In den Niederlanden könnte Sterbehilfe weiter liberalisiert werden

Wer über den Tod entscheidet

Seit 2001 ist in den Niederlanden aktive Sterbehilfe für unheilbar Erkrankte zulässig. Nun wird über einen Gesetzentwurf diskutiert, der Sterbehilfe auch für weniger schwer erkrankte Personen ermöglichen würde. Manch einer leistet indes illegale Beihilfe zur Selbsttötung.

Vier Jahre Haft forderte die niederländische Staatsanwaltschaft vergangene Woche im niederländischen Den Bosch für Alex S., der verdächtigt wird, Beihilfe zur Selbsttötung geleistet zu haben. Er soll ein »Mittel X« genanntes Präparat zur Selbsttötung, dessen chemische Zusammensetzung nicht bekannt ist, an Hunderte Personen verkauft haben. Insgesamt soll S. damit laut Anklage bis zu 85.000 Euro verdient haben. Im Prozess wird Beihilfe zur Selbsttötung in zehn Fällen verhandelt.

Der Angeklagte und seine Unter­stützer:innen betrachten den Vertrieb des Selbsttötungsmittels als politischen Aktivismus. S. habe vor Gericht erklärt, dass das Gesetz zur Sterbehilfe in den Niederlanden zu restriktiv sei, berichtete der Nachrichtensender NOS. Der 30jährige ist im Umfeld der Organisation Coöperatie Laatste Wil (Kooperation Letzter Wille) aktiv. Ihr Ziel ist es nach eigenen Angaben, »ein selbstbestimmtes Lebensende ohne Kontrolle durch Dritte zu ermöglichen«.

In den Niederlanden gibt es kein Anrecht auf Sterbehilfe, so dass Ärztinnen Patienten ihre Unterstützung verweigern können. Zudem dürfen sie nur innerhalb enger Grenzen straffrei aktive Sterbehilfe leisten. Leidet ein Patient in »unerträglichem Maße« an einer körperlichen oder psychischen Erkrankung, kann er einen Antrag stellen. Nur wenn er »keine Aussicht auf Besserung hat« und alle medizinischen Mittel ausgeschöpft sind, dürfen Ärzte die Sterbehilfe bewilligen und leisten. Entscheidend ist, dass die Patienten zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung in der Lage sind, eine eigenständige Willensentscheidung zu treffen, die den behandelnden Arzt überzeugt. Hierzu können die Patienten auch vor Eintritt der Erkrankung eine schriftliche Willenserklärung abgeben. Zudem muss ein unabhängiges Gutachten einer weiteren Ärztin eingeholt werden.

Wurden im Jahr 2002 noch knapp 4.000 Anträge auf Sterbehilfe bewilligt, stieg die Zahl im Jahr 2022 auf 8.720, wie aus Zahlen der Regionale Toetsingscommissies Euthanasie (Regionale Prüfungskommissionen Euthanasie, RTE) hervorgeht. Die RTE prüfen bewilligte Anträge darauf, ob alle Sorgfaltskriterien eingehalten wurden, und veröffentlichen jährlich einen anonymisierten Bericht. Die weit überwiegende Anzahl der Anträge wurden demnach im vergangenen Jahr von Patienten mit unheilbarem Krebs gestellt, zahlreiche weitere von Personen, die anderweitige unheilbare somatische Erkrankungen hatten, die ihnen starke Schmerzen bereiteten. Zudem wurden in 115 Fällen psychische Erkrankungen und in 288 Fällen Demenz als Grund bei der Antragstellung angegeben, davon sechs Fälle von schwerer Demenz.

Die Socialistische Partij (SP) kritisiert, dass die Unterfinanzierung der Pflege oder die unzureichende Palliativ­versorgung nicht dazu führen dürften, dass Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen.

