Das neue Album von Lana Del Rey

Die Venus von Venice

Auf »Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd« breitet die Sängerin Lana Del Rey ihre Idee von einem vitalen, ­unverwechselbar amerikanischen Amerika aus.

So produktiv war sie noch nie: Lana Del Rey ver­öffentlicht mit »Did You Know That There’s a ­Tunnel Under Ocean Blvd« ihr drittes Album in exakt 24 Monaten – und es ist vermutlich der reifste, kohärenteste und mit fast 80 Mi­nuten Laufzeit auch längste der drei Longplayer.

Stilistisch bleibt sich die US-amerikanische Musikerin treu. Das Album beginnt mir einem kurzen A-capella-Intro, um dann Del Reys üblichen Sound auszubreiten: moderne Blues- und Folk-Instrumentierung mit (halb)akustischen Gitarren, dumpfes Schlagzeug, Klavier, hin und wieder ein paar Streicher für das Pathos und mittendrin die gehauchte, aber doch kraftvolle Stimme, die epische Balladen über Liebe, Sex und Unabhängigkeit singt.

Das bei anderen Popstars übliche Starfeuerwerk bleibt hier aus. Zwar sind auf »Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd« einige Gastmusiker vertreten, aber der Rockmusiker Father John Misty (der im nostalgischen »Let the Light In« zu hören ist) und Rapperin Tommy ­Genesis (in »Peppers«) sind zwar berühmt, jedoch bei weitem nicht so berühmt wie Lana Del Rey.

Lana Del Rey formuliert ihre Gedanken in kraftvollen, musikalisch anspruchsvollen und manchmal derben Songs, vielleicht auch als Gegenentwurf zum proper-puritanischen Auftreten der weitaus erfolgreicheren Taylor Swift.

Auch bei dem Trend zu kurzen – meist nicht länger als drei Minuten andauernden – Songs, die klingen, als hätte jemand eine Episode eines ADHS-Patienten vertont, macht Del Rey nicht mit. Auf Tiktok wird wohl keines ihrer neuen Lieder landen, zu sehr sperren sich die Stücke dagegen, dass man aus ihnen 30 Sekunden herausschneidet, um sie für die Videoplattform kompatibel zu machen. Tatsächlich ist kaum einer der Songs unter vier Minuten lang, die meistens strecken sich langsam und mit großer musikalischer Dynamik, nicht selten über fünf bis sechs, sogar sieben Minuten.

»This is the experience of bein’ an American whore«
Anbiedern will sich Lana Del Rey sowieso nicht, sie sieht sich stattdessen als Archäologin verloren geglaubter Americana, verschollen und zugemauert wie der titelgebende und seit Jahrzehnten gesperrte Art-déco-Fußgängertunnel mit dem Namen »Jergins Tunnel« unter dem Ocean Boulevard in Long Beach, Kalifornien. Im Song, der dem Album seinen Titel leiht, kommt auch gleich alles vor, was Lana Del Reys Texte auszeichnet: Melancholie, Liebe – und Sex: »There’s a girl who sings ›Hotel California‹ / Not because she loves the notes or sounds that sound like Florida / It’s because she’s in a world, preserved, only a few have found the door (…) Open me up, tell me you like me / Fuck me to death, love me until I love myself«.

Die zweite Singleauskopplung »A&W« entwickelt sich ab der Hälfte der knapp über sieben Minuten Laufzeit von einer Pop-Ballade zu einem explosiven HipHop-Song, gekrönt von Del Reys dreimaliger Beteuerung: »This is the experience of bein’ an American whore.« Hier wird auch klar, warum ihre Beliebtheit bei manchen progressiven US-Amerikanern auf dem absteigenden Ast ist.

Lana Del Rey

Lana Del Rey

Bild:
Universal-Music

Mit Bezug auf ihre starke ­Gewichtszunahme in den vergangenen Jahren – die Lana Del Rey mit den Modelmaßen von vor einigen Jahren ist kaum wiederzuerkennen – singt sie: »I mean look at my hair / Look at the length of it / And the shape of my body / If I told you that I was raped / Do you really think that anybody would think / I didn’t ask for it? / I didn’t ask for it / I won’t testify, I already fucked up my story.« Diese unorthodoxe Perspektive, die anspricht, wie verlogen auch das linksliberale Milieu trotz body positivity über bestimmte Frauenkörper denkt, könnte Del Rey auf die Füße fallen und dafür sorgen, dass sie als reaktionär abgetan wird.

