Sammy Loren, Schriftsteller, im Gespräch über Berlin, Literatur und Millennials

»Berlin ist eine urkomische Karikatur seiner selbst«

Im Zentrum der Noir-Geschichten des Schriftstellers Sammy Loren, die zwischen Kulturestablishment und Unterwelt angesiedelt sind, stehen jüdisch-amerikanische Romantiker, die unglücklich verliebt sind und mit der Gegenwart hadern. Ein Gespräch über Literatur in der Zeitung, die Hysterie der Millennials und darüber, wie langweilig Berlin wirklich ist.

Der Fortsetzungsroman ist eine Seltenheit geworden. Worin liegt für Sie der Reiz, Ihre Erzählungen in mehreren Teilen zu veröffentlichen? Die mexikanische Tageszeitung La Prensa zum Beispiel hat Ihre Kapitel zwischen Fotostrecken über den Drogenkrieg platziert.
Die Idee, fortsetzende Erzählungen zu veröffentlichen, habe ich im Grunde von Isaac Bashevis Singer geklaut. Als ich 2019 in Mexiko-Stadt lebte, habe ich begonnen, seine großartigen, ausufernden Romane »Schatten über dem Hudson« und »Die Familie Moschkat« zu lesen, die beide ursprünglich in der sozialistischen jiddischen Tageszeitung The Forward in New York erschienen. Ich mag die Schnelligkeit dieser Art von Geschichten und habe große Angst, meine Leser zu langweilen. In der Zwischenzeit habe ich, um Spanisch zu üben und weil ich ein Freak bin, mexikanische Boulevardzeitungen gelesen. Man nennt sie notas rojas (rote Blätter), wegen ihres blutigen Inhalts. Sie verkaufen sich weit besser als die normalen Zeitungen und sind sehr freudianisch: Auf den Titelseiten prangen Pornostars und blutige Leichen, Sex und Tod.

»Was mich fasziniert, sind Figuren, die nach etwas suchen, das sie nie finden.«

Luis Cariles, ein berühmt-berüchtigter Redakteur von La Prensa, war von der Idee begeistert und räumte der Ankündigung meiner Geschichte jeden Montag den besten Platz auf der Titelseite ein. La Prensa und im Grunde alle roten Blätter sind die Zeitungen der Arbeiterklasse, der Straßenreiniger, Köche, Prostituierten, Busfahrer. Und ich finde es toll, dass genau diese Menschen meine Arbeit lesen und nicht die übliche Mafia aus Studierenden und Naturweinliebhabern.

Ihr Stil ist lakonisch, beißend, manchmal grotesk und erinnert an große Hardboiled-Autoren wie Mickey Spillane oder Raymond Chandler. Dabei sind Ihre Protagonisten nicht hartgesotten im eigentlichen Sinne, sondern von einer großen Sehnsucht getrieben. Sie arbeiten als Journalisten, in der Kreativbranche, haben Bürojobs: Leben, die Sie als sehr desillusioniert beschreiben. Darin ähneln sie manchmal den Protagonisten von Bret Easton Ellis. Wer sind Ihre Vorbilder beim Schreiben?
Ich hatte schon immer eine recht schlampige, unkuratierte Art zu lesen. Ich kaufe viele Bücher in Second-Hand-Läden und auf Flohmärkten – Zeitgenössisches, aber auch Historisches über den Zweiten Weltkrieg, Science-Fiction und Klassiker. Meine Haupteinflüsse kommen von außerhalb der USA – Roberto Bolaño, Yuri Herrera, Zadie Smith, Anita Desai, Mohammed Hanif. Bret Easton Ellis habe ich erst später kennengelernt und liebe seine Arbeit. Was mich fasziniert, sind Figuren, die nach etwas suchen, das sie nie finden, und genau das sind die Protagonisten in »La Mora« und »Berlin Summer« – Träumer, die von Frauen verhext und gequält werden, ja, aber hauptsächlich von ihren eigenen Phantasien.

