Industrieverbände wollen den Atomausstieg immer noch verhindern

Countdown zum Atomausstieg

Mitte April sollen die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Industrievertreter fordern immer noch, den Atomausstieg aufzuschieben.

Der Atomausstieg rückt näher. Der Termin war vom 31. Dezember 2022 auf den 15. April 2023 verschoben worden. Nach den heftigen Auseinandersetzungen in den vergangenen zwei Jahren glauben nun viele, dass der Termin jetzt aber wirklich steht. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat die Entscheidung vom vergangenen Oktober kürzlich noch einmal bekräftigt: Streckbetrieb über den Winter, aber keine Beschaffung neuer Brennelemente für die drei verbliebenen Atomkraftwerke Isar-2, Neckarwestheim-2 und Emsland. Doch die Industrie will mehr: Zwei weitere Jahre AKW-Betrieb fordern die Vorsitzenden von 14 Verbänden der Metall- und Elektroindustrie in einem offenen Brief, den die Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft Anfang Februar verbreitete.

Bereits im vergangenen September hatte die Chemielobby sich entsprechend geäußert. »Alle verfügbaren Energieträger müssen schnellstmöglich ans Netz oder weiter betrieben werden«, schrieb der Verband der Chemischen Industrie damals in seinem monatlichen »Politikbrief«. Dazu gehörten »erneuerbare Energien genauso wie Kohle- und Kernkraft«. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (­IG BCE), unterstützte im vergangenen Oktober diese Forderung, ohne dass der DGB widersprochen hätte. Vassiliadis leitet zusammen mit der sogenannten Wirtschaftsweisen Veronika Grimm und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), die sogenannte Gaspreiskommission. Alle drei setzen sich für den Weiterbetrieb der AKW ein. Der nächste Akt in diesem Theater kündigt sich an.

In Frankreich gab es im Vorjahr gravierende Ausfälle bei den Atom­kraftwerken. Zeitweise war die Hälfte aller Reaktoren außer Betrieb.

Wer der Ansicht ist, man könnte mit den bestehenden AKW einfach noch ein bisschen weitermachen, sollte sich bei den europäischen Nachbarn umsehen. In der Slowakei ging der Reaktor Mochovce-3 am 31. Januar ans Netz. Es handelt sich um ein Modell mit 440 Megawatt Leistung, dessen Design noch sowjetischen Ursprungs ist. Die Wiener Umweltorganisation Global 2000 hat die insgesamt 35jährige Bauphase mit zum Teil bizarren Enthüllungen über Pfusch am Bau, fehlerhafte Rohrleitungen oder rostige Schweißnähte begleitet. Ihr zufolge hätte der Meiler bei Beachtung von EU-Standards nie genehmigt werden dürfen. So kann es aussehen, wenn man alle Energieträger mobilisiert.

Während im Osten ein neuer Gefahrenherd geschaffen wurde, gingen im Westen die schadhaften belgischen Reaktoren Doel-3 und Tihange-2 zur Erleichterung der Anrainer in vier Staaten vom Netz. Dafür sollen nun die etwas jüngeren Reaktoren Doel-4 und Tihange-3 zehn Jahre länger betrieben werden als bisher vorgesehen. Auch bei den deutlich älteren Meilern Doel-1 und -2 sowie Tihange-1 wird derzeit geprüft, ob man ihre Laufzeit noch strecken kann. Der belgische Atomausstieg, zuletzt für 2025 geplant, ist damit gekippt, weil die Regierung Stromknappheit – Achtung! – im Winter 2026/2027 befürchtet. Umgekippt sind insbesondere die belgischen Grünen. Sie stellen mit Tinne Van der Straeten von der flämischen Partei Groen die Energieministerin, die sich den Plan ausgedacht hat, aber auch die Regierungsmitglieder der wallonischen Schwesterpartei Ecolo haben zugestimmt. Belgien ist übrigens wie Deutschland ein Stromexportland, von einem Versorgungsengpass kann ­keine Rede sein. Aber wer weiß, was in fünf oder zehn Jahren passieren wird? Le Monde spricht von ­Panik in Belgien und stellt fest, dass »leidenschaftliche Befürworter einer vollständigen Stilllegung der Atomkraftwerke sich einer Reaktivierung der Atomenergie nicht mehr widersetzen«.

Mit Blick auf die aktuellen Streckübungen in den drei deutschen AKW sind die Nachrichten aus Frankreich besonders bedeutsam. Dort gab es im Vorjahr gravierende Ausfälle bei den Atomkraftwerken. Zeitweise war die Hälfte aller Reaktoren wegen Wartungen und Reparaturen außer Betrieb. Die staatlich dominierte Elektrizitätsgesellschaft EDF schrieb im vergangenen Jahr einen Verlust von 17,9 Milliarden Euro, der langjährige Vorstandsvorsitzende Jean-Bernard Lévy musste seinen Posten räumen. Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung trieben zu höchster Eile bei den Reparaturen an, um den Winter ohne größere Stromausfälle zu überstehen. Gleichwohl waren zu Beginn des neuen Jahres mehr als ein Dutzend Meiler immer noch nicht betriebsbereit.

