Fanny Hesse revolutionierte die Bakterienforschung mit einem Haushaltsmittel

Algen aus dem Erzgebirge

Ohne sie stünde Robert Koch ohne Nobelpreis da: Mit einem veganen Trick bereitete Fanny Angelina Hesse im erzgebirgischen Schwarzenberg den Nährboden für die Bakterienforschung. Auf dem Algen­substrat Agar gelang Koch vor 140 Jahren der Nachweis von Tuberkuloseerregern.

»Lina, warum schmilzt dein Wackelpudding in dieser Hitze eigentlich nicht?« Walther Hesse, der das fragte, muss an jenem Sommertag 1881 immens frus­triert gewesen sein. Im Labor floss dem Mediziner der Gelatine-Nährboden weg, auf dem er Bakterienkolonien züchtete. Dabei herrschten in Schwarzenberg, einem Ort im sächsischen Erzgebirge, immerhin nicht ganz so hohe Temperaturen wie andernorts im Deutschen Reich. Doch ohne Boden keine Bakterienzucht, die Hitze ruinierte jedes Experiment. Was würde der berühmte Robert Koch über den Misserfolg sagen, dessen Mitarbeiter Hesse war? Guten Rat gab seine Frau und Assistentin Fanny Angelina »Lina« Hesse. Sie nannte ihrem Walther einen Küchentrick, den heute jeder Veganer kennt. Der Tipp revolutionierte die Bakterienerforschung und Schwarzenberg ging in die Geschichte der Mikrobiologie ein. Dort, wo heutzutage ein nicht geringer Teil der Einwohnerschaft reaktionär ist, brachte ein veganes Mittel die Lösung, wo tierische Produkte wie Fleischbrühe und Gelatine versagten. Und die Hilfe kam aus Übersee.

Diese Episode aus dem Leben seiner Großeltern hat Wolfgang Hesse 1992 in einem Fachartikel für die Amerikanische Gesellschaft für Mikrobiologie festgehalten. Ob Walther Hesses verzweifelte Frage genau diesen Wortlaut hatte, ist freilich nicht überliefert. Verbrieft aber ist, dass er sich über die feste Konsistenz seines Nachtischs wunderte. Fanny Hesse enthüllte ihm, dass sie Agar als Geliermittel benutzte, ein in Asien gebräuchliches Algenpräparat. Die Schwarzenberger Episode war lange nicht bekannt, wird sie erzählt, dann als augenzwinkernde Anekdote über die helfende Hausfrau. Das wird Fanny Hesse keinesfalls gerecht. Denn sie war vielmehr als das tätig, was man heutzutage Laborassistentin nennt. Und sie war weltläufig.

Fanny Angelina Eilshemius wurde am 22. Juni 1850 in New York City geboren. Ihr Vater, ein Händler, stammte aus den Niederlanden, die Mutter aus einer französisch-schweizerischen Familie. Erstes Wissen über das Kochen erhielt Fanny von ihrer Mutter und den Bediensteten. Im Alter von 15 Jahren absolvierte sie eine Ausbildung in Hauswirtschaftslehre in der Schweiz. Walther Hesse lernte sie kennen, als dieser als Passagierschiffsarzt in New York Station machte. Zuvor hatte der gebürtige ­Bischofswerdaer die Dresdner Kreuzschule besucht und an der Universität Leipzig Medizin studiert. Er traf Fanny einige Monate später im Sommer 1872 in Dresden wieder, wo sie Urlaub machte. Er hatte damals eine Stelle als Assistenzarzt in Pirna. Es funkte und zwei Jahre darauf heirateten die beiden. ­Zunächst ließ sich das Paar in Zittau nieder, wo Walther als Arzt praktizierte. Dann zog es die Eheleute 1877 in die Bergarbeitersiedlung Schwarzenberg. Hier war Walther als Bezirksarzt angestellt, in seiner Verantwortung lag vor allem die Gesundheit der untertage Tätigen.

In Frankreich kochten Forscher wie Louis Pasteur Fleischbrühe für die Bakterienzucht.

