Außenpolitisch ähnelt der Oppositions­kandidat Kemal Kılıçdaroğlu Präsident Erdoğan durchaus

Hoffen auf eine Zeitenwende

Überhöhte außenpolitische Erwartungen der westlichen Staaten heften sich an den möglichen Wahlsieg der türkischen Opposition. Diese strebt unter anderem ein Abkommen mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad über die Rückführung syrischer Geflüchteter an.

Dass Recep Tayyip Erdoğan die notwendige türkische Zustimmung zu einem Nato-Beitritt Schwedens zu poli­tischer Erpressung nutzt, ist nur eines unter vielen Beispielen für die schwie­rigen Beziehungen der Türkei zu ihren Nato-Partnerländern. Mit seinem oft erratischen Auftreten habe Erdoğan »bei Freund und Feind« Zweifel an der Rolle der Türkei in der Nato gesät. Man nehme die Türkei immer mehr als »disruptive Macht mit einer verworrenen strategischen Ausrichtung« wahr, so İsmail Alper Coşkun, der langjährige türkische Spitzendiplomat und heu­tige Berater der Washingtoner Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden. Hohe Erwartungen knüpfen sich daher in außenpolitischer Hinsicht an einen möglichen Machtwechsel in der Türkei nach den Wahlen am 14. Mai.

Entsprechend vollmundig wusste der CHP-Spitzenpolitiker und außenpoli­tische Berater von Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, Ahmet Ünal Çeviköz, solche Erwartungen kürzlich gegenüber dem Magazin Politico zu bedienen. So werde die Türkei im Falle eines Wahlsiegs des Oppositionsbündnisses die Urteile des Europäischen Menschengerichtshofes wieder respektieren und umgehend den Menschenrechtler Osman Kavala und den HDP-Politiker Selahattin Demirtaş sowie weitere politische Gefangene freilassen, Schwedens Nato-Beitritt nicht weiter blockieren und sich gegenüber Russland klar wie jedes andere Nato-Mitglied verhalten, schließlich auch Erdoğans Konfrontationen mit der EU beenden und wieder konstruktiv den EU-Beitrittsprozess vorantreiben.

Als Erdoğan im Juni 2022 den Konflikt mit Griechenland eskalieren ließ, feuerte Kılıçdaroğlu ihn an: »Wenn du den Mut hast, unternimm etwas wegen der besetzten Inseln – wir unterstützen dich!«

Allerdings wird die Türkei nach übereinstimmenden Einschätzungen außenpolitischer Beobachter wohl weiterhin ihre eigenständige Rolle als Regionalmacht betonen und daher ihre Schaukelpolitik zwischen der EU und den USA einerseits sowie Russland und China andererseits bis zu einem gewissen Grad weiterführen. Der Ton wird sich sicher ändern: Erdoğans »neoosmanisches« Großmachtgehabe wird eine neue Regierung wahrscheinlich so nicht fortführen und dessen provokative Rhetorik durch verbindlichere Kommunikationsformen ersetzen.

Jedoch ist angesichts der ideologisch reichlich disparaten Zusammensetzung von Kılıçdaroğlus liberal-konservativer Wahlallianz »Bündnis der Nation« völlig unklar, wie sich Çeviköz’ Versprechungen in konkrete Politik umsetzen lassen. So finden sich in dem Bündnis neben der islamistischen Saadet-Partei auch die İyi-Partei der stramm nationalistischen Meral Akşener, die allerdings für eine deutlichere Abgrenzung von Russland eintritt. Und nicht zuletzt sind auch die Parteien von gleich zwei ehemaligen Außenministern Erdoğans vertreten: Ali Babacan (Deva Partisi) und vor allem Ahmet Davutoğlu (Gelecek Partisi), der zunächst Babacan als Außenminister abgelöst hatte und schließlich sogar Ministerpräsident wurde, bevor er sich mit Erdoğan überwarf. Der ehemalige Professor für Politik gilt als treibende Kraft hinter Erdoğans als »Neoosmanismus« ­bezeichneter Politik der Einflussnahme auf ehemalige osmanische Gebiete.

