Karl Mannheim und die Soziologie der Intellektuellen

Schwebt sie oder schwebt sie nicht?

Mit dem Soziologen Karl Mannheim verbindet sich die Idee von der »freischwebenden Intelligenz«. Ein Band macht seinen Aufsatz »Das Problem der Intelligenz« in deutscher Erstübersetzung sowie seinen bislang unveröffentlichten Essay zur Theorie der Intellektuellen zugänglich.

»Wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem der Ideologie und Utopie radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben?« Das fragte der Soziologe Karl Mannheim 1929 in seinem Buch »Ideologie und Utopie«, das grundlegend für die von ihm entwickelte Wissenssoziologe ist. Die Frage sollte ihn bis zu seinem Tod 1947 im Alter von nur 53 Jahren beschäftigen.

Der kürzlich von dem Soziologen Oliver Neun bei Suhrkamp heraus­gegebene Band mit dem Titel »Soziologie der Intellektuellen« versammelt zwei Texte Mannheims aus den dreißiger Jahren, die sich dieser Thematik nähern. Der Aufsatz »Das Problem der Intelligenz« aus dem Jahr 1933 (posthum 1956 als »The Problem of the Intelligentsia« in dem Sammelband »Essays on the Sociology of Culture« erschienen) liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor; der auf Deutsch verfasste Aufsatz »Die Entstehung der intellektuellen Gruppen aus der sich wandelnden Gesellschaftsstruktur« aus dem Jahr 1935 wurde zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht.

In beiden Texten setzt sich Mannheim mit der Rolle der Intellektuellen oder, synonym gebraucht: der Intelligenz im gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Kontext auseinander. Dabei greift er an die Formulierung »freischwebende Intelligenz« auf, die der Soziologe Alfred Weber geprägt hat, und betont die Unabhängigkeit des Intellektuellen von den sozialen Gegebenheiten und seine Fähigkeit, sich vom normativen Denken zu lösen. Beide Texte Mannheims zeigen aber auch, in welchem Dilemma sich Intellektuelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem aber in der Weimarer Zeit, befanden, mussten sie sich doch zwischen politischer oder gar revolutionärer Praxis und einem »freischwebenden« Dasein im akademischen Betrieb entscheiden.

Mannheim wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe behauptet, die Intelligenz sei eine Schicht über den Klassen. Dagegen betont er, dass sie nur »relativ« freischwebend sei.

Das Thema der »Intellektuellen« sei für Mannheim auch »eine biographische Selbstreflexion, da er Zeit seines Lebens prägende Erfahrungen in Intellektuellenzirkeln macht«, schreibt Neun im Nachwort. Hierzu zählt von 1915 bis 1918 vor allem der »Sonntagskreis« um den marxistischen Philosophen Georg Lukács in Budapest. Nach seiner Emigration aus Ungarn schließt sich Mannheim in Heidelberg einem Zirkel um die Frauenrechtlerin und Soziologin Marianne Weber an. 1933 musste Mannheim, der jüdischer Abstammung war, nach England ins Exil gehen; dort wurde er schließlich Mitglied im »Moot«, einem christlichen Diskussionskreis, dem unter anderem auch T. S. Eliot, Paul Tillich und Adolph Lowe angehörten.

Mannheim orientiert sich an Max Weber
Diese Erfahrungen schlagen sich auch in den beiden nun veröffentlichten Texten nieder. Mannheim spricht dort von einer »sich wandelnden Gesellschaftsstruktur« und geht auf einen Zustand ein, der für die modernen Gesellschaften konstituierend sein wird: Gruppen, Schichten oder eben: Klassen, von denen sich einige antagonistisch gegenüberstehen und die jede für sich eine »primäre Konsensus-Kultur« und eine entsprechende Konformität in der Verhaltensweise entwickeln. »Nicht eine größere liebevolle Verbundenheit der einzelnen Mitglieder, die manchmal vorhanden sein kann (…) interessiert uns hier, sondern eine Gleichförmigkeit in den Gewohnheiten, Verkehrsformen, Gefühlsreaktionen wie auch in den Denkweisen charakterisieren die primäre Konsensusgruppe«, schreibt er.

Wenn Mannheim von »Klassen« spricht, tut er dies allerdings nicht im Marx’schen Sinne; er orientiert sich vielmehr an Max Weber und rückt Merkmale wie soziale und politische Macht, den Status quo und Prestige ins Zentrum: »Eine bewusste Klasse (…) konstituiert sich durch die Tendenz ihrer Mitglieder, kollektiv in Übereinstimmung mit einer bewussten Bewertung ihrer Klassenposition in Bezug auf alle anderen Schichten der Gesellschaft zu handeln«, so Mannheim.

In Hinblick auf die Intelligenz schwächt er den Begriff in den vorliegenden Aufsätzen allerdings ab, da der Aufstieg der Intelligenz »die letzte Phase der Zunahme des gesellschaftlichen Bewusstseins« markiere, ihre Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aber »keinen direkten Zugang zu einem lebenswichtigen und funktionierenden Segment der Gesellschaft« biete. Auch hier klingt der Begriff der »freischwebenden Intelligenz« noch durch, weshalb Mannheims Wissenssoziologie vor allem von den Vertretern der Kritischen Theorie, insbesondere von Max Horkheimer, kritisiert wurde: Mannheim integriere die Marx’schen Kategorien in die akademische Soziologie und beraube sie damit ihres kritischen Inhalts.