Neben der Heilpraxis waren die Hesses an der medizinischen Forschung interessiert. Darum nutzte Walther eine Beurlaubung, um beim späteren Nobelpreisträger Robert Koch in Berlin zu arbeiten. Dieser machte ihn mit dem mikrobiologischen Experimentieren vertraut. Mit einigem Erfolg setzte Hesse danach eigene Untersuchungen in seinem Schwarzenberger Labor fort und publizierte regelmäßig in Fachzeitschriften. Er trug unter anderem zur verbesserten Tuberkulosediagnose und der Keimbefreiung von Wasser bei. Mit Kräften half ihm dabei Fanny – neben der Haushaltsführung und der Erziehung der drei Söhne. So bereitete sie die Petrischalen für die Bakterienzucht vor. Als begabte Zeichnerin protokollierte sie die Beobachtungen unterm Mikroskop visuell und lieferte Illustrationen für die Veröffentlichungen ihres Mannes.

Und Fanny löste das anhaltende Problem des Nährbodens für die Bakterienzucht. Dafür bedurfte es einer festen, sterilisierbaren Substanz mit relativ konstanten Eigenschaften. In Frankreich kochten Forscher wie Louis Pasteur Fleischbrühe für die Bakterienzucht. Da darin aber zu viele verschiedene Bakterienarten gedeihen, erwies sich diese Grundlage für gezielte Forschung als ungeeignet. Da war Gelatine schon ein Fortschritt: Das hatte Walther Hesse von Robert Koch gelernt. Aber das Schwarzenberger Sommerklima erwies sich als unerbittlich. Immer wieder zerfloss die Gelatine in der Hitze, die Bakterienkulturen verschwanden im Schleim. Fannys Rat, es mit Agar zu versuchen, überzeugte den Forscher ­sofort. Man könnte von einem Durchbruch sprechen.

Dabei ist Agar, manchmal auch als Agar-Agar bezeichnet, kein Geheim­rezept. Nur war es damals in Deutschland recht unbekannt. Das vor allem aus Rotalgen gewonnene Präparat wird seit Jahrhunderten überwiegend in der ostasiatischen Küche eingesetzt, unter anderem als Verdickungsmittel in Suppen und Süßspeisen. Es eignet sich hervorragend als Geliermittel, weshalb es heutzutage als veganer Ersatz für die aus Tierknochen gewonnene Gelatine sehr beliebt ist. Mit Agar gelingen Sülzen und Panna cotta auch ohne tierischen Zusatz. Fanny kannte es von einem Nachbarn in New York, der aus Java eingewandert war. Seitdem nutzte sie selbst Agar für ihre Puddings und Gelees – und brachte es nach Sachsen mit.

Für die Mikrobiologie eignet sich Agar besonders wegen seiner Temperaturstabilität. Kocht man es in Wasser auf, entsteht ein stabiles Gel, das bei 95 Grad flüssig wird – Gelatine hingegen zerfließt bei 37 Grad. Für die meisten Bakterien ist Agar unverdaulich, was einen zusätzlichen Vorteil gegenüber der Gelatine darstellt. Darum wird das Algengel bis heute in der Mikrobiologie verwendet und machte viele Entdeckungen in diesem Bereich erst möglich.

Walther Hesse berichtete alsbald Robert Koch von seinem neuen Nähr­medium, der es dann auch in seinem Labor einsetzte. Damit gelang Koch sein Durchbruch bei der Tuberkulose­erforschung, für die er den Medizinnobelpreis erhielt. Er erwähnte bei der öffentlichen Bekanntmachung im März 1882, dass er das TBC-Bakterium entdeckt hatte, auch das neue Kulturmedium Agar. Den Namen Fanny Angelina Hesse nannte er bei dem Auftritt nicht. Ihr Verdienst ist weitgehend vergessen. Wer ihn auf die Lösung brachte, von Gelatine auf den Nährboden Agar zu wechseln, verriet Robert Koch nie. Das kam erst später heraus. An ihrer Idee verdienten die Hesses keinen Pfennig. Sie zogen 1890 nach Dresden, wo Walther 1911 starb. Seine Frau überlebte ihn um 23 Jahre.

So bereitete Fanny mit einem Rezept aus Java, das sie in New York erhielt, im sächsischen Erzgebirge den Nährboden für die globale Bekämpfung der Tuberkulose. Mehr Internationalismus geht kaum. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass es dort heutzutage Morddrohungen hagelt, wenn wie jüngst in Dresden eine »vegane Fleischerei« eröffnet, die ihre Produkte auch noch umbenennen muss. Man frage mal Bakterien.