Daher fragte der Analyst Steven A. Cook in der Zeitschrift Foreign Policy, »wem das Bündnis mit diesen Worten etwas vormachen will«, wenn es erkläre, dass künftig »innenpolitische Berechnungen und ideologische Ansätze« keine Faktoren der Außenpolitik mehr sein werden. So haben nicht nur einige der kleineren Bündnispartner in der Vergangenheit gerne mal mit antiamerikanischen Ressentiments Innenpolitik gemacht, auch Kılıçdaroğlu ist eine Politik mit der Mobilisierung nationalistischer Affekte nicht fremd. Das gilt insbesondere für europapolitische Reiz­themen wie die Zypern-Frage und den Dauerstreit mit Griechenland um ägäische Inseln. So erinnerte Kılıçdaroğlu im vergangenen Juni, als Erdoğan die türkisch-griechischen Spannungen bis zu offenen Kriegsdrohungen anheizte, daran, dass es mit Mustafa Bülent Ecevit ein Ministerpräsident der seinerzeit sozialdemokratisch orientierten CHP war, der 1974 den Befehl zur türkischen Invasion auf Zypern gab.

Im Streit um die Ägäis-Inseln trieb die CHP Erdoğan regelrecht vor sich her: Fast 100 parlamentarische Anfragen der Opposition zu angeblich »­türkischen Inseln unter griechischer Besatzung« seit Beginn der Erdoğan-Ära 2002 hat der Leiter des Zentrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Günter Seufert, vergangenen Juli in einem Artikel für die Zeitung Le Monde diplomatique gezählt. Als Erdoğan im Juni 2022 den Konflikt mit Griechenland eskalieren ließ, feuerte Kılıçdar­oğlu ihn an: »Wenn du den Mut hast, unternimm etwas wegen der besetzten Inseln – wir unterstützen dich!«

Wie eng Innen- und Außenpolitik zusammenhängen, zeigt der türkische Wahlkampf da am hässlichsten, wo er auf dem Rücken syrischer Geflüchteter ausgetragen wird, deren Anwesenheit in der Bevölkerung auf immer stärkere Ablehnung stößt. Das Oppositionsbündnis versucht, Erdoğan mit Versprechungen einer zügigen Rückführung zu überbieten. Kılıçdaroğlu ­versprach seinen Wählern, binnen zwei Jahren 3,5 Millionen Syrer:innen abzuschieben. Erdoğan hat auf den Druck der Opposition bereits reagiert und sich um Verhandlungen mit Sy­riens Machthaber Bashar al-Assad über eine Rückkehr der Syrer:innen bemüht. Dieser verweigert jedoch direkte Gespräche, solange die Türkei syrisches Territorium besetzt hält – gemeint sind die von der Türkei besetzten kurdischen Kantone in Nord­syrien.

Sollte es zu einem Abkommen zwischen dem möglichen Wahlsieger Kılıçdaroğlu mit Assad kommen, könnten die syrischen Kurden und damit auch das Selbstverwaltungsmodell in Rojava zur Verhandlungsmasse geraten. Da das jetzige Oppositionsbündnis auf die Stimmen der kurdischen Bevölkerung der Türkei angewiesen ist, um an die Regierung zu kommen, säße die neue Regierung in einer Art Zwickmühle. Auch beim Flüchtlingsabkommen mit der EU kündigte Kılıçdaroğlu an, dem Motto »Türkei zuerst« zu folgen. Dass sich die Türkei in Flüchtlingsfragen nicht als »Pufferstaat« missbrauchen lasse, steht in seinem Wahlprogramm. Cook warnt daher völlig zu Recht vor euphorischen Hoffnungen auf substantiell bessere Beziehungen der westlichen Staaten zur Türkei.