In Israel droht wegen der Justiz­reform eine Verfassungskrise

Auf Kollisionskurs

In Israel kamen die Richter und Richterinnen des Obersten Gerichtshof zu einer Anhörung zusammen, um über Petitionen gegen die Justiz­reform zu entscheiden. Die Regierung hat bereits verlautbart, dass sie es nicht respektieren werde, wenn das Gesetz zur Abschaffung der Ange­messen­heitsklausel als grundgesetzwidrig zurückgewiesen werden sollte. Eine Verfassungskrise droht.

Benjamin Netanyahu hat auf seiner USA-Reise versucht, andere Themen als die Justizreform im eigenen Land in den Vordergrund zu rücken. In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 22. September konzentrierte sich der israelische Ministerpräsident vielmehr auf Künstliche Intelligenz und vor allem auf ein mögliches Normalisierungsabkommen mit Saudi-Arabien, dem er den größten Teil seiner Redezeit widmete. »Lassen Sie uns die Segnungen eines neuen Nahen Ostens voranbringen, das Länder, die einst von Konflikten und Chaos zerrissen waren, in Felder des Wohlstands und des Friedens verwandeln wird«, sagte Netanyahu vor einem nahezu leeren Saal, in dem sich aber als Zeichen des Wohlwollens ein saudischer Diplomat eingefunden hatte.

Mit keinem Wort erwähnte Netanyahu den in Israel tobenden Konflikt um den andauernden Umbau der Justiz seitens seiner nationalreligiösen Regierungskoalition. Auf seiner Reise durch die USA konnte Netanyahu diesem Thema jedoch selten ausweichen. Überall, wo er auftauchte, gab es Proteste, zum Beispiel vor dem UN-Hauptquartier in New York City. Auch bei seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden musste er sich erklären.

Unterdessen gingen in vielen israelischen Städten in der 38. Woche in Folge Zehntausende Demonstranten gegen die Regierungspläne auf die Straße, um zu verdeutlichen, dass sie sich nicht von den Fortschritten bei dem angestrebten Abkommen mit Saudi-Arabien blenden lassen, die Netanyahu zuletzt national und international als Erfolg verkauft hat. Eine Anführerin der Proteste, die Physikerin Shikma Bressler, die in Tel Aviv zu Demonstranten sprach, sagte, man werde nicht auf »irgendwelche Tricks hereinfallen«. Sie sagte der Times of Israel: »Wir sind uns darüber im Klaren, dass, ebenso wie die Abraham-Abkommen (mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein 2020, gefolgt von Normalisierungsvereinbarungen mit Marokko und 2021 dem Sudan, Anm. d. Red.) den Staatsstreich nicht verhindert haben, auch ein Abkommen mit Saudi-Arabien diejenigen nicht aufhalten wird, die eine messianische Diktatur wollen.«

Da die israelischen Grundgesetze mit absoluter Parlamentsmehrheit geändert werden können, halten Verfassungsrechtler die richterliche Kontrolle für besonders wichtig.

Im Juli hatte die israelische Regierung ein Gesetz zur Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel verabschiedet. Das Gesetz wurde von der rechtsreligiösen Mehrheit in der Knesset als Grundgesetz deklariert und hat damit Verfassungscharakter. Es verbietet dem Obersten Gerichtshof, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister auf ihre »Angemessenheit« zu überprüfen. Eine derartige Prüfung bezieht sich nicht auf konkrete Gesetzesverstöße, sondern darauf, ob alle entscheidungserheblichen Faktoren berücksichtigt und im Sinne einer Güterabwägung angemessen gewichtet wurden, außerdem auf Personalentscheidungen der Exekutive. In der Vergangenheit hat das Gericht Ernennungen von Amtsträgern für ungültig erklärt, weil diese in Korruptionsverfahren verwickelt waren.

Die Abschaffung der Angemessenheitsklausel ist nur ein Teil der von der Regierung angestrebten Justizreform. Durch Änderungen der Grundgesetze (basic laws) soll nach Ansicht von Kritikern die unabhängige Justiz ausgeschaltet werden. Die Regierung will auch das Ernennungsverfahren für Richter ändern, die Auswahl, Beförderung und Absetzung von Richtern kontrollieren zu können, was de facto das Ende der richterlichen Unabhängigkeit bedeuten würde. Ein weiteres Gesetz soll der Legislative die Möglichkeit geben, Urteile des Obersten Gerichtshofs mit absoluter Mehrheit zu überstimmen.

Da die israelischen Grundgesetze mit absoluter Parlamentsmehrheit geändert werden können, halten Verfassungsrechtler die richterliche Kontrolle für besonders wichtig. Zudem hat Israel ein parlamentarisches Einkammersystem, so dass die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative nur schwach ausgeprägt ist und auch innerhalb der Legislative kaum checks and balances bestehen. Mangels einer Verfassung ist die Judikative die einzige formale Institution, die den Handlungsspielraum der Legislative wirksam begrenzen kann. Nach Protesten, die immer wieder zu eskalieren drohten, hat die Regierung die Reform zunächst ausgesetzt und versucht nun, sie schrittweise durchzusetzen.

