Die Serie »Jury Duty« zeigt einen fingierten Gerichtsprozess

Die elf Geschworenen

»Jury Duty« heißt eine Mockumentary, in der ein Gerichtsprozess bloß inszeniert wird – doch ein Geschworener weiß nicht Bescheid.

Im Jahr 1998 erschien ein Film, der die Angst einer ganzen Generation auf den Punkt brachte: »Die Truman Show« entwarf das Szenario einer durch und durch gescripteten Welt, in der die soziale Umwelt sich als von Schauspielern bevölkerte Kulisse entpuppt, die aus einer Schaltzentrale dirigiert wird. Der treudoofe Versicherungsangestellte Truman Burbank (Jim Carrey) war dabei der einzige, der nicht wusste, dass sein Leben eine Inszenierung ist, die von einem Millionenpublikum vor den Fernsehern verfolgt wird.

Bemerkenswert ist daran weniger das Spiel mit dem Realitätseffekt. Seit Fassbinders »Welt am Draht« von 1973 gab es immer wieder und besonders oft in den neunziger Jahren in Filmen das Gedankenexperiment, dass die Realität nur eine Illusion sei: Von »Blade Runner« (1982) über John Carpenters »They Live« (1988) und »Dark City« (1998) bis »Matrix« (1999) zieht sich dieser »ontologische Terror«, wie Mark Fisher den Effekt nannte, wenn man an der eigenen Wirklichkeit zweifeln muss, als Motiv durch die Science-Fiction-Dystopien.

»Die Truman Show« allerdings war keine Dystopie in diesem Sinne. Als dem Protagonisten eines Tages aus heiterem Himmel ein Scheinwerfer vor die Füße knallt, begibt er sich auf die Suche nach dem echten Leben hinter der Kulisse. Truman fällt damit aber keinesfalls aus seiner Rolle. Seine Suche nach Authentizität ist die konsequente Fortführung dessen, was die Leute vor den Fernsehern sehen wollen, und wird prompt Teil der rührseligen Inszenierung.

Das Vergnügen an der Serie geht nicht auf Kosten ihrer Figuren. Darin liegt der erste Unterschied zu den meisten deutschen Comedy-Produktionen, die nur das Lachen über andere kennen.

Truman wird von den Menschen geliebt, und zwar für seine Echtheit inmitten einer durchschaubaren, künstlichen Konsumwelt (die etwa die 1999 in »Fight Club« von Edward Norton gespielte Figur in den Wahnsinn treibt). Geliebt wird er denn auch dafür, dass er schließlich in die echte Welt zurückkehrt. Das Verheißungsvolle an Trumans Welt war, dass sie in einem gewissen Sinne noch realer war als die Realität selbst – und dass es aus ihr wenigstens einen Ausweg gab.

In den Filmen der neunziger und frühen nuller Jahre wimmelte es geradezu von solchen Figuren, deren Prüfstein als echtes Individuum dar­in besteht, den Schleier des Konsums zu durchschlagen: Neo in »Matrix« schluckte die rote Pille, John Nada in »They Live« sah mit einer Sonnenbrille die Botschaft »Obey!« hinter den Werbefassaden und Truman Burbank fand den Ausgang aus der Filmkulisse. Im Grunde sind dies postmoderne Heldenerzählungen; die Heldentat besteht in der Bewahrung des eigenen Selbst trotz einer übermächtigen Gesellschaft. Ein Motiv, das sich heute in Selbsthilfeliteratur und bei Influencern finden lässt.

Zum »Helden« wird auch Ronald Gladden erklärt, der Star der US-amerikanischen Serie »Jury Duty«, die seit April auf dem werbefinanzierten Freevee, einem Ableger von Amazon, ausgestrahlt wird. »Jury Duty« zeigt in acht Episoden den Prozess eines Geschworenengerichts, zu dem zufällig ausgewählte Bürger in die Jury berufen werden, um in einem Zivilverfahren ein Urteil zu fällen. Etwas Besonderes ist Gladden deshalb, weil er der Einzige in diesem Szenario ist, der »echt« ist.

»Jury Duty« ist nämlich eine sogenannte Mockumentary – eine fiktive Dokumentation, die das Genre persifliert. Alle Beteiligten am Prozess sind Schauspieler, vom Richter über den Angeklagten und die Klägerin bis hin zur Jury selbst – außer Ronald Gladden, dem man erzählt hat, die Kameras begleiteten das Geschehen für eine reale Dokumentation.

Barbara Goldstein (Susan Berger, Mitte)

Schläft gern mal während der Verhandlung ein. Barbara Goldstein (Susan Berger, Mitte)

Bild:
Amazon Freevee

Die Serie ist also zunächst ein Lausbubenstreich, eine erweiterte Form des prank, wie er auf Videoplattformen ein verlässlich beliebtes Format darstellt. Ein Großteil der Spannung wird dadurch erzeugt, dass man wie ein Komplize des versteckten Regiestabs mitfiebert, ob die Inszenierung auffliegt. Und so bewegt sich die fiktive Handlung immer auf einem schmalen Grat zwischen absurder Eskalation der Ereignisse und der Wahrung von Seriosität. Die Serie entfaltet eine schöne Komik, denn sie befördert einen sehr feinsinnigen Humor, beweist scharfe Beobachtungsgabe und zeichnet ihre Charaktere mit Empathie.