Im Gegensatz zum Kriminalroman geht es im Noir, dem Sie sich verpflichtet fühlen, weniger um Aufklärung als vielmehr um deren Unmöglichkeit – die Grenzen der Aufklärung. Das Milieu, in dem sich Ihre Figuren bewegen, ist ein liberales, manchmal entschieden wokes Milieu, das vorgibt, besonders rechtschaffen zu sein, es aber nicht unbedingt ist.
Die Gegenwart ähnelt im Grunde mehr und mehr einem Noir. Kulturell, gesellschaftlich und politisch sehe ich lauter Irrgärten und Labyrinthe, die alle bloß in Sackgassen führen. Der Noir-Stil ist für mich eine wunderbare Möglichkeit, meine Figuren und Themen in der Welt verlorengehen zu lassen, sie zu entstellen. Genauso wie es in Politik und Kultur tagtäglich geschieht.

Die Protagonisten von »La Mora« und »Berlin Summer« stammen aus unterschiedlichen Generationen. Da ist der eitle Yuppie Francis in »La Mora«, der besessen ist von sozialen Medien, gesunder Ernährung und Sport. In »Berlin Summer« gibt es Julian Hirsch, einen abgehalfterten, versoffenen Journalisten, der früher einmal Ideale hatte und nun an seiner jungen Redaktion und am hippen Berlin verzweifelt. Gleichzeitig versucht er, den Mord an einem ukrainischen Rap-Star aufzu­klären.
Was mich fasziniert, ist die Kollision von Gegenwart und Vergangenheit. Zum Beispiel diese generationenübergreifende Hysterie, die ich in meinen Kreisen bei den Millennials erlebe, während die Horden der Generation Z vor die Tore der 5th-Wave-Coffeeshops und Naturweinbars strömen. Ich bin umringt von Kindern der Generation Z, mit denen ich auch meine Lesereihe »Casual Encountersz« mache. Und ich habe permanent das Gefühl, dass sie mich gleich rauswerfen und vor die Tür setzen werden. Jede junge Generation schlachtet vermutlich die heiligen Kühe der älteren Generation. In meinen Geschichten versuche ich nachzuforschen, warum das so ist.

Sie bezeichnen Los Angeles oft als »helLA« und Berlin als »BORElin«. Was ist so höllisch an Los Angeles, was ist so langweilig an Berlin?
»BORElin« und »helLA« sind so unterschiedlich und doch auf unheimliche Weise ähnlich. Sie sind beide voll von eitlen, faden Träumern, Süchtigen und Gaunern. Beide sind Anziehungspunkte für die Kreativen aus aller Welt, zu denen ich natürlich auch gehöre, deren Tugendhaftigkeit, Frömmigkeit und Leere ich aber absolut verachte. Los Angeles ist höllisch, weil es so betrügerisch ist – der Traum vom Ruhm, der amerikanische Traum, das Reichwerden: L.A. produziert diese Phantasien am laufenden Band. Berlin ist so langweilig, weil jeder denkt, es sei der coolste Ort der Welt, aber das ist er nicht. Berlin ist eine urkomische Karikatur seiner selbst. Wenn ich ausgegangen bin, haben mir die Kellner ständig gesagt, ich solle bitte nicht so laut sein. Gleichzeitig gehen alle bis sechs Uhr morgens in ihre Technoclubs, jeder ist ein DJ und alle kleiden sich auch genau so, wie man sich das vorstellt. Ich wollte diese Stimmung in »Berlin Summer« einfangen: Die Art und Weise, wie diese Kaste an brahmanischen Expats innerhalb ihrer eigenen weltfremden sozialen Hierarchie existiert. Man hetzt ständig zu irgendwelchen Kunstmessen hin, um ein paar sexy Fotos auf Instagram zu posten und dann weiterzuziehen.

