Die Bevölkerungsarmut Londons ­erklärt sich aus einer Art Weltuntergang, der 80 Prozent der Menschheit zum Verschwinden gebracht hat.

Einen entscheidenden Vorteil haben Bewohner:innen dieses Londons allerdings, vorausgesetzt sie verfügen über das nötige Geld und den Zugang zu einem bestimmten chinesischen Server: Sie können vergangene Paralleluniversen (sogenannte Stubs) nicht nur beeinflussen, sondern mit frei gewählten Parametern und Konfigurationen selbst erschaffen. Ein Hauptspaß dabei ist, durchzuspielen, ob und, wenn ja, wie der Weltuntergang (»Jackpot« genannt) in diesen gleichzeitig künstlichen und realen Welten stattfindet, oder die betreffenden Welten so zu editieren, dass er einen dem jeweiligen Spieler genehmen Verlauf nimmt. Burton und Flynne stolpern über die Tatsache, dass sie Figuren in einem ebensolchen Spiel sind, das zum Beispiel Leute wie Lev Zubov (JJ Feild) spielten, der ebenso charmante wie mörderische Klept, mit dem es die beiden zu tun bekommen.

Die Serie basiert auf einem 2014 erschienenen gleichnamigen Roman des Cyberpunk-Begründers William Gibson. Hat es das Team um die »Westworld«-Produzent:innen Lisa Joy und Jonathan Nolan nun geschafft, aus dieser Vorlage eine gute Fernsehserie zu machen? Und ob. Die Schauspieler:innen sind hervorragend. JJ Feild gibt Lev Zubov mit ­einer unglaublichen Eleganz und Stilsicherheit. Jack Reynors Burton Fisher ist zwar nicht so beschädigt wie Wes Chathams Amos Burton aus »The Expanse«, aber die beiden Charaktere könnten Brüder sein. Dass in gleich zwei jüngeren US-amerikanischen Science-Fiction-Serien »gute Monster« dieser Art auftauchen und dass sie so glaubhaft dargestellt ­werden, gibt zu denken: Sind das die zeitgemäßen beschädigten Helden, an die die Filmemacher und das Publikum eventuell noch glauben können? Gebrochene Gestalten mit nahezu unbegrenztem Gewaltpotential, das nur knapp am lustvollen Massenmord vorbeizielt?

Für Conner Penske hingegen, den ehemaligen Kollegen und Freund Burtons, kann es keinen normalen Alltag mehr geben. Selten hat man einen körperlich und seelisch so schwer beschädigten Menschen so glaubwürdig in einer Unterhaltungsserie verkörpert gesehen; das Spiel von Eli Goree ist schmerzhaft intensiv. Gary Carr ist als Lev Zubovs Untergebener Wilf Netherton unglaublich – er bringt eine Mischung aus Feinfühligkeit, Verlogenheit und Verlorenheit mit, die man so schnell nicht wieder vergisst. Chloë Grace Moretz hingegen gibt sich zwar alle nur erdenkliche Mühe, aber so viel Kampfkunst-Training sie auch absolviert hat, so angestrengt sie die unvermutet taffe kleine Schwester des guten Monsters darstellen will – sie ist für ihre Rolle ein bisschen zu glatt und wird von den anderen an die Wand gespielt. Dass das der Serie wenig anhaben kann, ist ein Merkmal ihrer Qualität.

Die größte Überraschung hält ein detaillierter Vergleich der Serie mit der Romanvorlage bereit. Wer diese zur Hand nimmt, entdeckt, dass nicht nur einzelne Figuren anders akzentuiert, neu hinzugefügt oder entfernt worden sind, sondern dass das auch für ganze Handlungsstränge und Themenkomplexe gilt. Von dem Research Institute und seiner Leiterin Cherise Nuland findet sich in der Romanversion keine Spur. Dort ist Wilf Netherton zuerst der PR-Agent einer exzentrischen Künstlerin, die in der Serie nicht auftaucht, was den kompletten Umbau des Handlungsstrangs mit den Daten nötig macht, auf die Flynne dummerweise Zugriff erhält. Ein irischstämmiger Killer, der in der Serie Jagd auf Flynne und Burton macht, kommt im ­Roman nicht vor.

Die Eingriffe sind so gravierend, dass die Serie streng genommen nicht als Verfilmung des Romans angesehen werden kann – und das ist nur gut. Der Roman versucht, mit seiner Vielzahl an kurzen Kapiteln und schnellen Szenenwechseln filmische Geschwindigkeit zu simulieren, was aber nicht immer gelingt und sogar hier und da Ermüdungserscheinungen hervorruft. Die Serie kann sich auf das Wesentliche konzentrieren und den Stoff straffen; dadurch erreicht sie die filmische Geschwindigkeit, die Gibson mühsam mit seiner schriftstellerischen Technik nachahmen will.

Zwar gehen durch die Straffung auch viele der reizvollen Details verloren, für die Gibson zu Recht berühmt ist, aber durch eigene Einfälle, das meistenteils hervorragende Produktionsdesign und die Tricktechnik wird dieser Nachteil wieder ausge­glichen. Eine Erfindung der Serie ist zum Beispiel die Waffe, die dem ­irischen Killer aus der Zukunft zugespielt wird und mit der er seine Mordaufträge erfüllen soll. Sie spielt in den Händen von Deputy Tommy Constantine eine dramaturgisch höchst überzeugende Rolle. ­Paradoxerweise könnte man sagen, dass die Serie gegen den Roman werkgetreu ist und nicht mit ihm. Das ist keine kleine Leistung.
Fehler? Die gibt es. Von den leichten Schwächen der Hauptdarstellerin war schon die Rede. Dass bei dem erwähnt guten Produktionsdesign eine zentrale Requisite allzu billig und läppisch wirkt, ist ärgerlich – das neurale Interface, mit dem die ganze Geschichte beginnt, hätte dann doch ein wenig mehr Aufmerksamkeit in der Entwicklung verdient. Ein paar der Kampfkunstszenen sind überflüssig, und manche Brutalitäten wirken so, als seien sie allein aus Liebe zur Brutalität in­szeniert worden. Der größte Fehler der ersten Staffel dieser Serie ist aber, dass sie zu früh und mit einem überoffensichtlichen Cliffhanger ­endet.

Der Roman von William Gibson ist ein gutes Buch über die Gewalt, die derzeit die Welt ruiniert. »The Peripheral« ist nicht nur eine gute Serie, die dieses Buch zur Vorlage hat, sondern ganz allgemein die beste Science-Fiction-Serie seit »The Expanse«, die 2015 startete. Dass diese Serie aus dem Hause Amazon kommt, ist natürlich hochironisch, aber auch das gehört zu dieser Welt.

»The Peripheral« kann bei Amazon Prime gestreamt werden.