Die Schönheit der Vampire
Matilde Landetas »Trotacalles« (1951; deutscher Titel: »Mädchen der Straße«) beginnt, nach einem kurzen opening shot auf einen nächtlichen Straßenstrich, mit einer choreographischen Miniatur auf dem Asphalt. Ein paar Frauenfüße in hohen Schuhen, zwei Männerbeine kommen hinzu und die Kamera setzt sich mit ihnen in Bewegung, gleitet an mehreren High Heels vorbei. Nach einer Reihe wechselnder Posen und Positionen haben sich schließlich zwei Paar Füße gefunden – und verlassen eilig das Bild. In der großartigen, mit hochdramatischer Musik unterlegten Titelsequenz von »Trotacalles« sind die Themen des Films bereits gesetzt: Sexarbeit, asymmetrische Machtverhältnisse, das Spiel mit der Verführung.
Matilde Landeta, die einzige Filmemacherin im mexikanischen Kino der fünfziger Jahre, erzählt in ihrem Doppelporträt von zwei Schwestern, die ganz unterschiedliche Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen, durch ihre Rolle als Tauschobjekt aber ähnlich machtlos sind (und fatalerweise den gleichen miesen Typen lieben).
Während Marie ihren Körper auf der Straße verkauft, hat sich ihre Schwester Elena durch die Ehe mit einem viel älteren schwerreichen Geschäftsmann als trophy wife verpflichtet. In der Perspektive auf Ausbeutung, weibliches Leid und Begehren ist Landetas Werk im goldenen Zeitalter des mexikanischen Kinos, das auf die Jahre 1936 bis 1957 datiert, ein Ausnahmefilm. Die Verquickung von Formen und Stilen – urbanes Melodram, Noir, sozialrealistische Töne, bühnenhafte Stilisierung – ist jedoch für die Nationalkinematographie nicht untypisch.
Die reiche Kinotradition des Landes ist außerhalb Mexikos kaum bekannt und zudem nur eingeschränkt zugänglich, das heißt in spanischen Originalfassungen. Die Reihe in Locarno leistete somit auch Pionierarbeit.
Astreine Genrefilme sind in der »Época de Oro« eher rar, nicht selten mündet ein häusliches Drama unerwartet in die Komödie; ein Fluchtdrama wird von einem Noir übernommen. Eine eigene Genreschöpfung ist der »Ranchera«-Film. Er ist ein Mix aus Western, Heimatfilm, Melodram oder Komödie, in dem der gleichnamige folkloristische Musikstil eine wichtige Rolle spielt. Musik erklingt sowieso immer: in den Varietés und Theatern der Großstädte, auf staubigen Straßen und ländlichen Festen, sogar am Sterbebett.
Unter dem Titel »Espectácolo a diario – Las distintas temporadas del cine popular mexicano« (»Jeden Tag ein Spektakel – Das mexikanische Populärkino im Laufe der Jahrzehnte«) widmete sich die von Olaf Möller kuratierte Retrospektive des Locarno Film Festival in diesem Jahr der mexikanischen Filmproduktion der vierziger bis Ende der sechziger Jahre. Namen von Regisseuren wie Emilio Fernández, Alejandro Galindo, Juan Bustillo Oro oder Julio Bracho werden wohl nur wenigen ein Begriff sein. Allenfalls kennt man Guillermo del Toro oder Alfonso Cuarón, um nur zwei prominente Vertreter des zeitgenössischen mexikanischen Kinos zu nennen.
Tatsächlich ist die reiche Kinotradition, die vom heimischen Publikum verehrt wird, außerhalb Mexikos kaum bekannt und zudem nur eingeschränkt zugänglich, das heißt in spanischen Originalfassungen. Die Reihe in Locarno leistete somit auch Pionierarbeit. Viele der insgesamt 36 Filme der Reihe wurden zum ersten Mal mit englischen Untertiteln versehen, eine kleine Auswahl wird im laufenden Monat auch beim Streaming-Anbieter Mubi zur Verfügung stehen, neben »Trotacalles« etwa die morbide Komödie »El esqueleto de la señora Morales (The Skeleton of Mrs. Morales«, Rogelio A. González, 1960).
Bereits 1896 brachten französische Geschäftsleute den Cinématographe der Brüder Lumière nach Mexiko. Eine eigene mexikanische Filmindustrie entstand aber erst mit den technischen Möglichkeiten des Tonfilms. Schon in den dreißiger Jahren übernahm Mexiko die Führungsrolle im spanischsprachigen Kino, zu den Hochzeiten wurden jährlich bis zu 1 000 Filme gedreht. Dabei waren Popularität und Kunst keine Gegensätze, Regisseure (es sind, mit Ausnahme von Landeta, ausschließlich Männer) inszenierten so ziemlich alle Genres und Genremischungen.
