Deutschland sorgt sich und schiebt ab
In Deutschland wird wieder mehr abgeschoben. 12 945 Menschen betraf dies im Jahr 2022, rund 1 000 mehr als im Vorjahr. Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervorgeht, waren darunter 2 196 Minderjährige. Mit Beginn der Covid-19-Pandemie war die Zahl der Abschiebungen gesunken. 2019 waren noch 22 097 Menschen abgeschoben worden, Höhepunkt war das Jahr 2016 mit 25 375 Abschiebungen.
Auch in anderer Hinsicht nähert sich Deutschland langsam wieder der Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 an: In einigen Städten versammelt sich der Mob vor Geflüchtetenheimen, in einer aktuellen Allensbach-Umfrage gab knapp die Hälfte der Befragten an, das Asylrecht müsse eingeschränkt werden, und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sagte kürzlich der Bild-Zeitung, die »Grenzen der Belastbarkeit« seien »vielerorts erreicht, wenn nicht sogar in einigen Städten und Gemeinden überschritten«. Derweil werden Menschen sogar in den Iran abgeschoben und die Bundesregierung denkt über Abschiebungen nach Afghanistan nach.
Frankfurt am Main ist nach Angaben der Bundesregierung der Flughafen, von dem aus die meisten Menschen abgeschoben werden. Bereits Mitte März berichtete die Frankfurter Rundschau über einen iranischen Asylbewerber, der es nicht über den Transitbereich hinausgeschafft hatte, im Schnellverfahren abgelehnt und zurück nach Teheran geschickt worden sei. Eigentlich hatten sich die Innenminister:innen der Länder Ende vergangenen Jahres darauf geeinigt, dass wegen des harten Vorgehens des Regimes gegen die Bevölkerung nicht mehr in den Iran abgeschoben werden solle.
Vergangenes Jahr wurden bei 4 706 Asylprüfungen irakischer Yezid:innen mehr als die Hälfte abgelehnt.
Formell handelte es sich im beschriebenen Fall allerdings nicht um eine Abschiebung, sondern eine Zurückweisung im sogenannten Flughafenverfahren. Rein rechtlich war der Iraner nicht nach Deutschland eingereist, weil er den Transitbereich des Flughafens noch nicht verlassen hatte. Weil es sich um eine Zurückweisung handele, nicht um eine Abschiebung, falle sie nicht unter den Beschluss der Innenministerkonferenz zum Abschiebestopp, sagte das Hessische Innenministerium auf Anfrage des Fernsehmagazins »Hessenschau«.
Pro Asyl kritisierte den Vorfall und warnte, es hielten sich weitere schutzsuchende Menschen aus dem Iran am Frankfurter Flughafen auf, die ebenfalls abgewiesen werden könnten. Die Sorge stellte sich als berechtigt heraus. Am 21. März wurde eine Frau in den Iran zurückgeschickt. Als Asylgrund soll sie angegeben haben, dass ihr in Afghanistan eine Zwangsheirat drohe, für ihre Flucht habe sie sich einen iranischen Pass besorgt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe dies für unglaubwürdig gehalten und den Asylantrag als »offensichtlich unbegründet« abgewiesen, so die »Hessenschau«.
Auch Yezid:innen aus dem Irak werden inzwischen wieder verstärkt abgeschoben. Erst im Januar hat der Bundestag die Verfolgung und Ermordung von Yezid:innen durch den »Islamischen Staat« (IS) als Völkermord anerkannt. Doch weil der IS inzwischen militärisch weitestgehend besiegt ist, erhalten Yezid:innen immer seltener einen Schutzstatus. Im vergangenen Jahr wurden von 4 706 Asylprüfungen bei irakischen Yezid:innen mehr als die Hälfte abgelehnt.
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) berichtete über den Fall einer Yezidin, der nach dem Suizid ihres Vaters die Abschiebung in den Irak droht. Mit dem Tod des Vaters habe sie den Flüchtlingsschutz für Familienangehörige verloren – ungeachtet dessen, dass die 20jährige, die 2017 als Analphabetin nach Deutschland kam, einen Schulabschluss hat und derzeit eine Ausbildung macht.
Der HAZ zufolge argumentierten die Behörden, dass in der Heimatprovinz der Familie zwar weiterhin einen »innerstaatlichen bewaffneten Konflikt und terroristische Aktivitäten« gebe, der 20jährigen aber nicht die Todesstrafe drohe.
Abschiebungen nach Afghanistan sind seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ausgesetzt. Im Jahr 2022 wurden zwar 732 Afghan:innen abgeschoben, aber nicht nach Afghanistan, sondern meistens im Rahmen des Dublin-Verfahrens in andere EU-Länder. Doch das SPD-geführte Innenministerium möchte auch Abschiebungen nach Afghanistan wieder möglich machen. »Bei ausländischen Straftätern und Gefährdern, von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland ausgeht, müssen Abschiebungen besonders forciert werden«, sagte ein Sprecher des Ministeriums Ende März.