Tatsächlich geht das Vergnügen an der Serie nicht auf Kosten ihrer ­Figuren. Darin liegt der erste Unterschied zu den meisten deutschen Comedy-Produktionen, die nur das Lachen über andere kennen. Das Szenario des Geschworenengerichts ­ermöglicht eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere, denn diversity muss hier nicht zwanghaft herbeigeschrieben werden: Es reicht ein realistischer Querschnitt durch die US-Gesellschaft, um schwarze Frauen, Asian-Americans und Juden zu zeigen. Was oft als Oberflächlichkeit in US-amerikanischen Sozialbeziehungen missverstanden wird, ist tatsächlich ein im besten Sinne respektvoller – liberaler – Umgang miteinander, aus dem »Jury Duty« seine Feel-good-Momente zieht.

Zugleich bietet das Setting auch genug Spielraum für allerhand Skurriles. Zu Beginn der Juryauswahl tauschen sich die Berufenen im Wartezimmer aus, mit welcher Strategie sie der Verpflichtung wohl entkommen könnten. Der Normalo Noah Price (Mekki Leeper), der aufgrund der Verpflichtung seinen ersten Urlaub mit seiner Freundin verpasst, befolgt den Ratschlag, sich vor dem Richter als Rassist zu präsentieren, um so als ungeeignet zu gelten. Und der X-Men-Darsteller James Marsden, der sich selbst spielt, versucht, durch eine inszenierte Paparazziverfolgung zu beweisen, dass seine Popularität das Verfahren empfindlich stören könnte. Daraufhin setzt der Richter alle berufenen Juroren für die Dauer des Prozesses in einem Hotel fest, mit reglementiertem Kontakt zur Außenwelt – eine durchaus übliche Vorgehensweise.

In der Isolation entfaltet sich die Gruppendynamik ungebremst. Die Anarchistin Jeannie Abruzzo (Edy Modica) will Noah verführen und über die Abwesenheit seiner Freundin hinwegtrösten. Der sozial ungeschickte Transhumanist Todd Gregory (David Brown), der etwa Nährschleim aus seinem Rucksack trinkt oder mittels prothetischer Stuhlbeine überall sitzen kann, sucht eine Freundschaft zu Ronald. Der in Scheidung lebende Familienvater Ross Kubiak (Ross Kimball) findet in der Gruppe eine Ersatzfamilie.

Der Richter setzt alle berufenen Juroren für die Dauer des Prozesses in einem Hotel fest, mit reglementiertem Kontakt zur Außenwelt – eine durchaus übliche Vorgehensweise.

Im Mittelpunkt aller Geschehnisse steht Ronald, der vom Richter zum Vorsteher der Jury bestimmt wird und entsprechend die Gruppe zusammenhalten muss. Er hat alle Hände voll zu tun: zum Beispiel Barbara Goldstein (Susan Berger) wecken, wenn sie während der Verhandlung einschläft, und die unterschiedlichen Persönlichkeiten auf einen Konsens bei der Urteilsfindung einschwören.

Trotz der menschelnden Wohlfühlstimmung hat die Serie einen für Unbehagen sorgenden doppelten Boden: Die Zuschauer:innen wissen um den Umstand, dass alles, was Ronald so ernst nimmt, ein schlechter Scherz ist. Seine Sorge um die anderen, sein Gerechtigkeitssinn und Pflichtgefühl, seine Triebkontrolle, eben niemanden zu verurteilen, sondern ihnen das Beste zu wünschen und das Gute in ihnen zu sehen – all das ist auf tragische Weise umsonst.

Wie kann man nun eine solche Grausamkeit auflösen? Die Serie bedient sich dafür notgedrungen der einzigen Mittel, die einer liberalen Gesellschaft zur Versöhnung mit solcherlei Entfremdung zur Verfügung stehen, nämlich Geld und Ideologie: Als Ronald vom Richter die Wahrheit erfährt, bekommt er ein Preisgeld und wird zum Helden gekürt, zum vorbildlichen Menschen. Die Vorbildlichkeit besteht darin, so zu tun, als seien all die Tugenden wirklich etwas wert, als sei es das Entscheidende, integer und gutgläubig zu sein, selbst wenn alles um einen herum nur ein Gag ist.

Damit geht »Jury Duty« noch einen Schritt weiter als einst die »Truman Show«. Während diese offenließ, was mit ihrem Helden in der echten Welt passiert, sieht man zum Schluss Ronald und seine »Freunde«, wie sie auch nach der Sendung noch eine good time haben. Ein Ausweg, ein Jenseits der Kulisse, ist Ronald nicht vergönnt.

»Jury Duty« kann bei Amazon Freevee gestreamt werden.