Der Filmemacher Roberto Gavaldón etwa drehte 1948 mit »Han matado a Tongolele« ein ebenso hitziges wie schnelles musikalisches Melodram mit einem aberwitzigen Mordplot in einem Varieté-Theater, um sich nur wenige Jahre später eines rauen Sozialdramas (»La noche avanza«, 1952) anzunehmen. Seinem Selbstverständnis als Volkskultur folgend, sprach das damalige mexikanische Kino eine Einladung an alle Publikumsschichten aus. So wurden auch populäre Unterhaltungsformen wie die lucha libre, wie die mexikanische Spielart des Wrestling genannt wird, in vielfältiger Weise in Spielfilmhandlungen eingebettet.
Auch wenn im Programm der Retrospektive einige Namen und Gesichter wiederholt auftauchten, ging es der Reihe weniger um die Würdigung einzelner Autoren, Stars und cineastischer Handschriften (falls sich eine solche überhaupt ausmachen lässt), als vielmehr darum, das Zusammenwirken unterschiedlicher Talente und Sensibilitäten sichtbar zu machen und die Diversität der Formen zu feiern. Die Sujets reichen von Klassenkonflikten, Blutfehden und Ehebruch über monströse Wissenschaftsexperimente und Spionage bis hin zu den makabren Aspekten des Katholizismus.
Astreine Genrefilme sind in der »Época de Oro« eher rar, nicht selten mündet ein häusliches Drama unerwartet in die Komödie; ein Fluchtdrama wird von einem Noir übernommen.
Ein wiederkehrendes Thema ist Migration und Flucht. Alejandro Galindos Drama »Espaldas mojadas« (1955) beginnt im Modus eines Dokumentarfilms mit einer topographischen Übersicht über die Grenzregion zwischen Mexiko und den USA. Der Off-Kommentar ist von bissiger Dialektik: Hier die mexikanischen Arbeiter, die vom Glanz der Dollars angezogen werden und bei Gitarrenmusik zur Jungfrau Maria beten, dort Hochhäuser, Autos, Radio, Fernsehen, kalifornische Orangen und Pfirsiche aus dem Imperial Valley. Hier die Menschen, die die Grenze über die Brücke passieren, da die Menschen, die gezwungen sind, unter der Brücke durch den Rio Bravo zu schwimmen.
Einer von ihnen ist Rafael. Als illegaler Migrant ohne die richtigen Papiere ist er in einem Kreislauf aus unterbezahlten Jobs, Repressalien und Flucht gefangen; Sirenengeheul, Kommandogebrülle und der schrille Klang der Trillerpfeifen sind allgegenwärtig.
Die sozialrealistischen Schilderungen des Arbeitsalltags unter einem rassistischen Vorarbeiter – Rafael verlegt in der Wüste Eisenbahnschienen, über die Züge rattern, mit denen er nie reisen wird – werden dabei immer wieder von Liedern begleitet. Nicht nur in diesem Film hat die Musik eine kommentierende Funktion. In der Eröffnungsszene von Julio Brachos fiebrigem Melodram »Llévame en tus brazos« (1945) nimmt die Ballade das Unglück der Protagonistin Rita – gespielt von einem der größten Stars, der kubanisch-mexikanischen rumbera Ninón Sevilla – bereits vorweg. Um ihre Familie zu retten, sieht sie sich gezwungen, das schmierige Angebot eines reichen Zuckermühlenbesitzers anzunehmen.
Mit dem Reichtum an Stilen, Erzählformen und schillernden Figuren – von dem tanzbegabten Playboy in »El Suavecito« (1951) von Fernando Méndez bis hin zu dem im Labor gezüchteten Amphibienmensch-Monster in René Cardonas »La mujer murciélago« (1968; deutscher Verleihtitel: Draculas Tochter und Professor Satanas) – ruft die Reihe auch in Erinnerung, dass populäres Kino nicht immer Gleichschaltung und Marketinglogik bedeutet, sondern eben auch Unberechenbarkeit, Chaos, Verrücktheit und sublimen Trash. Wenn der Ringkämpfer Santo in »Santo vs. las mujeres vampiro« (1962, deutscher Verleihtitel: Superheld gegen Vampire) von Alfonso Corona Blake in seinen Sportwagen hüpft, um den Kampf gegen Vampirfrauen aufzunehmen, die gerade noch recht ungelenk als Fledermäuse auf der Stelle flatterten, ist das nicht nur komisch, sondern auch berückend schön.