Horkheimer und Mannheim ziehen unterschiedliche Konsequenzen
Ähnlich wie Mannheim waren Ador­no und Horkheimer davon überzeugt, dass Utopien immer einen »Zeitkern« besäßen und sich auf die jeweilige historische Situation beziehen müssten, von der sie sich als »kritische Negation« abhöben. Utopien kennzeichnet Horkheimer vor allem als radikale Kritik des Bestehenden und Verweis auf dessen (mögliche) Aufhebung. »In der Tat hat die Utopie zwei Seiten; sie ist die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll«, schreibt Horkheimer in seinem 1930 erschienenen Aufsatz »Anfänge der bürger­lichen Geschichtsphilosophie«. Doch ziehen Horkheimer und Mannheim unterschiedliche Konsequenzen: Während zumindest die frühe Kritische Theorie, die noch nicht unter dem Eindruck von Auschwitz steht und den stalinistischen Terror noch nicht kennt, ihre Analysen in dem Bewusstsein verfasst, damit einen Beitrag zum Klassenkampf zu leisten, gehe es Mannheim darum, eine »akademische Disziplin« zu etablieren, so Oliver Neun.

Mannheim wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe behauptet, die Intelligenz sei eine Schicht über den Klassen. Dagegen betont er, dass sie nur »relativ« freischwebend sei. Wie Neun im Nachwort ausführt, unternimmt Mannheim in seinen späteren Texten dennoch »stärker den Versuch der Formulierung einer generellen Intellektuellensoziologie und erhebt im Unterschied zu seinen früheren Schriften wie ›Konservatismus‹ und ›Ideologie und Utopie‹, in denen er (…) allein den Typus des ›freischwebenden Intellektuellen‹ behandelt hatte, den Anspruch einer allgemeinen ›soziologischen Theorie der Intellektuellen‹«.

Die Resonanz auf die Revision bleibt zurückhaltend, auch weil zunächst nur Fragmente aus den späteren Schriften bekannt werden. »Das unwahrscheinlichste frühe Echo der Überlegungen Mannheims ist bei Theodor W. Adorno zu identifizieren«, schreibt Neun. Adorno verfasst in seiner Zeit in England eine Kritik an Mannheims Artikel »The Crisis of Culture in the Era of Mass-Democracies and Autarchies« (1934), in dem Mannheim Aspekte aus dem Manuskript zusammengefasst hat.

Nach seiner Übersiedelung in die USA 1938 und der Anbindung an das Institut für Sozialforschung schlägt Adorno für das geplante Projekt »Cultural Aspects of National Socialism« selbst eine soziologische Untersuchung der Stellung der Intellektuellen mit der Begründung vor: »Um das allgemeine kulturelle Umfeld der künstlerischen Bewegungen während der Weimarer Republik zu erklären, werden wir die Eigenschaften und die Stellung der Intellektuellen analysieren, der Gruppe, die künstlerische Werke produzierte und auch das geistige Klima der Weimarer Republik bestimmte«, schreibt er. Die ­Studie wird allerdings nie in Auftrag gegeben.

Nach der »Machtergreifung« ändern sich die Vorzeichen. Mannheim verliert im April 1933 seine Anstellung an der Universität in Frankfurt am Main.

Neben der inhaltlichen Diskussion lohnt sich auch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Aufsätze, die unter dem Eindruck der politischen Erosionen seit Anfang der dreißiger Jahre geschrieben werden. Mannheim beginnt die Arbeit an »Das Problem der Intelligenz« bereits 1931 und hat beim Verlag Mohr Siebeck, der damals ein wichtiger Anlaufpunkt für jüdische, linke und liberale Intellektuelle ist, bereits einen Vertrag über die Veröffentlichung unterzeichnet. Nach der »Machtergreifung« ändern sich die Vorzeichen. Mannheim verliert im April 1933 seine Anstellung an der Universität in Frankfurt am Main, kurz darauf emigriert er nach Paris und später im selben Jahr nach London.

Lehrstuhl an der London School of Economics
Der Verleger Oskar Siebeck weigert sich nun, den Aufsatz zu veröffentlichen, und verweist auf den ­sogenannten Arierparagraphen. Er schreibt an Mannheim, »dass keinem deutschen Verleger die Erfüllung eines Verlagsvertrags mit einem Verfasser zugemutet werden kann, auf den die §§ 2 bis 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Anwendung gefunden haben«. Dem Verlag selbst nützen die Zugeständnisse wenig; er muss sein Programm unter dem Druck der Reichsschrifttumskammer stark reduzieren und steht finanziell wie politisch vor dem Ruin.

Mannheim erhält 1933 auf Vermittlung des marxistischen Politologen Harold Laski einen Lehrstuhl an der London School of Economics and Political Science. Zu seinen Schülern gehört unter anderem der Politologe Franz Neumann, der 1942 mit dem »Behemoth« ein Standardwerk über die Struktur und Praxis des Nationalsozialismus veröffentlichen wird. 1947 stirbt Mannheim unerwartet in London. Seine Wissenssoziologie bleibt unvollendet.

Denjenigen, die sich näher damit auseinandersetzen wollen, sei Helmut Dubiels Essay »Ideologiekritik versus Wissenssoziologie: Die Kritik der Mannheimschen Wissenssoziologie in der Kritischen Theorie« aus dem Jahr 1975 nahegelegt. »Mannheims Wissenssoziologie diente den Vertretern der kritischen Theorie gerade in den Kernpunkten ihres Selbstverständnisses als Kontrastfolie ihrer positionellen Selbstdefini­tion«, schreibt Dubiel dort. Ein erstes Echo lässt sich auch in den beiden neu edierten Aufsätzen vernehmen.


Buchcover

Karl Mannheim: Soziologie der Intellektuellen. Schriften zur Kultursoziologie. ­Herausgegeben und mit einem Nachwort von Oliver Neun. Suhrkamp, Berlin 2022, 236 Seiten, 20 Euro