Sammy Loren und Mikro

»Alle gehen bis sechs Uhr morgens in ihre Technoclubs, jeder ist ein DJ und alle kleiden sich auch genau so, wie man sich das vorstellt.« Sammy Loren

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Ihr Protagonist Julian Hirsch wird in »Berlin Summer« mehrfach mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontiert: im Gespräch mit aggressiven Polizisten, die ihn daran denken lassen, dass ihre Großväter womöglich seine eigene Familie deportiert haben könnten. Ein oft formuliertes Diktum lautet, dass das postnazistische Deutschland seine ermordeten Juden zwar hochhalte, aber seine lebenden Juden misstrauisch beäuge. Gleichzeitig nimmt der Antisemitismus in Berlin seit Jahren zu, insbesondere in Neukölln. Ist der streitbare Julian Hirsch Ihre Antwort auf diese Situation?
Natürlich konfrontiert Julian diese Situation, aber das ist nicht sein Hauptanliegen. »Berlin Summer« ist eine Geschichte über Träumer, ihr Scheitern und ihre Suche nach der Wahrheit – und über ukrainische Flüchtlinge, mit denen ich mich während meiner Zeit in Berlin angefreundet habe. Das Jüdischsein ist jedoch überall in meiner Fiktion präsent, es ist die Luft, das Wasser, der gesamte Subtext. Nun ist Julian zwar neurotisch und wähnt unter jedem Stein Feinde und Bedrohungen versteckt. Aber wie die Berliner darauf reagierten, dass ich Jude bin, war auf eine subtile Weise beunruhigend. Oft entstand zwischen mir und der anderen Person plötzlich eine frostige Stimmung, wenn mein Jüdischsein zur Sprache kam. Vielleicht nicht unbedingt, weil sie Juden hassten, sondern weil sie unsicher waren. Oder was weiß ich? Vielleicht hassen uns die Deutschen immer noch.

In »Berlin Summer« gibt es eine Nebenhandlung, eine widersprüchliche Beziehung, die Julian Hirsch zu einer türkischen Prostituierten von der Kurfürstenstraße aufbaut. Er wohnt bei ihr, schläft mit ihr und kümmert sich um ihren Sohn. Wie wichtig war es für Sie, eine Perspektive einzubringen, die ein Berlin abseits von Clubkultur, Expats und liberaler Mittelschicht zeigt?
Der wahrscheinlich am wenigsten langweilige Aspekt von Berlin ist, dass es eine Einwandererstadt ist. Ich liebe all diese teuren Restaurants, die nach dem Ponzi-System funktionieren, aber genauso liebe ich jene Orte, die abseits davon existieren. Die Figuren in »Berlin Summer«, aber auch in all meinen anderen Werken, tanzen zwischen den Welten. Sie frönen einerseits den Verlustierungen der oberen Mittelschicht: Sie stehen auf Literatur, Kultur und werfen ihr Geld in teuren Restaurants aus dem Fenster. Gleichwohl zieht es sie hin zu völlig ruchlosem Verhalten, sie besuchen Sexarbeiterinnen und saufen sich vor Spätis zu Tode.

Sie arbeiten derzeit an Ihrem ­Debütroman. Können Sie schon etwas darüber verraten?
Das Buch heißt »CARE« und ich beschreibe es gerne als »Der talentierte Mr. Ripley« für die Generation Tiktok. Wie in jeder großen Literatur geht es um viele Dinge, aber hauptsächlich um Geld, Sex und Macht.

Sammy Loren mit Luftballon

Der kalifornische Schriftsteller Sammy Loren hat unter anderem 2022 seine Fortsetzungsgeschichte »La Mora« in der größten ­mexikanischen Tageszeitung »La Prensa« veröffentlicht. Kürzlich hat er seine neue Erzählung »Berlin Summer« fertiggestellt und ­arbeitet derzeit an seinem Debütroman.

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