Daher würden »Möglichkeiten geprüft, wie Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan wieder erfolgen können – auch wenn die Schwierigkeiten hier groß sind«. Dafür wäre es nach den Angaben des Sprechers erforderlich, eine Verständigung über die Rückübernahme von Personen zu erreichen, hieß es weiter. Eine solche »Verständigung« ist derzeit nur mit der Taliban möglich.
»Die Pogromstimmung gegen Geflüchtete spitzt sich wieder zu«, warnte die Amadeu-Antonio-Stiftung im Februar.
Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss. Womöglich glaubt die SPD jedoch, dass sie mit dieser Position bei Wähler:innen punkten kann. Darauf deuten kürzliche Umfrageergebnisse hin. Renate Köcher, die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, schrieb am 23. März in der FAZ, dass immer mehr Deutsche das Gefühl hätten, »die Belastungsgrenze« bei der Aufnahme von Geflüchteten sei erreicht. Seit Oktober sei »die Besorgnis (…) signifikant angestiegen«: Damals seien 30 Prozent »sehr besorgt« gewesen, derzeit seien es 39 Prozent.
Allerdings sei dieser Wert immer noch niedriger als 2015, »als in der Spitze 53 Prozent der Bürger außerordentlich beunruhigt waren«. Ein Grund dafür sei, dass von den 1,3 Millionen in diesem Jahr registrierten Geflüchteten die überwiegende Mehrzahl Großteil, nämlich 1 045 000 Menschen, aus der Ukraine stamme. »Es macht für die Reaktion einen großen Unterschied, ob die Flüchtlinge aus einem ähnlichen Kulturkreis stammen und von ihrer soziodemographischen Zusammensetzung her den Vorstellungen von Flüchtlingen entsprechen, das heißt, dass vor allem Frauen und Kinder kommen«, so Köcher.
Zu den Ausdrucksformen der zitierten »Sorge« gehören auch rassistische Proteste und Angriffe auf Flüchtlingsheime. »Die Pogromstimmung gegen Geflüchtete spitzt sich wieder zu«, warnte die Amadeu-Antonio-Stiftung im Februar.
In Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise hatte im Januar ein Mob aus 700 aufgebrachten Menschen versucht, eine Kreistagssitzung zu stürmen, bei der beschlossen wurde, eine Unterkunft für Geflüchtete im nahen Upahl einzurichten. Der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat dem »Aufstand« der Dorfbewohner gegen das geplante Heim eine Dokumentation auf seinem Youtube-Kanal gewidmet. Und Ende Februar war eine Demonstration gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Greifswald eskaliert. Die Polizei musste den Oberbürgermeister vor Attacken schützen, ein Gegendemonstrant wurde angegriffen.
Proteste gegen Flüchtlinge finden weiterhin regelmäßig in ganz Deutschland statt. Am Mittwoch vergangener Woche demonstrierten 1 000 Menschen im Kreis Ludwigsburg bei Stuttgart gegen ein geplantes Flüchtlingsheim.
Rassistische Ausschreitungen gegen Geflüchtete gehen in Deutschland für gewöhnlich mit Debatten über eine Verschärfung der Asylgesetzgebung einher. Auch jetzt fordern CDU, CSU und FDP eine Verschärfung des Asylrechts. Am 30. März lud der CDU-Vorsitzende Merz Kommunalpolitiker aus ganz Deutschland zu einem eigenmächtig anberaumtem »Flüchtlingsgipfel« nach Berlin ein. Zuletzt hatte im Februar die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen Flüchtlingsgipfel veranstaltet. Dabei war für die Kommunen, die die Unterbringung der steigenden Anzahl an Flüchtlingen organisieren müssen, aber kaum zusätzliche Unterstützung herausgesprungen.
»Asylverfahren sollten möglichst an der Grenze der Europäischen Union durchgeführt werden, zum Beispiel durch grenznahe Aufnahme- und Entscheidungszentren«, forderte Merz vor seinem Flüchtlingsgipfel im Interview mit der Bild-Zeitung. Man müsse »irreguläre Zuwanderung auf ein handhabbares Maß begrenzen«.
Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Konstantin Kuhle, und der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Stephan Thomae, fordern laut den Zeitungen der Mediengruppe Bayern, dass Asylanträge künftig in Drittstaaten geprüft werden könnten. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) fordert niedrigere Sozialleistungen für Geflüchtete. Angesichts der höheren Neuverschuldung müsse man »mal ernsthaft darüber nachdenken, ob wir uns das auf Dauer leisten können«, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung.