07.09.2023
Bei Verdi wollen längst nicht alle den russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verurteilen

Für den Frieden unterschreiben

Vor dem Bundeskongress von Verdi sorgt eine Petition zum Krieg in der Ukraine für Debatten.

Wenn am 17. September der einwöchige Bundeskongress der Gewerkschaft Verdi in Berlin beginnt, haben die knapp 1.000 Delegierten ein umfangreiches Programm vor sich. Neben der Wahl eines neuen Bundesvorstands und der Besetzung zahlreicher anderer Ämter für die kommenden vier Jahre gilt es auch, über mehr als 1.000 Anträge zu beraten und zu entscheiden. In diesen spiegelt sich auch die Vielfalt der Mul­tibranchengewerkschaft wider. Die Themen reichen von tarifpolitischen Detailfragen über die Altersvorsorge, Arbeitszeiten, den Mindestlohn und pre­käre Beschäftigungsverhältnisse bis zum Umgang mit der AfD und dem Einsatz gegen Antisemitismus. Nicht zuletzt wegen des Kriegs in der Ukraine geht es auch um die Frage von Krieg und Frieden.

Für Wirbel sorgt eine sich als »gewerkschaftliche Basisinitiative« bezeichnende Gruppe, die sich auf der Online-Plattform Change.org mit einer Petition an »alle Gewerkschaftsmitglieder« richtet. Diese wendet sich unter dem Motto »Sagt nein! Gewerkschafte­r:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden« gegen den Leitantrag des Verdi-Gewerkschaftsrats zum Krieg in der Ukraine.

Es scheint vor allem die klare Benennung Russlands als Aggressor des Konflikts zu sein, an der sich die Initiator:innen der Petition stören.

Der Gewerkschaftsrat ist zwischen den Bundeskongressen das höchste Gremium der Dienstleistungsgewerkschaft. Sein Leitantrag sei »der finale Kniefall vor militaristischer Logik« und widerspreche »elementaren gewerkschaftlichen Grundüberzeugungen«, heißt es in der Petition. Der Antrag des Gewerkschaftsrats befürworte Aufrüstung, Militäreinsätze und Waffenlieferungen. »Heute sind dies Waffenlieferungen bis hin zu weltweit geächteten Streubomben, morgen können das schon Soldat:innen sein!« warnt der Aufruf in schrillen Tönen, ohne es mit den Fakten zu genau zu nehmen: Streubomben sind nicht »weltweit«, sondern nur in 111 Staaten geächtet, zu denen weder Russland noch die Ukraine gehören. An die Delegierten gerichtet heißt es, wer dem Antrag zustimme, mache »sich zum Teil der deutschen Kriegspartei« und hebe die Hand für den »Schulterschluss der Gewerkschaften mit dem deutschen Kriegskurs«.

Mehr als 10.000 Unterzeich­ner:innen hat die Petition bereits gefunden. Inzwischen wurden zudem ganztägige Protestaktionen vor dem Tagungsgebäude des Bundeskongresses angekündigt. Mediale Unterstützung erhält die »Basisinitiative« unter anderem von der Jungen Welt. »Verdi auf Kriegskurs«, titelt die Tageszeitung und unterstellt einen »Kurswechsel hin zur Befürwortung von Aufrüstung und Kriegseinsätzen deutscher Soldaten«.

Wirft man einen Blick in den inkriminierten Leitantrag, findet sich darin jedoch keineswegs ein Plädoyer für Aufrüstung und Militarisierung. Im Gegenteil: »Verdi lehnt Krieg als Mittel der Politik entschieden ab«, heißt es dort unmissverständlich. Stattdessen fordert der Antrag die Bundesregierung und die internationale Staatengemeinschaft zu diplomatischen Bemühungen auf, um das Töten zu beenden. Er warnt explizit vor einer »Auf- und Hochrüstungsspirale« und fordert eine »allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung«.