Gegen das Gesetz, das die Angemessenheitsklausel abschafft, wurden acht Petitionen eingereicht, über die das Oberste Gericht nun befinden muss. Am 12. September traten die 15 Obersten Richter und Richterinnen für mehr als 13 Stunden in einer Anhörung zusammen. Zuvor wandte sich der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smot­rich an Esther Hayut, die Präsidentin des Obersten Gerichts: »Wagen Sie es nicht, ein Grundgesetz außer Kraft zu setzen! Ein Grundgesetz außer Kraft zu setzen, bedeutet das Ende der Demokratie.«

Besonders bemerkenswert an der Anhörung und der erst in einigen Wochen zu erwartenden Entscheidung ist, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Generalstaatsanwaltschaft, deren Aufgabe eigentlich die Vertretung der Regierung ist, mit den Petent:innen verbündet und das Gericht aufgefordert hat, ein Grundgesetz außer Kraft zu setzen. Es wäre ein weiteres Novum, wenn der Oberste Gerichtshof dies tun würde. Anhörungen zu Grund­gesetzen hat es schon einige gegeben, Aufhebungen noch nie.

Die Richter:innen übten deutliche Kritik an dem Gesetz, stellten aber auch kritische Fragen an die Generalstaats­anwaltschaft und die Gegenseite. Der Anwalt Ilan Bombach, der die Regierung vertritt, war der Ansicht, dass der Gerichtshof nicht befugt sei, ein Grundgesetz aufzuheben; dieses Recht habe nur der Souverän. Dies erwies sich als das Hauptargument der Regierung. Entweder, so der Anwalt, könne man Fehler in der Gesetzgebung selbst korrigieren, oder die Wähler:innen könnten dies bei der nächsten Wahl veranlassen.

Besonderes Aufsehen erregte eine Äußerung des Regierungsanwalts zur israelischen Unabhängigkeitserklärung. Es sei »undenkbar«, dass ein von 37 Personen »hastig« verfasstes Dokument »für alle späteren Generationen bindend sein« solle, sagte Bombach. Die Richter hatten sich zuvor mehrfach darauf berufen, dass die Unabhängigkeitserklärung Israel als »jüdisch und demokratisch« definiere und die Knesset keine Gesetze verabschieden dürfe, die gegen diese Grundwerte verstießen.

Gerichtspräsidentin Hayut wies darauf hin, dass das Kriterium der Angemessenheit seit Jahrzehnten, »wenn nicht seit den Anfängen des Staates« bestehe. Der Vorsitzende des Justizausschusses der Knesset, Simcha Rothman, wiederum bezeichnete die Richter als »privilegierte oligarchische Gruppe«, die sich im Laufe der Jahre Befugnisse selbst zugesprochen habe.

»Demokratie stirbt in einer Serie kleiner Schritte«, sagte der Richter Yitzhak Amit.

Während in der Anhörung deutlich wurde, dass fast alle Richter:innen das Gesetz als Gefahr für die israelische Demokratie ansehen, wurden unterschiedliche Ansätze im Umgang mit der Situation deutlich. Es scheint am Obersten Gericht Uneinigkeit darüber zu geben, ob es die Befugnis hat, ein Grundgesetz für grundgesetzwidrig zu erklären. Einige Richter scheinen der Ansicht zu sein, dass sie zwar prinzipiell dazu befugt seien, das vorliegende ­Gesetz aber nicht schon den Extremfall darstelle, der einen solch drastischen Schritt legitimieren würde.

Die Kontrolle der Angemessenheit des Regierungshandelns ist nicht in einem Grundgesetz festgeschrieben. Vielmehr hat sich dieser Mechanismus in der Tradition des Common Law durch die Rechtsprechung der Gerichte selbst herausgebildet. Das Gericht ist den rechten und ultrareligiösen Parteien seit langem ein Dorn im Auge. Es lehnte eine Vielzahl von Gesetzesvorlagen der früheren von Netanyahu geführten Regierungen ab. Zu liberal, zu säkular, zu selbstherrlich, so lautet das Urteil der Gegner:innen des Gerichts.

Rivka Weill, Verfassungsrechtlerin an der Reichman University, schreibt auf dem rechtswissenschaftlichen ­Verfassungsblog, dass gegensätzliche Standpunkte bezüglich der Angemessenheitsklausel juristisch vernünftig begründet werden könnten, entscheidend sei jedoch der Kontext. Der Angriff auf die Angemessenheitsdoktrin sei nur der erste Schritt in einer größeren Kampagne, die darauf abziele, das juristische Erbe von Aharon Barak zu zerstören, dem einflussreichen langjährigen Obersten Verfassungsrichter und vormaligen Generalstaatsanwalt, der durch eine Reihe von Grundsatzentscheidungen die Macht und Unabhängigkeit der Justiz schrittweise gestärkt hatte. Genau das stünde nun auf dem Spiel.

»Demokratie stirbt in einer Serie kleiner Schritte«, sagte der Richter Yitzhak Amit bei der Anhörung. Im Falle einer Aufhebung der Angemessenheitsklausel käme es sehr wahrscheinlich zu einer Verfassungskrise. Parlamentspräsident Amir Ohana vom Likud hat bereits angedeutet, dass er ein Votum des Gerichts zugunsten der Petitionen nicht respektieren werde. Dafür erhielt er Unterstützung aus den eigenen ­Reihen, indirekt auch von Netanyahu.