Doch auch die Rechtsprechung des Obersten Gerichts der Niederlande hat dazu beigetragen, dass Sterbehilfe für mehr Personen möglich ist. In einem vielbeachteten Verfahren stand vor einigen Jahren erstmals eine Ärztin vor Gericht, die wegen Mordes angeklagt wurde, weil sie einer schwer dementen Patientin Sterbehilfe geleistet hatte, die zwar eine schriftliche Willenserklärung verfasst hatte, sich aber aufgrund ihrer Demenz nicht daran erinnern konnte. Mehrfach äußerte die demente Frau zudem den Wunsch, noch nicht zu sterben. Dennoch verabreichte die Ärztin nach Absprache mit der Familie der 74jährigen die tödliche Spritze. Nach einem mehrjährigen Verfahren sprach das höchste Gericht die Ärztin im Jahr 2020 frei, weil sie die Willenserklärung der Patientin sorgfältig abgewogen und gedeutet habe.

Seit diesem Urteil hat die Zahl an Sterbehilfeanträgen zugenommen, in denen der Befund »Häufung alters­bedingter Krankheiten« als Grund angeführt wurde, wie aus einem Bericht der RTE hervorgeht. Der Befund »Häufung altersbedingter Krankheiten« kann laut RTE eine Vielzahl von subjektiven Ursachen haben: »Das Leid kann in Verbindung mit der Krankheitsgeschichte, der Biographie, der Persönlichkeit, Wertemustern und der Fähigkeit des Patienten, Leid zu ertragen, als hoffnungslos und unerträglich empfunden werden.« Die Zahl der bewilligten Anträge, denen dieser Befund zugrunde liegt, hat sich seit dem Gerichtsurteil von 2020 verdoppelt und liegt mittlerweile bei knapp 400 von 8.720 Fällen insgesamt, wie aus dem diesjährigen RTE-Bericht hervorgeht.

Die derzeitig gültige Regelung findet in der niederländischen Bevölkerung Zustimmung. Das geht aus einem Ex­pert:in­nenbericht vom Mai hervor, der alle fünf Jahre die Gesetzes- und Versorgungslage mit Blick auf die Sterbehilfe evaluiert. Demnach war die Mehrheit der befragten Niederländer der Meinung, dass die Autonomie der Patienten ein zentrales Gut sei. Zudem waren über zwei Drittel der Meinung, »dass jeder Mensch das Recht hat, selbst über sein Leben und seinen Tod zu entscheiden, und dass er auf Wunsch Anspruch auf Sterbehilfe oder assistierten Suizid haben sollte«.

Die linksliberale Partei D66 arbeitet seit einigen Jahren an einem Gesetzentwurf, der voltooid leven (erfülltes Leben) als Kriterium für die Sterbehilfe einführen soll. Personen, die älter als 75 Jahre sind, sollen demnach einen Antrag auf Sterbehilfe stellen können, wenn sie finden, dass »sie von der Zukunft keine wesentlichen wertvollen Entwicklungen mehr erwarten«. Unterstützung kommt von der Partei Groenlinks und von der linken feministischen und antirassistischen Partei BIJ1, in der auch die Behindertenrechtsaktivistin von der Gruppe Feminists Against Ableism, Jeanette Cheddar, aktiv ist. In ihrem Programm für die Parlamentswahlen 2021 forderte die Partei: »Menschen, die ihr Leben als erfüllt betrachten, sollten die Freiheit haben, eine informierte und freiwillige Entscheidung treffen zu können, um ihr Leben auf eine würdige Weise zu beenden.«

Nach dieser Gesetzesinitiative würden also weder psychologische noch medizinische Indikationen in Zukunft die aktive Sterbehilfe für Personen, die älter als 75 sind, einschränken. 2016 kam eine Expertenkommission zu einem negativen Befund über die Gesetzesinitiative. Demnach sei nicht nur der Entwurf, sondern schon der Begriff »erfülltes Leben« im Zusammenhang mit Sterbewünschen älterer und nicht schwer kranker Menschen unangemessen, weil für die meisten Befragten nicht ein erfülltes Leben, sondern Alltagsprobleme den Sterbewunsch begründeten.

