Stephan Krull, ehemaliger Betriebsrat, im Gespräch über die Transformation der Autoindustrie

»Automobil­arbeiter sind ja keine Aliens«

Der Gewerkschaft Verdi zufolge ist die Klimakrise im Mainstream der Gewerkschaftsbewegung angekommen, doch jenseits von Absichts­erklärungen ist wenig Einsatz für einen ökologischen Umbau der Autoindustrie erkennbar. Ein Gespräch mit Stephan Krull über eine Transformation, die nicht vermieden, sondern nur in halbwegs geordnete oder aber desaströs-chaotische Bahnen gelenkt werden kann.

Kürzlich machte die Meldung die Runde, dass im Juni erstmals mehr Elektro- als Dieselautos in der EU verkauft wurden. Geht es voran mit der Verkehrswende?
So weit würde ich nicht gehen. Der Absatz von Fahrzeugen war insgesamt rückläufig und der von Dieselfahrzeugen ist besonders stark eingebrochen. Bei den E-Autos gab es einen geringfügigen Anstieg und dadurch haben sich die Proportionen verändert. In den Werken von Volkswagen, wo Elektroautos hergestellt werden, gibt es inzwischen wieder Kurzarbeit. Ein Siegeszug sieht anders aus.

Für die Umwelt klingen weniger Autos doch erst mal nach einer guten Nachricht.
Falsch ist die Aussage nicht, aber da müssten wir uns schon über ganz andere Maßstäbe unterhalten. In Deutsch­land halte ich eine Halbierung des PKW-Aufkommens für angebracht, mindestens. Jedenfalls muss klar sein, dass eine echte Mobilitätswende mehr bedeutet, als einfach Verbrennungsmotoren durch elektrische zu ersetzen.

In der Mitgliederzeitschrift von Verdi war diesen Mai zu lesen, die Klimakrise sei im »Mainstream der Gewerkschaftsbewegung angekommen«. Stimmt das?
Da gibt es unterschiedliche Signale. Die IG Metall zum Beispiel hat eine gemeinsame Erklärung mit Umwelt- und Sozialverbänden und auch der Evangelischen Kirche abgegeben, wonach sie alle bereit sind, für eine ökologische und soziale Mobilitätswende einzutreten. Unterzeichnet haben die Vorstände der jeweiligen Organisation, das ist inzwischen zwei Jahre her und von einer Umsetzung ist wenig zu spüren. Ich habe in dem einen oder anderen Betriebsrat von größeren Produktionsstandorten nachgefragt, wie es denn aussieht. Und da heißt es dann zum Teil, sie kennen die Erklärung nicht, sie wissen überhaupt nichts davon. Bei den Verbänden und der Kirche sieht das ähnlich aus, die Vereinbarung ist auf örtlicher Ebene ziemlich unbekannt. Die Absichtsbekundung ist also eher eine fürs Schaufenster als gelebte Realität.

Wie groß ist überhaupt das Interesse, sich für Umweltschutz einzusetzen, wenn der Lohn von einer umweltschädlichen Industrie abhängt?
Früher waren viele Beschäftigte sehr stolz, für Daimler oder BMW zu arbeiten. Mittlerweile ist die Affinität zum Auto nicht mehr so ausgeprägt. Seit dem Abgasbetrug gibt es bei einigen Kolleginnen und Kollegen sogar Scham, da­ran mitgewirkt zu haben – auch wenn nur die allerwenigsten im Bilde waren, was da passierte. Jedenfalls gäbe es bei einigen in der Branche schon die Bereitschaft, etwas anderes zu tun. Der Knackpunkt ist immer, dass sie nicht schlechter bezahlt werden wollen als derzeit. Aber prinzipiell hätten nur die wenigsten etwas gegen einen ökologischen Arbeitsplatz einzuwenden.

Im Buch »Spurwechsel« berufen Sie sich auf eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, der zufolge die Zahl der Arbeitsplätze bei einer planvollen Konversion aufrechterhalten oder sogar erhöht werden könnte. Das funktioniert einfach so?
Einfach nicht. Aber wenn man zum Beispiel das Ziel ernst nimmt, die Fahrgastzahlen bei Bahn und öffentlichem Nahverkehr um den Faktor 2,5 zu steigern, hätten wir allein einen Mehrbedarf von etwa 235.000 Arbeitsplätzen. Da geht es ja nicht nur um mehr Lokführerinnen und Busfahrer, sondern auch um die Produktion und Wartung von Zügen und E-Bussen sowie um den Ausbau einer nachhaltigen Infrastruktur. Natürlich würde ein Umbau auch nicht von heute auf morgen klappen, sondern einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren einnehmen. Hinzu kommt, dass viele Beschäftigte im kommenden Jahrzehnt aus Altersgründen ausscheiden werden. Ohne Zweifel: Das ist eine riesige gesellschaftliche Herausforderung.