Das proper-puritanisches Auftreten der erfolgreicheren Taylor Swift
Doch die Musikerin lässt sich davon nicht abschrecken und formuliert ihre Gedanken in kraftvollen, mu­sikalisch anspruchsvollen und manchmal derben Songs, vielleicht auch als Gegenentwurf zum proper-puritanischen Auftreten der weitaus erfolgreicheren Taylor Swift, die eher an eine tablettensüchtige ­US-amerikanische Hausfrau der fünfziger Jahre erinnert, die ihr Leid aus der Isolation der Vorstadt klagt – und nicht wie Del Rey sich einen Spaß ­daraus macht, mit der Ästhetik der prüden Fünfziger zu spielen.

Dabei sind die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Musikerinnen groß: Jack Antonoff hat viele Lieder der beiden produziert, wobei man anmerken darf, dass Lana Del Rey sich weniger in den basslastigen, dichten Arrangements verliert als Swift.

So auch in »Paris, Texas«, einer beeindruckenden, von Antonoff produzierten Klavierballade über das uramerikanische Thema der Wanderlust und der Ungebundenheit. Die beginnt Lana Del Rey erst nach einem 45sekündigen instrumentalen Intro, in dem das Klavierthema im Mittelpunkt steht, und zwar mit einem lang gezogenen »I … went to Paris«, dem sie nach kurzer Pause ein geflüstertes »Texas« hinterherschiebt.

Die poetische Reise geht weiter mit einem kurzen Ausreißer nach Spanien, zu ihren Freunden nach Florence, Alabama, und schließlich zurück in ihr Zuhause in Venice, Kalifornien, immer unterbrochen vom rastlosen »When you know, you know / When you know, you know / It’s time, it’s time to go / When you know, you know / Then the more you know/It’s time to go«.

Das Zuhause der im ­internationalen Manhattan als Eliza­beth Woolridge Grant geborenen Sängerin ist das Venice in Kalifornien, nicht das an der adriatischen ­Lagune.

Mit einem augenzwinkernden Hinweis auf die Sehnsuchtsorte der weltgewandten US-Amerikaner macht Del Rey klar: Ihre Welt ist das naheliegende Paris in Texas (in dem der Miniatur-Eiffelturm einen Cowboyhut trägt), nicht das ferne Paris in Frankreich. Das verschlafene Florence in Alabama am Tennessee River hat zwei Starbucks-Filialen – und außer dem Namen nichts mit der toskanischen Wiege der Renaissance gemein. Und das Zuhause der im ­internationalen Manhattan als Eliza­beth Woolridge Grant geborenen Sängerin ist das Venice in Kalifornien, nicht das an der adriatischen ­Lagune. Selbst mit Spanien, »Spain«, könnte ein gemeindefreies Gebiet in South Dakota gemeint sein.

Die Latina-Identität steht der schottischstämmigen Künstlerin nach identitätspolitischen Maßstäben nicht zu
Gegen Ende findet Del Rey mit den Songs »Peppers« und dem zweigeteilten »Taco Truck x VB« (»Met my boyfriend down at the taco truck«) sogar noch zu ihrem früheren, etwas verruchteren HipHop-Stil zurück. Man wünscht sich, dass der erwähnte Taco Truck nach mehreren Generationen mexikanischer Einwanderung mittlerweile ein All-American-Phänomen wäre und kein mit Ehrfurcht und kultureller Sen­sibilität zu betrachtendes Ding aus einer fremden Kultur. So spielt Del Rey denn auch furchtlos mit der Latina-Identität (»Read my gold chain, says ›Lanita‹/When I’m violent, it’s Carlito’s Way«), die ihr Künstler­name suggeriert, die der schottischstämmigen Künstlerin aber nach identitätspolitischen Maßstäben nicht zusteht.

Doch in ihrer Weiterführung des US-amerikanischen Mythos eines ­vitalen Landes, ständig expandierend und auf dem Sprung, ein unersätt­licher melting pot der Kulturen, existieren solche Grenzen nicht. Es ist ein im positivem Sinne solipsistisches, vitales Amerika, dass Del Rey vorschwebt und in dem sie zuständig ist für das Besingen der großen Gefühle: Liebe, Sehnsucht und Körperlichkeit. Lana Del Rey, die Venus von Venice Beach, California.

 

Lana Del Rey Albumcover

Lana Del Rey: Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd (Polydor/­Universal)