Auch die Professorin für Palliativmedizin und geistige Behinderung an der Londoner Kingston-Universität, Irene Tuffrey-Wijne, kritisierte den Gesetzentwurf. In einer jüngst veröffentlichten Studie hat sie mit Kolleg:innen 39 Sterbehilfe-Fälle in den Niederlanden untersucht, in denen Formen geistiger Behinderung und/oder autistische Störungen beim Antrag eine Rolle gespielt haben. Es gebe für Menschen mit Behinderung gravierende Mängel in der Gesundheits- und Sozialfürsorge, schreiben die Autor:innen. In einigen der untersuchten Sterbehilfe-Fälle hätte solche mangelnde Fürsorge für Menschen mit Behinderung eine Rolle gespielt. Die Forscher:innen warnen deshalb davor, den Handlungsspielraum von Ärzten in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft auszuweiten, da dies Druck auf Menschen mit Behinderung aufbauen könne, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.

Auch darüber hinaus beeinflussen gesellschaftliche Missstände die selbstbestimmte Willensbildung sehr deutlich, wie aus einer von der Regierung beauftragten und 2020 erschienenen repräsentativen Studie hervorgeht. Dar­in wurden die Motive älterer Menschen untersucht, die nicht schwer krank waren, aber dennoch angaben, sterben zu wollen. 61 Prozent der Befragten gaben an, Sorgen, körperlich oder geistig zu erkranken, seien für ­ihren Sterbewunsch ausschlaggebend. Etwas mehr als die Hälfte (56 Prozent) sagte, dass Einsamkeit entscheidend sei. Die Angst, andere zu belasten, (42 Prozent) und Geldprobleme (36 Prozent) wurden auch als wichtige Gründe ­angegeben. Gerade mit Blick auf das Altersarmutsrisiko bei Frauen ist von Bedeutung, dass 67 Prozent der Befragten, die den Wunsch zu sterben äußerten, weiblich waren.

Die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) und die Socialistische Partij (SP) lehnen den Gesetzentwurf »Erfülltes Leben« der Linksliberalen in Teilen ab. Die SP kritisiert, dass gesellschaftliche Probleme wie die Unterfinanzierung der Pflege oder die un­zureichende fachkundige Palliativversorgung nicht dazu führen dürften, dass Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen, weil sie von ihrem ­Leben nichts mehr erwarteten. Aus einer Studie des Zentralen Amts für Statistik der Niederlande geht hervor, dass das Armutsrisiko und die Abhängigkeit von der Sorge anderer ab dem 70. Lebensjahr signifikant zunehmen. Die SP fordert deshalb deutlich höhere Investitionen in die Pflege.

Grundlegende Opposition kommt von den christlichen Parteien. Die evangelikale Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP) und die calvinistische Christen Unie lehnen die Sterbehilfe grundsätzlich ab. Laut SGP »ist das ­Leben das wertvollste Geschenk, das Gott uns macht. Die Menschen dürfen nicht darüber entscheiden.« Der ge­mäßigt konservative Christen-Democratisch Appèl (CDA) befürwortet die derzeit geltende Regelung, lehnt aber eine weitergehende Lockerung ab. Die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), stärkste Kraft in der Zweiten Parlamentskammer, dem Unterhaus der Niederlande, befür­wortet das Gesetzesvorhaben von D66 prinzipiell. Doch fordert sie weitere Studien. In ihrer jetzigen Form könne die Partei dem Entwurf nicht zustimmen, hieß es.

Dass das niederländische Parlament die Gesetzesinitiative »Erfülltes Leben« verabschiedet, ist derzeit also unwahrscheinlich. Als wahrscheinlich gilt indes, dass Alex S. für den Vertrieb des »Mittels X« wegen Beihilfe zur Selbsttötung verurteilt werden wird. Das Urteil wird für den 18. Juli erwartet, teilte das zuständige Gericht auf Anfrage der Jungle World mit.


Hilfe bei Suizid-Gedanken:
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222
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