»Die Deutsche Bahn ist im inter­nationalen Vergleich außer­gewöhnlich schlecht, es gibt einen riesigen Investitionsstau. Gleichzeitig sind 144 Autobahn­projekte geplant.«

Wie kann man sich der stellen?
Analog zum Kohleausstieg bräuchte es hier zuerst einen Konsens, dass es mit so vielen Autos nicht weitergeht. Und gerade sehen wir auch nicht, dass neue Kapazitäten in der Schienenfahrzeug- oder in der Busproduktion aufgebaut werden. In der Industrie gibt es daran wenig Interesse, weil Verkehrsmittel für den öffentlichen Verkehr weniger Profit einbringen. Das wirft die Frage auf, ob es nicht andere Unternehmensformen braucht, um diese Lücke zu schließen.

Selbst wenn das klappt und künftig Genossenschaften Züge und Busse bauen: Was bringt dann diese Unternehmensform? Auch eine Genossenschaft hat ja nicht ausgesorgt, nur weil der Bedarf gedeckt ist, sondern sie muss immer neue Waren absetzen, deren Herstellung Ressourcen braucht. Ist unter diesen Bedingungen ökologische Nachhaltigkeit machbar?
Ich glaube, dass der unternehmerische Zwang zur Akkumulation und zur ständigen Reproduktion eines Warenkreislaufs nie wirklich nachhaltig sein kann. Deshalb geht es am Ende natürlich darum, ein anderes ökonomisches System zu etablieren. Also ein ­gemeinwohl- und nicht profitorientiertes. An seine Grenzen stößt der Kapitalismus so oder so. Zum Beispiel, wenn wir uns anschauen, wie die Klimakata­strophe immer mehr Erdregionen unbewohnbar macht. Die entscheidende Frage ist eben, ob wir es schaffen, die Übergänge zu einem anderen Wirtschaften gerecht und plan­mäßig zu gestalten, oder ob es, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen, zur ­Barbarei kommen muss.

Bezogen auf die Verkehrswende in der Bundesrepublik haben wir ­einen auf Autos eingeschworenen Verkehrsminister, der das Klimaschutzgesetz bricht, und eine Bahn, die im Chaos versinkt. Gibt es irgendwelche Indizien, dass es vielleicht doch noch mit einer geplanten Verkehrswende klappen ­könnte?
Nein, Indizien dafür, dass es einen wirklich vernünftigen Plan in diesem Zusammenhang gibt, sehe ich eigentlich nicht. Die Deutsche Bahn ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich schlecht, es gibt einen riesigen Investitionsstau sowohl bei den Fahrzeugen als auch beim Schienennetz, die finanzielle Lage ist desaströs. Gleichzeitig sind 144 Autobahnprojekte geplant, die personelle und materielle Ressourcen binden, die anderswo dringend gebraucht würden. Trotzdem ist Fatalismus keine Option: Umso wichtiger ist es, klimapolitische und soziale Kämpfe voranzubringen und verschiedene Bewegungen zu verknüpfen.

Bislang scheint es sich bei den Beschäftigten der Autoindustrie und Klimaschützer:innen um Milieus mit eher wenigen Berührungspunkten zu handeln. Kennen Sie Ingenieure, die mit Ende Gelände einen Tagebau besetzen würden?
Natürlich gibt es die. Es ist ja gar nicht möglich, sich von dem Thema der Klimakatastrophe komplett zu isolieren. Die Menschen, die bei Fridays for Future mitlaufen, sich mit der Letzten Generation auf Straßen kleben: Darunter sind Kinder von Ingenieurinnen und Ingenieuren ebenso wie von Bandarbeiterinnen und Bandarbeitern. Es gibt in den Belegschaften durchaus ein Bewusstsein dafür, dass einschneidende Umbrüche anstehen. Die Automobilarbeiterinnen und -arbeiter sind ja keine Aliens von einem anderen Stern. Sie glauben mehrheitlich nicht, dass der Staat oder die Unternehmen die Klimakrise in den Griff bekommen. Und als Einzelne können sie es natürlich auch nicht richten.

Wer könnte denn etwas bewegen?
Es geht darum, dass der Staat regulieren müsste, und das tut er ja auch. Aber gegenwärtig reguliert er völlig falsch, indem die Automobilindustrie Milliarden – also wirklich viele Milliarden – an Subventionen bekommt und damit die Industrie motiviert wird, immer so weiterzumachen und nie etwas zu ändern. Das heißt, es ist in erster Linie eine politische und ökonomische Auseinandersetzung und meiner Meinung nach erst an dritter, vierter oder fünfter Stelle eine kulturelle Frage der Milieus. Wichtig ist das auch für die Finanzierung einer ökologischen Transformation: Es stimmt ja, dass da gewaltige Kosten anstehen. Aber es würde schon mal viel erleichtern, wenn der Staat die bereits vorhandenen Mittel an sinnvollen Stellen einsetzen würde. Zum Beispiel, um in sogenannten ­strukturschwachen Räumen wie Dessau oder Stendal Fabriken für Elektrobusse zu subventionieren.
 

Stephan Krull

Stephan Krull, Jahrgang 1948, ist ehemaliger Arbetnehmervertreter bei Volkswagen in Wolfsburg, wo er von 1990 bis 2006 als Betriebsrat freigestellt war. Krull ist Mitglied der Partei »Die Linke« und hat mehrere Sachbücher mitverfasst oder mitherausgegeben. Zuletzt hat er 2022 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Mario Candeias das Buch »Spurwechsel. Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion« herausgegeben.

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