Das Oberste Gericht Indiens entscheidet über die Legalisierung der Ehe für alle

Umstrittene Normen

Vor dem Obersten Gericht in Indien wird über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen verhandelt. Die Akzeptanz von Homosexualität wächst, doch es gibt heftigen Widerstand.

Shikhandi wurde als Mädchen geboren, wollte aber immer ein Junge sein, lebte wie einer und heiratete. Weil seine Gattin unzufrieden war, unterzog er sich einer Umwandlung, um das Geschlecht eines Mannes anzunehmen. Die Geschichte dieses mythischen Kämpfers im antiken Epos Mahabharata zeigt Geschlechterambivalenz im historischen Hinduismus. Im heutigen Indien hingegen ist sie heftig umstritten.

Nach geltendem Recht dürfen nur heterosexuelle Paare heiraten. Dies könnte sich nun ändern. Derzeit findet am Obersten Gerichtshof in Neu-Delhi die Hauptverhandlung über die Legalisierung der Ehe für alle statt. Mukul Rohatgi, einer der Anwälte der Antragstellenden, argumentiert, dass heteronormative Gesetze ein viktorianisches Erbe widerspiegelten, das überwunden werden müsse.

Seit dem 20. April ist Indien nach offiziellen Statistiken das bevölkerungsreichste Land der Erde – und auch die Hochzeitsindustrie wächst. Allein für das erste Halbjahr 2023 wird ein Umsatz von 159 Milliarden US-Dollar prognos­tiziert. Ein Blick in Magazine wie Vogue zeigt, dass ein lukrativer Markt bei Ehen für alle erwartet wird.

Als Kund:innen sind LGBT interessant, als Wähler:innen allerdings weniger – für die nationale Parlamentswahl im kommenden Jahr gelten die Stimmen der LGBT-Community nicht als entscheidend.

Als Kund:innen sind LGBT interessant, als Wähler:innen allerdings weniger – für die nationale Parlamentswahl im kommenden Jahr gelten die Stimmen der LGBT-Community nicht als entscheidend. Die regierende hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) ist längst im Wahlkampfmodus, ihre konservative Basis lässt sich mit Ausgrenzung besser mobilisieren als mit Liberalität. Tushar Mehta, als Solicitor General Anwalt der Regierung in diesem Verfahren, versuchte bis zuletzt, den Beginn der Verhandlungen vor dem Obersten Gericht zu verhindern. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften entsprächen nicht den sozialen Normen Indiens, so das Argument.

Für die BJP sind die religiösen hinduistischen Schriften eine wichtige politische Legitimationsquelle. Dass es in ihnen neben Shikhandi viele weitere nicht binärgeschlechtliche Charaktere und nicht heterosexuelle Partnerschaften gibt, prägt die Normen der Partei jedoch nicht. Vor Gericht sprachen sich außer religiösen Oberhäuptern des Hinduismus auch solche des Islam, des Jainismus, des Sikhismus und des Christentums in seltener Einmütigkeit gegen die Ehe für alle aus – da Eheschließungen zur Fortpflanzung dienten, seien sie nur zwischen Männern und Frauen statthaft. Die sozialen Normen Indiens sind jedoch im Wandel. In einer repräsentativen Umfrage des Pew Research Center von 2020 sprachen sich 37 Prozent der Befragten dafür aus, Homosexualität zu akzeptieren, 22 Prozentpunkte mehr als sechs Jahre zuvor.

Fortschritte in der Gesetzgebung hat es bereits gegeben. Transgender-Personen werden als solche seit 2014 rechtlich anerkannt. 2018 legalisierte des Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtlichen Sex, der zuvor nach Paragraph 377 des Strafgesetzbuchs als Vergehen bestraft worden war. In vielen südasiatischen Ländern, darunter Pakistan, Sri Lanka und Bangladesh, gilt das aus der Kolonialzeit stammende gesetzliche Verbot der Homosexualität bis heute.