Als erste Ursache für die hohe Zahl der Ausfälle, die es in diesem Ausmaß noch nie gegeben hat, wird ein coronabedingter Wartungsstau genannt. Während der Pandemie mussten viele Routinearbeiten aufgeschoben werden. Dann fehlten wegen der Unterbrechungen in den globalen Lieferketten dringend benötigte Ersatzteile. Aus den gleichen Gründen hatten sich die Maßnahmen der sogenannten grand carénage verzögert. Eine solche Generalüberholung, bei der, soweit möglich, Verschleißteile in den Kraftwerken ausgetauscht werden, ist alle zehn Jahre vorgeschrieben. Diesmal sollte bei den älteren Reaktoren die Betriebsdauer auf 50 Jahre gestreckt werden. Deshalb war für das Jahr 2022 ohnehin ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm vorgesehen.

Dann kam im Oktober 2021 etwas Unvorhergesehenes dazu. Im AKW ­Civaux, Département Vienne, wurden im Rahmen von Wartungsarbeiten am Reaktor 1 technische Mängel – de facto Risse – »in der Nähe der Schweißnähte der Rohre des Notkühlsystems« entdeckt, wie es in der Mitteilung von EDF heißt. Prüfungen an drei weiteren baugleichen Reaktoren, Block 2 in ­Civaux sowie zwei Blöcken im AKW Chooz nahe der belgischen Grenze, ergaben ähnliche Befunde. EDF musste die Wartungszeit von Civaux verlängern und Chooz herunterfahren, um die defekten Teile auszutauschen.

Bei den hier erwähnten handelt es sich um die modernsten und größten Reaktoren, die in Frankreich in Betrieb sind. Sie repräsentieren die sogenannte N4-Linie mit je 1 450 Megawatt Leistung; die Anlage in Civaux ist noch keine 25 Jahre alt. Das jetzt aufgetretene Problem kommt nicht ganz so überraschend, wie es im Allgemeinen dargestellt wird. Bereits während des Probebetriebs 1998 ereignete sich am Reaktor Civaux-1 ein schwerer Störfall. Durch einen Riss im Primärkühlsystem traten über Nacht 300 Kubikmeter kontaminiertes Wasser aus, bevor die Techniker das Leck schließen konnten. Schon ­damals waren umfangreiche Nachrüstungen an allen N4-Reaktoren erforderlich.

Doch die Hoffnung, das gegenwärtige Problem mit Rissen werde sich auf diesen Reaktortyp beschränken, trog. Nach und nach stellte sich heraus, dass immer mehr Reaktoren betroffen sind. Die Situation hat sich dermaßen verschärft, dass Frankreich inzwischen händeringend nach qualifizierten Schweißern sucht, um die erforderlichen Reparaturen vornehmen zu können. Dabei ist der Eindruck, es gehe ­lediglich um das Notkühlsystem, das ja nur bei einem hoffentlich ausbleibenden schweren Störfall benötigt wird, falsch. Das Problem liegt wohl bei einem T-förmigen Rohrstück, mit dem die Notkühlung an das Hauptkühlsystem des Reaktors angeschlossen ist. Dieses T-Stück, aus unterschiedlichen Materialien und mit vielen Schweißungen gefertigt, kann den permanenten Stress von extremen Temperatur- und Druckunterschieden auf Dauer nicht aushalten. Auch die angrenzenden Rohrstücke, sowohl im Notkühlsystem als auch im Hauptkühlkreislauf, seien anfällig und müssten ersetzt werden. ­Informationen über ein Leck im Primärkühlkreislauf von Civaux-1, das im vergangenen November während der Reparaturarbeiten entdeckt wurde, bestätigen diese Darstellung. Betrof­fen sind demnach systemkritische Bauteile der Nukleartechnik. Wenn man die in Belgien und anderen Ländern gemachten Erfahrungen hinzunimmt, ist davon auszugehen, dass der alternde Bestand an Atomkraftwerken durchweg Defekte bei Rohren, Ventilen, Pumpen, Reaktordruckbehältern und Dampferzeugern aufweist.

Nur in Deutschland nicht? Ja, diese Probleme sind hierzulande unbekannt, weil die periodische Sicherheitsprüfung mit Blick auf die bevorstehende Stilllegung bereits vor drei Jahren eingespart wurde. Hier­zulande hält man es nicht für nötig, den Stahl von T-Stücken oder Rohrkrümmungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Man hat nichts gefunden, weil man nichts gesucht hat. Für Bescheinigungen der Unbedenklichkeit gibt es den TÜV Süd, der den in Frage kommenden AKW im vergangenen Jahr bescheinigte, es gebe keine Sicherheitsprobleme bei einem Weiterbetrieb. Sogar das Bundesministerium für Umwelt und Energie hatte dazu kommentiert, diese Prüfung erfülle »grundlegende Anforderungen an Gutachten und seriöse Sachverständigenaussagen nicht«.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft findet diese Bescheinigungen so gut, dass sie das unbürokratische Verfahren noch ein paar Jahre strecken möchte. Gern auch mit russischem Uran. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der an einer grünen Deutschland AG mit BASF, Salzgitter Flachstahl und anderen energiehungrigen Unternehmen bastelt, hüllt sich in Schweigen. Ein ARD-Feature zeigte ihn kürzlich, wie er sich mit großem Ernst dem »Energieschock« stellt. Ob er ­dabei wohl an Tinne Van der Straeten dachte?