Der Leitantrag lehnt ferner das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ebenso ab wie das 100 Milliarden Euro starke Sondervermögen für die Bundeswehr, die Entwicklung und der Einsatz autonomer Waffensysteme und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Er spricht sich für die Ächtung von Atomwaffen, gegen die sogenannte »nukleare Teilhabe« Deu­tschlands, gegen Werbung für die Bundeswehr an Schulen und gegen die Re­krutierung Minderjähriger aus.

Auch bei Waffenlieferungen an die Ukraine mahnt der Gewerkschaftsrat zur Vorsicht. Zwar erkenne man an, dass es völkerrechtlich zulässig ist, die Ukraine »bei ihrer Verteidigung gegen die russischen Angriffe und ihrem Bemühen um Wiederherstellung territorialer Integrität auch mit militärischem Material wie Waffen aus den Reihen der NATO-Mitglieder zu unterstützen«. Es ergebe sich jedoch auch »für die unterstützenden Staaten wie Deutschland eine besondere Verantwortung, mit Blick auf Art, Umfang und Schwere gelieferten militärischen Materials, nicht selbst zu einer Kriegspartei in diesem Konflikt zu werden«.

Wogegen richtet sich dann die Petition der oppositionellen »Basisinitiative«, wenn sich Verdi doch keineswegs auf »Kriegskurs« befindet, sondern sich vielmehr für Abrüstung und Di­plomatie ausspricht? Es scheint vor allem die klare Benennung Russlands als Aggressor des Konflikts zu sein, an der sich die Initiator:innen der Petition stören. Der Antrag des Gewerkschaftsrats verurteilt deutlich das imperialistische Großmachtstreben Russlands und stellt sich an die Seite der Ukraine.

»Unser Respekt und unsere Solidarität gehören den bedrohten Menschen in der Ukraine, die mutig ihre Freiheit verteidigen«, heißt es dort. Der »andauernde völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands« habe »unermessliches Leid über die Menschen in der Ukrai­ne gebracht«. Voraussetzung für den Frieden sei ein sofortiges Ende der russischen Angriffe und der Abzug russischer Truppen aus der Ukraine.

Die Initiator:innen der Petition »Sag nein!« verurteilen den russischen Angriffskrieg noch nicht einmal pro forma.

»Die Entscheidung der russischen Führung, gewaltsam Grenzen zu verschieben, ihr mehrfach wiederholtes Bestreben, einem großrussischen Reich wieder mehr Geltung zu verschaffen – in welchen Grenzen auch immer –, ihre Bereitschaft, dafür zahllose Menschenleben unter der Zivilbevölkerung in der Ukraine zu vernichten wie auch ihre eigenen Soldat*innen und Söld­ner*innen zu opfern, ist durch nichts zu rechtfertigen oder zu relativieren«, stellt der Verdi-Gewerkschaftsrat klar und unterstützt deshalb auch die gegen Russland verhängten Sanktionen.

Die Petition »Sag nein!« verurteilt den russischen Angriffskrieg hingegen noch nicht einmal pro forma. Während sie ausgiebig kritisiert, dass der Nato-Kriegseinsatz gegen Jugoslawien vor nunmehr 24 Jahren im Leitantrag des Gewerkschaftsrates nicht vorkommt, findet sich kein Wort zur Ursache des Kriegs in der Ukraine. Der russische Über­fall wird nicht einmal erwähnt, statt­dessen ist von einem Kriegskurs der Nato die Rede. In einer kruden historischen Analogie wird daran erinnert, dass ab 1914 im Rahmen der Burgfriedenspolitik Gewerkschafter:innen in den Krieg geschickt wurden, »angeblich gegen den russischen ›Despotenzaren‹, tatsächlich aber für den Profit von Krupp, Thyssen und Co«.

Angesichts dessen ist es wenig überraschend, dass nicht nur »kritische« Gewerkschafter:innen die Petition unterstützen, sondern sich Anhäng­er:innen des russischen Regimes jeglicher Couleur für den Aufruf stark machen. So rufen unter anderem das verschwörungsraunende Overton Magazin und die aus der »Quer­den­ken«
-Bewegung hervorgegangene Kleinstpartei »Die Basis« dazu auf, die Petition zu unterzeichnen.