Eine der Anwältinnen, die den Paragraphen 377 in Indien zu Fall gebracht haben, ist Menaka Guruswamy. In einem Vortrag an der Universität Oxford erklärte sie 2020, warum die Forderung nach der Ehe für alle der nächste logische Schritt sei: »Eheschließungen sind sowohl aus sozialer als auch als legaler Perspektive wichtig.« Demnach biete die Ehe für alle Chancen, die soziale Akzeptanz für die Partnerschaft zu erhöhen. In Indien hätten Hochzeiten einen enormen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Ehe für alle würde außerdem Zugang zu Rechten verschaffen, die Verheirateten vorbehalten sind – zum Beispiel bei Krankenversicherung und Landbesitz, im Steuerrecht und möglicherweise sogar bei Adoptionen.

Guruswamy und ihre Partnerin Arundhati Katju treten daher auch im vorliegenden Fall als Anwältinnen auf. Sie fordern, dass der Special Marriages Act von 1954 angepasst wird. Da­r­in soll nicht mehr von Männern und Frauen, sondern von »Personen« die Rede sein. Der Special Marriages Act regelt die Ehe von Paaren, die nicht ­unter religiösem Recht heiraten wollen oder können. Die geforderte Änderung würde den verfassungsrechtlichen Schutz für Minderheiten stärken.

Das wird allerdings nicht zwangsläufig für Gerechtigkeit sorgen. Die Soziologin Paro Mishra vom Indraprashta Institute of Information Technology in Delhi weist im Gespräch mit Jungle World auf die bestehenden patriarchalen Strukturen hin. »Die Ehe ist eine ungleiche Institution, die auf einer Autoritätsbeziehung basiert.« Bei Hochzeiten gehe es schon immer um die ­sexuelle Kontrolle von Frauen, etwa durch arrangierte Ehen. Durch Prak­tiken wie Mitgiftzahlungen solle sichergestellt werden, dass bestimmte finanzielle Ressourcen innerhalb der eigenen sozialen Gruppen (etwa Kasten oder Klassen) blieben.

Vor Gericht sprachen sich religiöse Oberhäupter des Hinduismus, des Islam, des Jainismus, des Sikhismus und des Christentums in seltener Einmütigkeit gegen die Ehe für alle aus.

Zugespitzt ließe sich die Frau also als Eigentum des Mannes betrachten – so stehen auch Vergewaltigungen in der Ehe in Indien nicht unter Strafe. Weil diese patriarchalen Strukturen weiterhin in breiten Bevölkerungsschichten sozial anerkannt seien, sei nicht automatisch gewährleistet, dass alle Personen in der Ehe die gleichen Rechte erhielten. »Selbst wenn solche Ehen geschlossen werden – ob sie etwa beim Mieten ­einer Wohnung oder beim Hauskauf mit heterosexuellen Partnerschaften gleich gewertet werden, sei dahingestellt.«

Die Regierung bezeichnet die Reformforderungen als Ausdruck einer »urbanen, elitären Sichtweise«. Dabei zeigen Studien des Forschungsprogramms Lokniti am Centre for Developing Societies gemeinsam mit der Azim-Premji-Universität, dass die Akzeptanz für nicht heteronormative Formen der Partnerschaft in ländlichen Gebieten sogar leicht höher liegt als in den Städten.

Die Stimmen von lesbischen Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen und Landarbeiterinnen hatte die ­Aktivistin Maya Sharma bereits in ihrem Buch »Loving Women« (2006) eingefangen. So auch die Geschichte der Polizistinnen Urmila Srivastava und Leela Namdeo, die bereits 1988 mit dem Einverständnis beider Familien nach hinduistischem Ritual heirateten. Das Glück währte allerdings nur kurz – als ihr Vorgesetzter davon erfuhr, verloren sie beide ihre Arbeit und wanderten ins Gefängnis.

Das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung solcher Eheschließungen durch das Oberste Gericht ist also groß. Die Entscheidung wird für Anfang Mai erwartet.